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www.ssoar.info Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? Wirkungen und Funktionsveränderungen der Arbeitsförderung im gesamtdeutschen Transformationsprozeß Gerlach, Frank (Ed.); Mendius, Hans Gerhard (Ed.) Veröffentlichungsversion / Published Version Konferenzband / conference proceedings Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. - ISF München Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Gerlach, F., & Mendius, H. G. (Hrsg.). (1994). Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? Wirkungen und Funktionsveränderungen der Arbeitsförderung im gesamtdeutschen Transformationsprozeß (Arbeitspapiere aus dem Arbeitskreis SAMF, 1994-6). Gelsenkirchen: Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) e.V. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- transferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, non- commercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use.

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Page 1: Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch€¦ · ZUM NEUEN AUFBRUCH? Wirkungen und Funktionsveränderungen der Arbeitsförderung im gesamtdeutschen Transformationsprozeß Herausgegeben

www.ssoar.info

Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch?Wirkungen und Funktionsveränderungender Arbeitsförderung im gesamtdeutschenTransformationsprozeßGerlach, Frank (Ed.); Mendius, Hans Gerhard (Ed.)

Veröffentlichungsversion / Published VersionKonferenzband / conference proceedings

Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. - ISF München

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Gerlach, F., & Mendius, H. G. (Hrsg.). (1994). Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? Wirkungen undFunktionsveränderungen der Arbeitsförderung im gesamtdeutschen Transformationsprozeß (Arbeitspapiere aus demArbeitskreis SAMF, 1994-6). Gelsenkirchen: Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) e.V.https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260

Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (KeineWeiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt.Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares,persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung diesesDokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich fürden persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt.Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alleUrheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichenSchutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokumentnicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Siedieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zweckevervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oderanderweitig nutzen.Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie dieNutzungsbedingungen an.

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ARBEITSPAPIER 1994 - 6

VOM BESCHÄFTIGUNGSFIASKO ZUM NEUEN AUFBRUCH? Wirkungen und Funkt ionsveränderungen der Arbeitsförderung im gesamtdeutschen Transformationsprozeß

Herausgegeben von FRANK GERLACH/HANS-GERHARD MENDIUS

Beiträge zur gleichnamigen SAMF-Tagung am 17. /18.06.1993 i n Dresden

Gerlach/Mendius (1994): Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260

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Impressum

Herausgeber:

Anschrift:

Druck:

Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) e.V.

Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen/ Institut Arbeit und Technik Florastr. 26-28 45879 Gelsenkirchen

Druckerei der Stadt Gelsenkirchen

Gerlach/Mendius (1994): Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260

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Arbeitspapiere aus dem Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung

(SAMF) e.V.

ISSN 0176-8263

Editorial

Der Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) will zu einer integrativen und interdisziplinären Arbeitsmarktforschung beitragen, die den Nachteilen der weit fortgeschrittenen wissenschaftlichen Arbeitsteilung in unterschiedliche Fachdisziplinen und Einzeltheorien gegensteuert. Wesentli­che Anstöße für diese Programmatik sehen wir in den seit einiger Zeit zuneh­menden Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsproblemen in westlichen Indu­striegesellschaften sowie in der These, daß der Steuerungsmechanismus Preis für Arbeitsmarktprozesse an Bedeutung verliert. Vor diesem Hintergrund ist die orthodoxe Theorie des Arbeitsmarktes nur begrenzt tauglich. Der Bedeu­tungsverlust des Steuerungsmechanismus Preis sowie die ökonomische, soziale, politische und rechtliche Entwicklung des Beschäftigungssystems werfen für die Arbeitsmarktforschung verschiedene wichtige Fragestellungen auf: Welches sind die wesentlichen Bestimmungsgründe der Entwicklung von Beschäfti­gungssystem und Arbeitsmarkt, welche Steuerungsmechanismen übernehmen auf welchen Arbeitsmärkten die notwendigen Koordinationsaufgaben und wie lassen sich Bestimmungsgründe und Steuerungsmechanismen so beeinflussen, daß die sozialen und ökonomischen Arbeitsmarktergebnisse für eine möglichst große Zahl von Menschen akzeptabel sind?

Der Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) ist ein Zusammenschluß von Arbeitsmarktforscherinnen und Arbeitsmarktfor­schern verschiedener Fachdisziplinen, der forschungsgenerierende und -koordi­nierende Funktionen wahrnimmt.

Die Verantwortung für den Inhalt der Arbeitspapiere trägt jeweils die Autorin / der Autor.

Gerlach/Mendius (1994): Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260

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Mitglieder des Arbeitskreises Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) e.V.

Wilhelm A D A M Y , Uschi BACKES-GELLNER, Bettina B A N G E L , Rolf BECKER, Lutz BELLMANN, Isolde B E R G E M A N N , Maritta BERNIEN, Hermann BIEHLER, Hans-Peter BLOSSFELD, Michael B O L L E , Gerhard BOSCH, Wolfgang BRANDES, Ruth B R A N D H E R M , Christian BRINK­M A N N , Hanns-Georg BROSE, Eva BRUMLOP, Friedrich BUTTLER, Axel D E E K E , Christoph DEUTSCHMANN, Andreas D I E K M A N N , Knuth DOHSE, Reinhard DOLESCHAL, Rainer DOMBOIS, Eberhard DORN­DORF, Gisela DYBOWSKI, Angela E H R M A N N , Gerhard E N G E L B R E C H , Ernst FEHR, Angela FIEDLER, Joachim FISCHER, Bernd FRICK, Michael FRITSCH, Jürgen GABRIEL, Birgit GEISSLER, Sabine GENSIOR, Frank G E R L A C H , Knut G E R L A C H , Karin GOTTSCHALL, Eckhard HEIDLING, Andrea H E L L M I C H , Heiner HESELER, Paul HILD, Karl HINRICHS, Olaf HÜBLER, Heike JACOBSEN, Peter JOACHIM, Leonhard KASEK, Berndt K E L L E R , Matthias KNUTH, Christoph KÖHLER, Alexander KRAFFT, Beate KRAIS, Simone KREHER, Volkmar KREISSIG, Martin KRONAUER, Jürgen KÜHL, Margarete LANDENBERGER, Lothar LAPPE, Peter LIEP-M A N N , Gudrun LINNE, Burkart LUTZ, Friederike MAIER, Hans Gerhard MENDIUS, Bernd METTELSIEFEN, Wolfgang M E Y E R , Horst MIETHE, Carola MÖLLER, Ulrich MÜCKENBERGER, Stefan N A E V E K E , Renate NEUBÄUMER, Gisela NOTZ, Christoph NUBER, Claus OFFE, Martin OSTERLAND, Birgit PFAU-EFFINGER, Hanns PFRIEM, Peter PREISENDÖRFER, Jan PRIEWE, Sigrid QUACK, Bernd R A H M A N N , Ulla R E G E N H A R D , Bernd REISSERT, Gudrun RICHTER, Hedwig RUDOLPH, Dieter SADOWSKI, Katrin SCHÄFGEN, Ronald SCHETTKAT, Christiane SCHIERSMANN, Alfons SCHMID, Günther SCHMID, Rudi SCHMIEDE, Klaus SCHÖMANN, Florian S C H R A M M , Erhard SCHREIBER, Karsten SCHULDT, Rainer SCHULTZ-WILD, Susanne SCHUNTER-KLEEMANN, Johannes SCHWARZE, Eberhard SEIFERT, Hartmut SEIFERT, Klaus SEMLINGER, Werner SENGENBERGER, Arndt SORGE, Bernd Georg SPIES, Gesine STEPHAN, Frank STILLE, Sybille STÖBE, Volker TEICHERT, Karin TONDORF, Gerd V O N D E R A C H , Stephan VOSWINKEL, Gert WAGNER, Jürgen WAHSE, Ulrich WALWEI, Anni WEILER, Stefanie WEIMER, Claudia WEINKOPF, Gabriele WINTER, Klaus ZÜHLKE-ROBINET

Wissenschaftliche Sekretärin: Doris Beer Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen/ Institut Arbeit und Technik Florastr. 26-28 45879 Gelsenkirchen Telefon: 0209/1707248 Telefax: 0209/1707245

Gerlach/Mendius (1994): Vom Beschäftigungsfiasko zum neuen Aufbruch? URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100260

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Abstract

Mit dem Beitritt der neuen Bundesländer entstand sehr schnell ein arbeits­marktpolitischer Handlungsbedarf, der in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellos ist. Die Folge war ein massierter, oft sehr unbürokratischer Einsatz vorhandener Instrumente des Arbeitsfördergesetzes und die rasche Schaffung einer Reihe arbeitsmarktbezogener Einrichtungen, die von einem breiten Spektrum von Akteuren mit entsprechend vielfältigen Zielsetzungen initiiert und getragen wurden. Diese Aktivitäten haben aber nicht ausgereicht, die Folgen des weitgehenden Zusammenbruchs der Wirtschaft in den neuen Ländern auch nur annähernd auszugleichen - offene und verdeckte Arbeitslosigkeit bislang nicht gekannten Umfangs war die Folge. In dieser Situation verfolgte die Tagung das Ziel, die Reichweite alter und neuer A F G -Instrumente zu beurteilen. Vor allem aber ging es darum, mögliche Langfristfolgen und kontraintentionale Wirkungen dieser Maßnahmen einzuschätzen und erste Überlegungen zu diskutieren, wie - jenseits der momentan mehr denn je notwendigen "Feuerwehrfunktion" Arbeitsmarktpolitik dazu beitragen kann, die umfassende Krise des Beschäftigungssystems zu überwinden. Eingeladen waren daher Vertreter aus arbeitsmarktpolitischen Institutionen, aus Politik und Wissenschaft mit umfassenden unmittelbaren Erfahrungen im skizzierten Gegenstandsbereich, die entsprechenden Referate bilden die Basis für den vorliegenden Band.

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Inhalt

Hans Gerhard Mendius Arbeitsförderungspraxis in den neuen Ländern -Auslöser für eine Umorientierung betrieblicher Qualifizierungspolitik?

Wolfgang Zeller "Jenseits der Talsohle - Überlegungen zu einem Konzept zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung in Sachsen"

Frank Gerlach Ansätze für eine innovative Beschäftigungs­und Strukturpolitik in Sachsen - am Beispiel von ATLAS

Jürgen Riedel Ansätze für eine innovative Beschäftigungs­und Strukturpolitik in Sachsen: das Aufbauwerk im Freistaat Sachsen

Christian Brinkmann Berufliche Weiterbildung in der Region: Neue Ansätze zur Verzahnung von Arbeitsförderung und Strukturpolitik in den neuen Bundesländern

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Einleitung

Der vorgelegte Band enthält die Ergebnisse einer Tagung, die der Arbeitskreis SAMF im Juni 1993 in Dresden durchgeführt hat. Seit dem Beitritt der neuen Bundesländer setzt sich der SAMF im Rahmen seiner Aktivitäten mit den dar­aus resultierenden Folgen für den Arbeitsmarkt auseinander, darüber hinaus haben sich viele seiner Mitglieder im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätig­keit intensiv mit entsprechenden Fragestellungen befaßt. Anfangs standen vor allem Überlegungen zu den zu erwartenden unmittelbaren Implikationen für den schnell sich herausbildenden gesamtdeutschen Arbeitsmarkt im Zentrum der Debatte. Diskutiert wurde aber auch, wie der bezüglich Dimension und Tempo beispiellose Prozeß der Transformation eines Beschäftigungssystems, das über wesentliche Merkmale eines Arbeitsmarkts - wie prinzipiell freie Be­rufswahl, Koalitionsfreiheit, den Preismechanismus als Allokationsinstrument usw. - nicht verfügte, in einen Arbeitsmarkt im marktwirtschaftlich-westlichen Sinne begleitet und eventuell sogar zielführend gesteuert werden könnte - im Sinne der Minimierung der früh als unausweichlich erkennbaren Friktionen.

Es wurde dann aber sehr schnell deutlich, daß die Vertreter von Positionen, die eine - wie immer geartete - präventive Beeinflussung des Transformationspro­zesses für angezeigt hielten, auf gänzlich verlorenem Posten kämpften. Demge­genüber gewannen plakativ und unbeirrbar vorgetragene Glaubenssätze der Art, daß die Kräfte des Marktes rasch mit der Wirtschaft insgesamt auch den Arbeitsmarkt zur (Vollbeschäftigungs-)Blüte führen würden, völlig die Ober­hand. Unter anderem mit der Konsequenz, daß sich in der Folge das For­scherinteresse notgedrungen auf die sehr bald absehbar werdenden Konse­quenzen dieses Vorgehens verlagern mußte.

Der Arbeitskreis SAMF war sich seit dem Beginn der Umwälzungen im Be­reich des ehemaligen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe darüber im klaren, daß eine adäquate Analyse des Transformationsprozesses unbedingt auf eine umfassende Einbeziehung von "vor Ort" ansässiger Forschungskompetenz an­gewiesen sein würde. Daher wurde unmittelbar nach der Öffnung der inner­deutschen und europäischen Grenzen damit begonnen, Arbeitskontakte mit Forschern aus den neuen Bundesländern bzw. aus Mittel- und Osteuropa zu knüpfen bzw. bestehende Beziehungen zu intensivieren (so wurde schon Anfang 1990 vom Arbeitsausschuß "Arbeitsmarkt und Frauenerwerbsarbeit" ein bereits vor der sogenannten Wende konzipierter Workshop zur "Sozialen Lage

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und Arbeit von Frauen in der DDR" durchgeführt; vgl. Band 1990-6 in dieser Reihe). Mitglieder des SAMF beteiligten sich in der Folge an zahlreichen Ver­anstaltungen mit Forscherinnen und Forschern aus den neuen Bundesländern, und es entstanden sehr rasch - zumeist bilaterale - Beziehungen, die zu in­tensivem Erfahrungsaustausch führten, teilweise aber auch zu praktischer Zusammenarbeit im Rahmen von Forschungsvorhaben ausgebaut wurden.

Um diese Aktivitäten zu bündeln und den Austausch zu intensivieren, vor allem aber auch, um Forschern aus den neuen Ländern einen Ansprechpartner zu liefern, wurde dann im Herbst 1990 vom Arbeitskreis SAMF ein Arbeitsaus­schuß "Arbeitsmarktforschung und Arbeitsmarktentwicklung in den neuen Bundesländern" eingerichtet. Im Frühjahr 1991 führte der Ausschuß einen Workshop durch, an dem sich eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den neuen Ländern beteiligte. Ziel war es - neben der Identifikation und Diskussion wichtiger arbeitsmarktpolitischer Fragestellungen - vor allem, forschungsmethodische und organisatorische Informationen zu transportieren. Damit sollte ein Beitrag geleistet werden, die oft unterschätzten Hürden beim Initiieren entsprechender Vorhaben leichter überwindbar zu machen, die sich aus fehlenden Erfahrungen im Umgang mit den hochkomple­xen Institutionen und sophistizierten Verfahren der bundesdeutschen For­schungsförderung ergeben.

Ausgangsüberlegung für sämtliche genannten Aktivitäten war, daß der SAMF als ein Zusammenschluß von in der Arbeitsmarktforschung aktiv tätigen Wis­senschaftlern zwar nicht unmittelbar dahin wirken kann, die dringend erforder­liche institutionelle Infrastruktur für die Arbeitsmarktforschung in den neuen Bundesländern zu schaffen. Er hat aber die Initiative ergriffen, durch praktische Kooperation im Forschungsalltag und unprätentiöse Einbeziehung in seine ver­schiedenen Aktivitäten dazu beizutragen, daß die Arbeitsmarktforschung in den neuen Bundesländern möglichst bald in den "Normalbetrieb" der Forschung auf den von ihr bearbeiteten Feldern eingebunden werden kann.

Die Ende 1991 unter dem Titel "Zur Arbeitsmarktentwicklung und zum Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente in den neuen Bundesländern" veranstaltete Tagung (die Ergebnisse finden sich im gleichnamigen Band 1992-2 dieser Reihe) befaßte sich vor allem mit den Möglichkeiten, die man sich vom Einsatz tradierter, vor allem aber auch neuartiger arbeitsmarktpolitischer Instrumente versprach sowie mit ersten Erfahrungen bei ihrem Einsatz.

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Die Folgezeit konfrontierte uns mit einer sich dramatisch verschärfenden Situ­ation auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern. Diese Entwicklung sollte eigentlich auch die letzten Zweifel daran beseitigt haben, daß man sich auf eine längere Phase mit massiver Unterbeschäftigung würde einzurichten haben, wurden jetzt doch die Arbeitsmarktreaktionen auf den forcierten Über­gangsprozeß der ostdeutschen Wirtschaft nicht mehr teilweise überlagert durch die - allerdings vornehmlich im Westen spürbaren - expansiven Wirkungen des "Wiedervereinigungsbooms". Verschärft wird die Situation dadurch, daß mit dem Manifestwerden der Auswirkungen der weltweiten Krise auch in der Bundesrepublik die Stimmen im Bereich der Politik wieder lauter wurden, die ein Zurückfahren der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik forderten und z.T. bereits durchgesetzt haben (vgl. dazu auch die entsprechenden Bestimmungen im Rahmen der Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes, das zum "Beschäftigungsförderungsgesetz" mutieren soll). Gleichzeitig zeichnet sich ab, daß in der Bevölkerung die Bereitschaft zu schwinden beginnt, die nicht avi­sierten (bzw. sogar explizit bestrittenen), jetzt aber um so spürbarer werdenden Folgen des tatsächlichen Verlaufs des Prozesses des Zusammenwachsens zu akzeptieren.

In den neuen Ländern führte der immer offensichtlicher werdende Wider­spruch zwischen den - nicht zuletzt durch politische Proklamationen geweckten - Erwartungen und dem real und unmittelbar zu erfahrenden Verlauf zu erheb­licher Desillusionierung und massiven Frustrationen: Die "Privatisierung" und die "Industriepolitik" der Treuhandanstalt hat nicht verhindern können, daß in traditionellen Industrieregionen die Anteile an industriellen Arbeitsplätzen auf einen Bruchteil zurückgegangen sind. Die prognostizierten durchschlagenden wirtschaftlichen Aufschwungtendenzen erfassen bislang vornehmlich die Baubranche und nach wie vor das Handwerk, stoßen aber auch dort auf Gren­zen, wenn eine Wiederbelebung der industriellen Produktion nicht gelingt. Pa­tentrezepte für eine Sicherung eines tragfähigen wirtschaftlichen Aufschwungs sind nach wie vor nicht in Sicht - in jedem Fall steht eine Aufgabe ins Haus, die - falls eine Lösung überhaupt gelingt - einen langen Atem und den Einsatz um­fassender Mittel erfordern wird.

Daher muß auch davon ausgegangen werden, daß die exorbitanten Einbrüche auf dem Arbeitsmarkt keineswegs Episode bleiben, sondern dabei sind, sich mehr und mehr zu verfestigen. Für große Teile der Bevölkerung in den neuen Bundesländern rückt damit die erhoffte (zumindest weitgehende) Angleichung an das westliche Niveau des Lebensstandards in immer weitere Ferne. In den alten Bundesländern dagegen trägt das Durchschlagen der weltweiten Krise auf

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die hiesige Beschäftigung und die Senkung der Realeinkommen über niedrigere Tarifabschlüsse, Abbau übertariflicher Leistungen sowie teils vollzogene, teils in Aussicht gestellte Erhöhungen bei Steuern und Abgaben dazu bei, daß die Bereitschaft rasch schwindet, auch weiterhin Transferzahlungen des bisherigen oder eventuell weiter steigenden Ausmaßes zu akzeptieren.1

In dieser Situation (Ende 1992) beschloß der Arbeitskreis SAMF, den Transformationsprozeß zum Gegenstand zweier seiner Plenarveranstaltungen im folgenden Jahr zu machen. Dabei sollte versucht werden, durch eine ver­stärkte Einbeziehung auch von unmittelbar beschäftigungspolitisch agierenden Referenten und Teilnehmern den Dialog mit "der Praxis" zu intensivieren und sich den von dieser Seite formulierten Anforderungen an sozialwissen­schaftliche Arbeitsmarktforschung zu stellen.

Angesichts der sich immer deutlicher konturierenden Wechselwirkungen zwi­schen der Bundesrepublik und ihren mittel- und osteuropäischen Nachbarstaa­ten - gerade auch im Bereich der Beschäftigung - wurde einer der beiden Ver­anstaltungen die Funktion zugewiesen, eine Basis zu schaffen für eine intensive Diskussion und künftige konkrete Kooperationen. Erreicht werden sollte das unter anderem durch eine Verbesserung des Informationsstandes über die je­weilige ökonomische Situation sowie über die sich abzeichnenden Entwicklungstendenzen und deren Auswirkungen auf die sich formierenden Arbeitsmärkte.2

Der anderen Tagung (sie wird in diesem Band dokumentiert) wurden mehrere Aufgaben zugeordnet: Einerseits sollte die Tagung nicht bei der Auseinander­setzung mit qualitativen und quantitativen Effekten der Instrumentarien des A F G und insbesondere seiner neuartigen Komponenten (wie die vieldis­kutierten ABS-Gesellschaften) sowie bei der Analyse der damit verbundenen Kosten auf der einen und deren Entlastungswirkungen auf der anderen Seite stehenbleiben, da diese zweifellos weiterhin wichtigen Fragen bereits auf ver­schiedenen anderen Kolloquien ins Zentrum gerückt worden waren. Die Ver-

1 Insbesondere westliche Bundesländer thematisieren dieses Problem zunehmend im Sinne der Sicherung von entsprechenden Mitteln für die Bewältigung eigener Probleme. Mit dem Mani­festwerden von erheblichen strukturellen Verwerfungen mit entsprechenden arbeitsmarkt­politischen Konsequenzen in den Altländern (so sindin jüngerer Zeit auch im einstigen Wachstumseldorado" Bayern ganz schnell ausgeprägte Krisenregionen - ein Beispiel ist die

lange prosperierende Kugel- und Wälzlagerstadt Schweinfurt - entstanden) wird sich der Trend zweifellos verstärken.

2 Die Tagung, an der sich zahlreiche Wissenschaftler aus diesen Ländern beteiligten, wurde unter dem Titel "Arbeitsmarktpolitische Konzepte und Instrumente in Zentral- und Osteuropa am 14./15.10. 1993 in Chemnitz durchgeführt, die Ergebnisse erscheinen demnächst ebenfalls in dieser Reihe.

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anstaltung sollte vielmehr Gelegenheit bieten, einerseits bestimmte beginnende oder sich erst abzeichnende Entwicklungen - soweit möglich - jetzt schon zu skizzieren, die oft noch nicht voll erkannte Reichweite von struktur- und be­schäftigungspolitischen Institutionen und Konzepten vorläufig auszuloten und mögliche Implikationen aufzuzeigen. Andererseits und vor allem sollte - durch­aus im Bewußtsein der Tatsache, daß dabei der Grad der Spekulativität noch vergleichsweise groß und die Irrtumswahrscheinlichkeit nicht unbeträchtlich sein mußte - der Versuch unternommen werden, mögliche bislang nicht thema­tisierte mögliche Langfristfolgen und bislang nicht thematisierte kontra-intentionale Wirkungen zu umreisen und zur Debatte zu stellen. Eine weitere Aufgabe sollte darin liegen - auch das angesichts des übergroßen aktuellen Problemdrucks sicherlich eine nicht ganz leicht einzulösende Anforderung -, gerade auch die politischen Akteure zu motivieren, trotz ihrer starken Ein­bindung in das oft "übermächtige" Tagesgeschäft, den Blick einmal auf die mit­tel- und längerfristigen Perspektiven zu lenken und - wie provisorisch und an­greifbar auch immer - Gedanken zu formulieren, auf welchen Wegen das Tal der umfassenden Krise auf dem Arbeitsmarkt dereinst verlassen werden könnte.

Es war von Anfang an klar, daß sich ein solches Konzept Risiken aussetzt, der Gefahr zunächst, daß es nicht gelingt, Referenten für Beiträge des zuletzt ange­sprochenen Typs zu finden. Weiter war das Risiko zu gewärtigen, daß mög­licherweise Erwartungen geweckt werden, die sich dann nicht umfassend ein­halten lassen. Zu entscheiden, ob es mit den folgenden Beiträgen wenigstens in Ansätzen gelungen ist, den formulierten Vorgaben gerecht zu werden, bleibt Privileg des Lesers.3

Eingeleitet wird der Band mit einem Beitrag (Mendius), der zunächst die Frage aufwirft, wie es zu dem in der Geschichte der Bundesrepublik bislang ein­maligen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente im wiedervereinigten Deutschland kam, und damit verbunden die These formuliert, daß auf diese Weise vor allem außerhalb des Zielkreises der Arbeitsmarktpolitik liegende Intentionen verfolgt wurden. Am Beispiel der Qualifizierungspolitik eines großen Unternehmens in den neuen Ländern wird verdeutlicht, daß die dort genutzte Form der AFG-Förderung den Auslöser für eine weitgehende Exter-

3 Daß der Band erst im Frühjahr 1994 erscheinen kann, ist sicherlich auch wiederum der starken Beanspruchung der Autoren geschuldet. Es sei aber festgehalten, daß auch einige der Referate -wie vereinbart - sehr frühzeitig in schriftlicher Form vorgelegen haben. Die Herausgeber möch­ten ausdrücklich darauf verweisen, daß hier (auch in ihren eigenen Beiträgen) der Stand vom Herbst 1993 referiert und nur in dieser Einleitung teilweise auch auf inzwischen eingetretene Veränderungen verwiesen wird.

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nalisierung betrieblicher Weiterbildung bilden könnte - dann erwartbare Impli­kationen werden skizziert.

Betriebliche Weiterbildung ist auch das Thema des Beitrags von Brinkmann, der sich am Schluß des Bandes findet. Den Ausgangspunkt bildet hier die Überlegung, daß sich das Problem der Abstimmung von betrieblichen Anfor­derungen an die Arbeitskräfte und öffentlich geförderten Qualifi­zierungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern auf Grund des Struktur­bruchs besonders nachhaltig stellt. Diskutiert werden zunächst Möglichkeiten, über eine umfassende Einbildung aller wesentlichen Akteure in der Region die Unsicherheit über Art und Umfang des Weiterbildungsbedarfs abzubauen. Eine Darstellung der Potentiale der verschiedenen in den neuen Ländern ge­schaffenen Institutionen mit Kompetenz im Bereich der Weiterbildung und der lokalen und regionalen Vernetzung entsprechender Aktivitäten schließt sich an. Unter dem Stichwort "Wirtschaftsnahe Qualifizierung" wird dann untersucht, wie Unternehmen, die sonst auf Grund von Ressourcenknappheit nicht in der Lage wären, die für strukturellen Umbau erforderlichen Qualifi­zierungsmaßnahmen selbst zu bestreiten, durch geeignete Förderinstrumente dazu in die Lage versetzt werden können.

Ein Schwerpunkt der SAMF-Tagung in Dresden lag auf der Darstellung und der Diskussion innovativer Ansätze zur Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Sachsen. Sachsen wurde deshalb von der SAMF-Vorbereitungsgruppe als Bei­spiel für die neuen Bundesländer ausgewählt, weil in diesem Bundesland relativ frühzeitig - damit war der Freistaat gewissermaßen ein Vorreiter in den neuen Bundesländern - in Reaktion auf das Fiasko in der Beschäftigungsentwicklung und auf den Zusammenbruch vieler Industriebetriebe neue Institutionen auf­gebaut wurden, die der Beschäftigungskatastrophe und der Deindustrialisierung entgegensteuern sollten.

Gemeint sind hiermit insbesondere zum einen das 1992 gegründete Aufbau­werk Sachsen (AWS) , das im Verbund mit den regionalen Trägergesell­schaften (TGR) der Konsolidierung, Koordinierung und Anleitung der ab dem Frühjahr 1991 gegründeten Vielzahl von ABS-Gesellschaften dienen soll. Insbe­sondere sollte durch die Arbeit des AWS die Tätigkeit der ABS-Gesellschaften derart unterstützt werden, daß sie effektiver und professioneller durchgeführt werden kann. AWS und TGR sollen gleichzeitig die regionale Strukturpolitik unterstützen und bei der Verzahnung von Regional- und Arbeitsmarktpolitik behilflich sein. Mit der Tätigkeit des AWS sowie der Unterstützung der Arbeit

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der ABS-Gesellschaften ist die Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel z.B. zur Kofinanzierung von Projekten verbunden. Zum anderen ist das ATLAS-Projekt (ATLAS ist eine Abkürzung für "ausgewählte Treuhandunter­nehmen, vom Land angemeldet zur Sanierung") die zentrale neue Institution, die auf dem Gebiet der Industriepolitik innovativ tätig sein soll. Es beruht auf einer Vereinbarung Sachsens mit der Treuhand vom Frühjahr 1992. Danach kann das Land die Treuhandunternehmen benennen, die regional bedeutsam sind und die über ein Modernisierungskonzept verfügen, das ihnen eine be­gründete Aussicht auf eine betriebliche Sanierung bzw. Stabilisierung gibt. Die Treuhand ist bereit, - im Falle des Konsenses - den für eine Sanierung notwen­digen Spielraum unternehmerisch und finanziell einzuräumen; das Land wird andererseits die Sanierung dieser Unternehmen - gedacht ist in der Regel an eine mehrjährige Phase - zu den üblichen Konditionen finanziell fördern - eine Praxis, die es vorher bei THA-Betrieben nicht gab. In den Referaten von Riedel, Zeller und Gerlach wird genauer auf diese Institutionen (zu denen selbstverständlich die ABS-Gesellschaften hizuzuzählen sind), ihre Arbeits­weise, ihre Bedeutung und ihre Zukunftsaussichten eingegangen.

Bei diesen Einrichtungen handelt es sich um typische kooperatistische Arran­gements in dem Sinne, daß zentrale Verbände in Zusammenarbeit mit staat­lichen Institutionen auf den Politikfeldern 'Arbeitsmarktpolitik' und Industriepolitik' aktiv werden. Sie sind ganz pragmatisch in einer Situation ent­standen, als man gezwungen war, aus der Not eine Tugend zu machen. Die In­itiative hierzu ging keineswegs allein von den zuständigen Stellen aus; vielmehr erfolgten entscheidende Impulse zum Aufbau neuer arbeitsmarkt- und struk­turpolitischer Institutionen häufig von den Gewerkschaften, die vor Ort mit den Problemen des Arbeitsmarktes und der Deindustrialisierung in aller Schärfe konfrontiert wurden. Daß solche Initiativen jedoch auf "Gegenliebe" stießen liegt zum einen an der personellen Konstellation in Sachsen mit einem Minis­terpräsidenten an der Spitze, dem an der Erweiterung und Vertiefung von Ko­operation in den genannten Feldern gelegen ist. Zum anderen - und dieses ist der entscheidende Grund -, denn ähnliche Bestrebungen wie in Sachsen (wenn auch häufig nicht so weit gediehen) gibt es in den meisten neuen Bundes­ländern - war der Problemdruck so gewaltig, daß einfach in der einen oder an­deren Form reagiert werden mußte: In dieser Situation war die Einbeziehung der wichtigsten Interessengruppen, insbesondere der Gewerkschaften und der Arbeitgeber notwendig, um im Sinne einer möglichst breiten Konsensbildung die politisch wie wirtschaftlich nur schwer kalkulierbaren Konsequenzen des Übergangs in eine Marktwirtschaft politisch, ökonomisch und sozial abzufe­dern. Sicher, weitergehende Forderungen etwa nach einer Industrieholding

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wurde hierbei nicht nachgegeben - der marktwirtschaftliche "Sündenfall" fand bisher nicht statt -, aber man kam doch den Ansprüchen an eine aktive, innova­tive Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik insoweit entgegen, daß entsprechende Institutionen geschaffen und finanziert wurden.

Fassen wir zusammen: Nachdem unter dem Druck der Ereignisse immer deut­licher wurde, daß die aus Westdeutschland übernommenen Institutionen, die in einem ganz anderen historischen Kontext entstanden waren, der Aufgabe der Transformation einer Plan- in eine Marktwirtschaft nicht angemessen waren, entstanden relativ schnell und pragmatisch neue Institutionen (ABS-Gesell­schaften, AWS, ATLAS), die mit einer kooperativen Struktur und der Bereit­stellung erheblicher finanzieller Mittel innovative Arbeitsmarkt- und Industrie­politik betreiben sollten.

Mittlerweile arbeiten die genannten Institutionen eine geraume Zeit, so daß eine - wie auch immer vorläufige - Bewertung ihrer Arbeit möglich erscheint. Ohne den in den einzelnen Referaten formulierten Positionen vorgreifen zu wollen, sollen an dieser Stelle hierzu einige generelle Bemerkungen gemacht werden. Selbst wenn man berücksichtigt, daß mit der Treuhand und der Bun­desanstalt für Arbeit weitere Akteure mit im Boot saßen, die ihre eigene, kei­neswegs immer mit der vom Freistaat Sachsen und den weiteren sächsischen Akteuren formulierten Positionen nahtlos übereinstimmende "Linie" verfolgten, so kann dennoch gesagt werden, daß die neuen Institutionen nicht offensiv ge­nug die angegebenen Politikfelder besetzten. Es bestand ja anfänglich durchaus die Chance, mit ihrer Hilfe innovative Politik zu machen. Diese Chance ist nur unzureichend genutzt worden und hierfür sind keineswegs allein fiskalische Gründe maßgeblich. Tatsächlich gab es zum einen erhebliche Defizite auf der Landes- und auch auf der regionalen Ebene in der konzeptionellen Bestim­mung dessen, was man mit diesen Institutionen eigentlich wollte; zum zweiten gelang die absolute notwendige Verknüpfung von Teilpolitiken im Grunde nicht durchgängig und hinreichend; zum dritten war die Effektivität der neuen Insti­tutionen auf der operativen Ebene häufig zu gering. Das heißt nun nicht, daß keine Erfolge etwa in der Verbindung von Arbeits- und Strukturpolitik zu ver­zeichnen waren. Sie sind eindrucksvoll genug z.B. bei Sanierungsvorhaben, aber die vorhandenen Potentiale und Möglichkeiten sind eben nur unzureichend ge­nutzt worden, - selbst wenn man berücksichtigt, daß die Implementation neuer Institutionen immer mit erheblichen Reibungsverlusten verbunden ist.

Seit einiger Zeit hat sich der Wind gedreht. Trotz anhaltender Mas­senarbeitslosigkeit wird von Seiten der Bundesregierung aus fiskalischen wie aus

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politisch-ideologischen Gründen die Arbeitsmarktpolitik sehr viel restriktiver gehandhabt. Es gibt quasi eine Scherenbewegung zwischen zunehmender Ar­beitslosigkeit und abnehmender Arbeitsförderung. Die jüngst im Bundestag verabschiedete Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes markiert in dieser Entwicklung eine wichtige Etappe. Für eine offensive Arbeitsmarktpolitik ver­schlechtern sich die Rahmenbedingungen zusehends. Das gleiche gilt für eine aktive Industriepolitik, die es mit der Stabilisierung und Sanierung industrieller Kerne in den neuen Bundesländern ernst meint. Nach dem Schock der Trans­formation, der zum Einsatz von viel Geld und einer Offenheit zentralpolitischer Instanzen für neue innovative Politikansätze führte, kehrt "Normalität" ein. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist, daß sich Spielräume für offensive Politikan­sätze in dem oben genannten Sinne weiter verengen.

Hans Gerhard Mendius Frank Gerlach

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Hans Gerhard Mendius

Arbeitsförderungspraxis in den neuen Ländern - Auslöser für eine Umorientierung betrieblicher Qualifizierungspolitik?

Einleitende Bemerkung

Auch für die Überschrift dieses Beitrags gilt ein häufig sich ergebendes Di­lemma: Einerseits soll eine möglichst zutreffende und den Leser motivierende Information über die Themenstellung geliefert werden, andererseits darf der Titel nicht zu lang und "unhandlich" werden. Da sicherlich auch in diesem Fall die Aufgabe nicht optimal gelöst werden konnte, sollen eingangs die anzu­sprechenden Hauptpunkte kurz benannt werden:

1. Zunächst sollen - sehr knapp, und pointiert-thesenartig - einige Überle­gungen zu intendierten und nichtintendierten Funktionen von AFG-Politik im unmittelbaren Gefolge des Beitritts der neuen Länder vorgestellt werden.

2. Am Beispiel der Förderung von betriebsbezogenen Qualifizierungsmaß­nahmen wird die Frage aufgenommen, warum und mit welchen Folgen es zu einer Auslagerung von Qualifizierungsmaßnahmen aus den Unternehmen kommt, um

3. diese Zusammenhänge an einem etwas näher geschilderten, möglicherweise prototypischen Fallbeispiel zu verdeutlichen.

4. Abschließend soll dann versucht werden, daraus einige vorläufige Schlußfol­gerungen abzuleiten.

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1. Qualifizierungsförderung - ein wichtiges Moment der beson­deren Funktion der Arbeitsförderungspolitik in den NBL

Daß in den neuen Ländern zunächst massiv Qualifizierung gefördert wurde, ohne besonders ausgeprägte Qualitätssicherungsmaßnahmen vorzusehen - nicht umsonst war von "Tonnen-Ideologie" die Rede -, ist mittlerweile unbestritten. Mit dem akzeptablen Motiv, Schlimmeres, d.h. offene Arbeitslosigkeit zu ver­meiden, sollten möglichst schnell möglichst viele nach dem Verlust des bisheri­gen Arbeitplatzes bzw. im Vorfeld absehbarer Erwerbslosigkeit untergebracht werden. Ebenso ist inzwischen allgemein bekannt, daß es dabei in verschiede­ner Hinsicht zu problematischen Entwicklungen gekommen ist (sie reichen von inadäquaten Maßnahmen, Vermittlung von Kenntnissen, die nicht arbeits­marktgängig waren und/oder Einbeziehung von Arbeitskräften in Maßnahmen, die den persönlichen Befähigungen, Interessen und Lebensumständen der Teil­nehmer nicht entsprachen, bis hin zu direktem Mißbrauch bzw. Betrug). Die Argumentation, daß solche Effekte für einen bestimmten Zeitraum als klei­neres Übel akzeptiert werden mußten, hat angesichts der Dimension der sich stellenden Aufgabe und des Tempos, in dem sie angegangen werden mußte, zweifellos einiges für sich.

Keineswegs aber lassen sich damit jegliche Fehlentwicklungen rechtfertigen. Und vor allem gilt, daß man, gerade wenn man derartig problematische Ten­denzen unter den vorgefundenen Umständen als unvermeidbar ansieht, nicht zu fordern umhinkommt, daß daraus die entsprechenden Lehren für die Zukunft konsequent gezogen werden müssen. Genauere Analysen der erreichten ge­wollten und der ausgelösten nichtintendierten Effekte und vor allem die Auf­deckung von mißbräuchlicher Nutzung sind nicht zuletzt auch deshalb von großer Bedeutung, weil sonst die Gefahr besteht, daß das weiterhin außeror­dentlich wichtige Instrument öffentlicher Qualifizierungsförderung insgesamt diskreditiert wird. Wenn wir derzeit eine durch die Finanzkrise ausgelöste, z.T. weit über das Ziel hinausschießende Debatte über massive Einschnitte ins AFG-Instrumentarium erleben, bei der in erheblichem Umfang von wichtigen Akteuren selbst Pflichtleistungen der Bundesanstalt für Arbeit zur Disposition gestellt werden, so läßt sich dabei ein sachlicher Zusammenhang mit der sehr großzügigen Gewährung von Leistungen zu Beginn des Vereinigungsprozesses kaum ganz von der Hand weisen. Das gilt, auch wenn damit nicht behauptet werden soll, daß bei strengerer Bewirtschaftung der Mittel und effektiverem Einsatz während dieser Anfangsphase der AFG-Politik in den neuen Ländern das dann gesparte Geld jetzt für gezieltere Aktivitäten noch verfügbar wäre,

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und auch wenn keineswegs als gesichert anzusehen ist, daß die Mittel dann an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt worden wären.

Was aber, wenn es mit dem massiven Einsatz von Geldern für AFG-geförderte Qualifizierungsmaßnahmen nicht nur, möglicherweise nicht einmal in erster Li ­nie tatsächlich um die Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen ging?

Gerade die bei vielen Verantwortlichen zu beobachtende schnelle Wende hin zu einer restriktiven Handhabung scheint geeignet, eine neue Interpretation des großzügigen Umgangs mit den Fördermitteln in der Anfangsphase nahezule­gen, die hier in Form einer These (1) zusammengefaßt werden soll. Sie ist - in der hier nur möglichen knappen Form zumal - sicher durchaus angreifbar. Wenn damit aber ein produktiver Diskussionsanreiz geliefert wird, ist eine we­sentliche Funktion schon erreicht.

Die - dreiteilige - These besagt folgendes: Die Tatsache, daß Arbeits­marktpolitik in der Bundesrepublik erstmals im Gefolge des Beitritts der neuen Länder in einer bislang beispiellosen Größenordnung mit Mitteln ausgestattet wurde, läßt sich daraus erklären, daß es primär um ganz andere Effekte als die Durchsetzung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzungen ging.

Für diese Einschätzung spricht, daß es trotz der seit über 15 Jahren anhal­tenden Massenarbeitslosigkeit (die Millionengrenze für die alten Bundesländer wurde seitdem auch in zwischenzeitlich zu verzeichnenden Phasen ausgeprägten wirtschaftlichen Wachstums bekanntlich nie wieder unter­schritten) bis zum Beitritt der fünf neuen Bundesländer nie gelang, Mittel auch nur annähernd vergleichbarer Dimension für eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu mobilisieren - und das, obwohl zahlreiche plausible Argumentationsfiguren vorgelegt wurden, mit denen die erwartbare beschäftigungspolitische Wirksamkeit von arbeitsmarktpolitischen Initiativen ebenso wie deren außerordentlich hohe Selbstfinanzierungsquoten untermauert wurden. Obwohl es eine Reihe von entsprechenden erfolgreich praktizierten Ansätzen gab, folgte auf die allfälligen Bekenntnisse zur Vorrangigkeit des Abbaus der Arbeitslosigkeit eben nie die Schaffung der dafür erforderlichen materiellen Voraussetzungen. Sehr im Unterschied dazu war es dann im Gefolge der Wiedervereinigung sehr rasch möglich, die entsprechenden Etats massiv zu erweitern und Mittel vergleichsweise schnell und unbürokratisch bereitzustellen und außerordentlich flexibel zu verausgaben (und zwar u.a. für - gemessen an der ursprünglichen AFG-Philosophie - so eigenwillige Dinge wie "Kurzarbeit

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Null" oder für die zahlreichen und zu Recht wohl oft umstrittenen Maßnahmen der "Anpassungsqualifizierung").

Betrachtet man nun - in sicherlich einstweilen noch sehr kurzatmiger und wenig distanzierter Retrospektive - die erreichten Effekte, so läßt sich daraus der zweite Teil der These ableiten:

Die AfG-Instrumente erfüllten (und zwar unabhängig von den Intentionen der Akteure, die auf den verschiedenen Ebenen sicherlich sehr unterschiedlich waren) letztlich sehr viel weniger die Funktion, tatsächlich im Sinne einer mit­telfristigen Neuordnung und Stabilisierung des Arbeitsmarkts zu wirken. Viel­mehr wirkten sie nicht zuletzt in dem Sinne, eine positive (oder jedenfalls weni­ger pessimistische) Stimmung zu fördern und das Ausmaß des trotz anderslau­tender Ankündigungen nicht mehr zu übersehenden beschäftigungspolitischen Desasters1 einstweilen nicht deutlich werden zu lassen - solange jedenfalls, bis damit gerechnet werden konnte, daß die Gnade des schnellen Vergessens oder die um sich greifende Resignation und Passivität der Betroffenen ihre "segensreiche" Wirkung entfalten würden.

Insofern hat - so läßt sich die These fortsetzen - der massive Einsatz ar­beitsmarktpolitischer Instrumente und nicht zuletzt die umfassende Nutzung von Qualifizierungsmaßnahmen auch dann, wenn sie ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung nicht gerecht wurden, dazu beigetragen, Zeit zu gewinnen. Das hatte u.a. die Folge, daß das ganze Ausmaß des Beschäftigungsfiaskos erst zu einem Zeitpunkt offenbar wurde, zu dem ein erheblicher Teil der vormals ca. 10 Mio. Werktätigen der ehemaligen DDR entweder ganz aus dem Arbeits­prozeß ausgegliedert oder jedenfalls aus dem unmittelbaren betrieblichen Zu­sammenhang (Kurzarbeit- Null, Anpassungsqualifizierung, Mega-ABM usw.) herausgelöst war. Mit der Zugehörigkeit zum Unternehmen verloren die Ar­beitskräfte nämlich nicht zuletzt den Zusammenhang, der sie am ehesten noch in die Lage versetzt hätte, ihre Interessen durchzusetzen. Daß dies denjenigen, die noch eine Beschäftigung haben, selbst unter den mehr als schwierigen Be­dingungen des Arbeitsmarktes insgesamt und angesichts einer besonders pro-

1 Zwar wird immer wieder und immer noch von Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik re­klamiert, daß die kommende wirtschaftliche Entwicklung und die daraus resultierenden Konse­quenzen für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt des Beitritts auch nicht ansatzweise abzusehen gewesen seien. Angesichts der für jeden, der sehen wollte, offenbar desolaten Situation der DDR-Ökonomie (Betriebe, Infrastruktur usw.) wird damit dem geneig­ten Publikum aber ein Maß an Blauäugigkeit abverlangt, das sich fast nur vorsätzlich aufbringen läßt. Es bleibt daher wenig Raum für eine andere Interpretation als jene, die besagt, daß solche Aussagen entweder den Beweis für erhebliche Inkompetenz liefern oder als bewußte Verschleie­rung bewertet werden müssen.

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blematischen Branchenkonjunktur durchaus gelingen kann, hat der Arbeits­kampf in der Metallindustrie in Sachsen exemplarisch gezeigt.

So gesehen hat also die gesamte Arbeitsmarktpolitik in den NBL - völlig unab­hängig von den Motiven der handelnden Personen auf den einzelnen Ebenen -nicht zuletzt (und positiv formuliert) als Instrument der "Konfliktdämpfung" gewirkt. Auf den Sachverhalt, daß Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik immer auch unter diesem Blickwinkel zu sehen sind, verweist bereits deren Entstehungsge­schichte im vorigen Jahrhundert. In so massiver Weise im Sinne einer Konflikt-kanalisierung dürfte sie allerdings bislang kaum je eingesetzt worden sein.

Nun ist es zweifellos akzeptabel, in gesellschaftlichen Umbruchsituationen mas­siv Mittel zur Vermeidung überbordender offener Arbeitslosigkeit zu mobilisie­ren, um daraus sonst möglicherweise entstehende unkontrollierte Folgekon­flikte zu dämpfen oder ganz zu verhindern: Zieht man die Erfahrungen der Spätphase der Weimarer Republik zu Rate, so lassen diese sicherlich den Schluß zu, daß damals möglicherweise mit einem frühzeitigeren und umfassen­deren Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente der faschistischen Macht­übernahme hätte wirksamer gegengesteuert werden können.2 Das ändert aber nichts an der Anforderung, daß die Mittel so zielgerichtet wie möglich (im Sinne der Sicherung und Beschaffung von Arbeitsplätzen) eingesetzt werden müssen. Das Argument, daß man zunächst - vom Zeitpunkt des Auftretens des Problems und von den Dimensionen der Aufgabe völlig überrascht - Erfahrun­gen sammeln mußte usw., war für die Anfangsphase nicht von der Hand zu wei­sen. Es wird aber ad absurdum geführt, wenn jetzt, wo eigentlich die Erfah­rungen im Sinne eines zielgerichteten Einsatzes nutzbar gemacht werden könnten, nicht etwa die Instrumente in gleicher oder noch steigender Größenordnung bei effektiver Qualitätssicherung eingesetzt werden, sondern massive Einschnitte erfolgen sollen, die mit der Ankündigung einer (hoffentlich effektiven und konsequenten) Durchführung der Kontrolle von Mißbrauch gar­niert werden. Es fällt schwer, daraus nicht den Schluß zu ziehen, daß die Funk­tion des Zeitgewinns über die Expansion der AFG-Mittel jetzt erfüllt ist und daß man glaubt, davon ausgehen zu können, die Betroffenen seien zwischen­zeitlich in eine Lage gekommen, in der sie die geplanten Einschnitte letztlich hinnehmen müssen.

2 Wirklich wirksam werden in dieser Richtung kann Arbeitsmarktpolitik aber zweifellos nur, wenn sie integrierter Bestandteil eines entsprechenden umfassenden Politikkonzepts ist. Die Frage nach den möglichen systemstabilisierenden Potentialen von Arbeitsmarktpolitik auch nur anzu­reißen, würde - wie reizvoll sich das Unterfangen auch darstellen mag - den Rahmen des hier vorliegenden Beitrags vollends sprengen.

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2. Betriebliche Qualifizierung und Förderung im Rahmen des AFG

Neben dieser nur sehr holzschnittartig skizzierten, generelleren Funktions­verschiebung arbeitsmarktpolitischer Instrumente zeichnen sich aber auch Kon­sequenzen dieser AFG-Praxis für das betriebliche Qualifizierungsverhalten ab, womit das Thema dieses Beitrags im engeren Sinne aufgeworfen ist.

Bei den im Zentrum der Diskussion stehenden Qualifizierungsmaßnahmen in den NBL ging es meist um außerbetrieblich durchgeführte oder um solche, die in Unternehmen stattfanden, bei denen massiver Personalabbau anstand (der letztlich häufig in einer Schließung endete). Letzteres ist zweifellos die in den neuen Ländern bislang und wahrscheinlich auch noch für einige Zeit bei weitem dominierende Konstellation. Im folgenden soll aber die Aufmerksamkeit nicht darauf, sondern auf einen anderen Bereich gelenkt werden, der bisher in den neuen Ländern eine wesentlich geringere Rolle spielte. Gleichwohl muß dieser Aspekt aber auf dem Weg zur Normalisierung der beschäftigungspolitischen Situation - als wie langwierig, aufhaltsam und steinig er sich auch herausstellen mag - sukzessive an Bedeutung gewinnen. Es geht also um Qualifizierungsmaßnahmen, die - und jetzt muß man genau formulieren - bislang üblicherweise im Unternehmen stattfanden, überwiegend durch Mitarbeiter der Unternehmen durchgeführt wurden, Unternehmensmitarbeiter als Adressaten hatten und von den Unternehmen finanziert wurden. Und es geht um Veränderungen, die sich hier abzuzeichnen beginnen.

2.1 Veränderung des Qualifizierungsverhaltens und neue Unterneh­mensstrategien

Auf Grund der besonderen Bedingungen in den neuen Ländern, nicht zuletzt aber begünstigt durch die dortige Praxis der Arbeitsförderung, werden Tenden­zen forciert, die vermutlich ohnedies angelegt waren, Tendenzen, die zu einer weitgehenden Verlagerung von Ausbildungsleistungen weg vom Betrieb führen - so jedenfalls die nächste hier zur Debatte gestellte These (2).

Zu verstehen ist diese Verlagerung nicht zuletzt im Kontext der Umsetzung neuer Rationalisierungsstrategien durch Großunternehmen. Sie wird seit eini­ger Zeit auch in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort "Lean Production"

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vehement diskutiert und für alle möglichen, damit nicht unbedingt immer plau­sibel zu begründenden Maßnahmen funktionalisiert. Bei der "Verschlankung" der Produktion sollte es - nimmt man die Protagonisten des Konzeptes ernst -eigentlich um die Steigerung der Produktivität entlang der gesamten Wert­schöpfungskette gehen. Betrachtet man die Praxis in der Bundesrepublik vor Ort, muß man allerdings den Eindruck gewinnen, daß sich das (insbesondere in der Automobilindustrie breit reüssierende) Konzept in den Augen von Verant­wortlichen an den einzelnen Produktionsstandorten oft darauf reduziert, so oder so die Zahl der für die Fertigung eines Fahrzeugs erforderlichen "Mannstunden" - ein Maß, an dem gerne die Rückständigkeit der deutschen ge­genüber der japanischen Automobilindustrie festgemacht wird - zu senken. Der Wert "Arbeitsstunden pro gefertigtes Auto" läßt sich aber (zumindest rechne­risch) nicht nur dadurch verringern, daß man Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität trifft, also den Output pro Arbeitsstunde erhöht, sondern vor allem auch dadurch, daß man die Zahl der an der Produktion Beteiligten (oder besser, die Zahl der Personen, die der Produktion zugerechnet werden) redu­ziert. Da diese Maßgrößen nicht nur im Wettbewerb zwischen den Auto­mobilherstellern, sondern auch - und nicht zuletzt - bei der (von den Konzern­zentralen geförderten) Konkurrenz der einzelnen Werke eines Konzerns unter­einander von großer Bedeutung für die Zukunftschancen der einzelnen Stand­orte und ihrer Beschäftigten sind, ist der Wettlauf um die "besten Kennziffern" in vollem Gange.

Der Zielvorstellung, den Aufwand (in der Endfertigung) auf "20 Stunden pro Fahrzeug" - so eine in letzter Zeit vorgestellte Zielgröße, die aber sicher noch weiter herabgesenkt werden kann und wird - zu reduzieren, kommt man also durch jede Senkung der Fertigungstiefe näher. Das gilt unabhängig davon, ob sie tatsächlich zu Kosteneinsparungen oder Qualitätsverbesserungen führt (Experten bestätigen, daß immer wieder solche - eigentlich unsinnige - Ausla­gerungen stattfinden und begründen das außer mit Managmentfehlleistungen vor allem mit solchen "Verselbständigungstrends"). Daher macht es aus dieser Perspektive nicht nur Sinn, den Zulieferanteil (insbesondere durch Bezug mög­lichst komplexer und weitgehend vormontierter Baugruppen) zu steigern, son­dern es empfiehlt sich auch, möglichst viele produktionsbezogene Dienstlei­stungen auszulagern (von der Wartung und Instandhaltung über die Reinigung, die gesamte Versorgung mit Betriebsstoffen, den Kantinenbereich usw. bis hin selbst zu Aufgaben wie dem Werkschutz). Das ist aber nicht das Ende der Ent­wicklung: Bei dem Wettrennen um den niedrigsten Aufwand pro gefertigtem Fahrzeug müssen konsequenterweise irgendwann auch Aufgabenkomplexe wie die Aus- und Weiterbildung ins Blickfeld geraten. Auch für Ausbildungsleistun-

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gen stellt sich dann die Gretchenfrage des "make or buy", die neuerdings häufig im Sinne des "Einkaufens", also des Auslagerns, beantwortet wird.

Die Auslagerung von Aus- und Weiterbildung - so die nächste These (3) - läßt sich also auch als Konsequenz des Versuchs verstehen, "Lean Production" mög­lichst konsequent zu praktizieren.

Die Auslagerung vorhandener Unternehmenseinrichtungen und ihres Personals - zumal, wenn diese seit langem bestehen und nach verbreiteter Einschätzung eigentlich gute Arbeit leisten - ist immer ein schwieriger Akt. Es muß versucht werden, bei den unmittelbar Betroffenen und im Unternehmen insgesamt Ak­zeptanz dafür zu schaffen. Nicht zuletzt ist ein solcher Schritt mit der Arbeit­nehmervertretung zu verhandeln bzw. ihr gegenüber durchzusetzen. Gleichwohl gibt es seit einiger Zeit Tendenzen, mit der Durchführung von Weiterbil­dungsmaßnahmen für eigene Mitarbeiter zunehmend auch externe Träger zu betrauen.3

Wesentlich einfacher jedoch und damit noch naheliegender ist es, im Sinne einer möglichst "schlanken" Unternehmensstruktur beim Neuaufbau von Wer­ken diese Bereich überhaupt erst nicht einzurichten und die entsprechenden Funktionen von Beginn an extern anzusiedeln. Das genau ist es, was sich derzeit beobachten läßt.

Die folgende These (4) besagt darauf bezogen, daß die Auslagerung von Quali­fizierung aus Sicht der Unternehmen insbesondere dann attraktiv ist, wenn sich dabei eine möglichst weitgehende Verlagerung der Kosten auf öffentliche Trä­ger (oder auch auf die Qualifizierungsteilnehmer) erreichen läßt und wenn gleichzeitig sichergestellt werden kann, daß die Einwirkungsmöglichkeiten der Unternehmen (in Dimensionen wie Gestaltung der Qualifizierung nach unter­nehmensspezifischen Bedürfnissen, Steuerung der Teilnehmerauswahl für die Maßnahmen und anschließende Selektion für den betrieblichen Einsatz, Festle­gung der Gratifizierung der erreichten Qualifikationen usw.) möglichst weitge­hend gesichert bleiben.

Die These läßt sich dementsprechend dahingehend fortsetzen, daß die Nut­zungsmöglichkeiten von AFG-Mitteln im Rahmen betrieblicher Quali-

3 Auch für diese Auslagerungsentscheidungen werden die für die Vorteilhaftigkeit des Fremdleis-tungsbezugs generell genutzten Argumente ins Feld geführt: höhere Produktivität durch Spezia­lisierung, bessere Auslastung des "Lieferanten Bildungsträger", der mehrere Abnehmer hat, gün­stigere Rosten wegen niedrigerer Bezahlung, stärker deregulierte Arbeitsverhältnisse usw.

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fizierungspolitik, wie sie in den neuen Ländern nach dem Beitritt bestanden haben, aus unternehmerischer Perspektive diesem Zustand (weitgehende Kostenverlagerung bei Aufrechterhaltung der Steuerungsmöglichkeiten) recht nahekommt. Insofern kann diese spezifische Form der AFG-Förderung dazu beitragen, einen Trend zur Verlagerung von vormals betrieblichen Ausbil­dungsleistungen weg aus der (Kosten-) Verantwortlichkeit der Unternehmen zu fördern.

An dieser Stelle kann auf die berufliche Erstausbildung, die durch die be­kannte "duale Struktur" (Ausbildungsorte Betrieb und Berufsschule, öffentlich geregelte Prüfungsverfahren, arbeitsmarktgängige Zertifizierung usw.) charakterisiert ist, also auch schon bisher nicht ausschließlich Sache der Unter­nehmen war, nicht im einzelnen eingegangen werden. Festgehalten werden kann aber, daß sich die bereits seit längerem zu beobachtende Verschiebung von Ausbildungsabschnitten in überbetriebliche Lehrwerkstätten (aber auch etwa die Schaffung des Berufsgrundbildungsjahres) als Tendenz zur Stärkung der überbetrieblichen Komponente verstehen läßt. Wenn die komplette Ausla­gerung der Erstausbildung an entsprechende Ausbildungszentren geplant wird -wie das an einem Automobilstandort geplant ist -, wird damit wohl eine neue Qualität erreicht.

Soweit also Lean-Production-Konzepte (jedenfalls in einer bestimmten Aus­formung) nicht nur die Auslagerung von Weiterbildung, sondern auch die Aus­gliederung der Erstausbildung aus den Unternehmen begünstigen, lassen sie sich auch als ein Moment der Gefährdung des "Dualen Systems" der Berufsausbildung in der Bundesrepublik sehen - ein brisantes Thema zweifel­los, das sich hier aber nicht weiter vertiefen läßt.

Die Debatte um die Zukunft des "Dualen Systems" wird seit einiger Zeit mit er­heblicher Intensität geführt - zahlreiche Beiträge dazu werden veröffentlicht. Die Einschätzungen sind auffallend kontrovers. Während die außerordentlichen Meriten des "Dualen Systems" in der Vergangenheit kaum in Frage gestellt werden (Aspekte wie hoher Qualifikationsstand der produktiven Arbeitskräfte, konstruktiver Charakter der industriellen Beziehungen und damit verbundene Beiträge zur Schaffung internationaler Wettbewerbsfähigkeit), gibt es im Hin­blick auf seine Perspektiven sehr unterschiedliche Einschätzungen. Gefährdun­gen werden bislang aber vor allem aus zwei Richtungen erwartet: Auf der einen Seite sollen sie aus der vermuteten mangelnden Fähigkeit, künftig zu erwarten­den Qualifikationsbedarf abzudecken bzw. den Anforderungen der prognosti­zierten Abkehr von der Arbeitsgesellschaft gerecht zu werden, resultieren. Auf

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der anderen Seite wird mit der (angesichts als attraktiver anzusehender Alternativoptionen) unterstellten schwindenden Bereitschaft des Arbeitskräf­tenachwuchses argumentiert, sich in die Ausbildungsgänge des Dualen Systems zu begeben - eine Überlegung, die auf dem Hintergrund des gerade in den neuen Bundesländern wieder auftretenden Mangels an Ausbildungsplätzen, der vergleichsweise überaus günstigen Entwicklung gerade des "ausbildungs- und facharbeiterintensiven" Handwerks und der großen Anpassungsbereitschaft der Erwerbsbevölkerung nicht gerade an Plausibilität gewinnt. Dagegen wird bis­lang offenbar kaum gesehen, daß derzeit zu beobachtende Formen der Adap­tierung "japanischer Produktionsmodelle" sich ebenfalls nachhaltig in Richtung auf eine Erosion des klassischen "Dualen Systems" auswirken könnten.

Im Bereich der Qualifizierung von Erwachsenen (Weiterbildung, Einarbeitung usw.), in dem bislang auf der einen Seite rein betriebliche Maßnahmen und auf der anderen Seite von externen Trägern durchgeführte Maßnahmen (vor allem für Arbeitslose) dominierten, könnte man dagegen von einem Trend hin zur "Dualisierung" sprechen: Maßnahmen, die früher durch die Unternehmen selbst durchgeführt und finanziert wurden, werden jetzt zwar weiter nach un­ternehmerischen Vorgaben konzipiert und sind auf einen späteren Einsatz im Unternehmen ausgerichtet, wesentliche Ausbildungsteile finden weiter vor Ort im Betrieb statt, die Maßnahmen selbst jedoch werden jetzt von unternehmen­sexternen Trägern durchgeführt und mit öffentlichen Mitteln finanziert. Dabei schließt es diese "Externalisierung" offenbar nicht aus, sondern scheint es sogar nahezulegen, daß bei diesen "Bildungsträgern" erhebliche personelle Überlappungen mit ehemaligen oder noch aktiven Angehörigen des "Bezugsunternehmens" bestehen.

Daß Arbeitsförderungspolitik und insbesondere die Förderung von Quali­fizierung tatsächlich dazu beitragen kann, in diese Richtung zu wirken, soll an einem - wie wir meinen - besonders charakteristischen Fall verdeutlicht werden. Die Klärung der Fragen, wie weitverbreitet vergleichbare Konstellationen be­reits sind, welche weiteren Varianten es bereits gibt usw., bedürfte weiterer Re­cherchen. Auch die Frage, ob es sich ggf. dabei letztlich doch nur um nicht strukturbestimmende, episodenartige Sonderfälle handelt oder ob sich damit tatsächlich eine Trendwende ankündigt, wird sich erst in Zukunft endgültig be­antworten lassen.

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2.2 Externalisierung von Qualifizierung - ein exemplarischer Fall?

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf ein Unternehmen der Au­tomobilindustrie mit mehreren Produktionsstandorten in den alten Bun­desländern, das ein modernes Werk in einem neuen Bundesland aufbaut, und zwar an einem "traditionsreichen Automobilstandort". Zur völligen oder auch nur teilweisen Weiterführung der hier zu DDR-Zeiten stattfindenden Produk­tion und zur direkten Übernahme der dort beschäftigten Arbeitskräfte ist es -wie auch in anderen vergleichbaren Fällen - aus Gründen, die hier nicht zu analysieren sind, nicht gekommen. Vielmehr wurde das Werk neu errichtet und die Belegschaft "vom Arbeitsmarkt" rekrutiert. Festzuhalten ist weiter, daß die Belegschaftsgröße, die bei Vollausbau erreicht werden soll, weniger als 20% der am früheren Kombinatsstandort Beschäftigten betragen wird; festzuhalten ist auch, daß bei der Neurekrutierung "Erfahrungen im Automobilbau" als be­sonders günstige Einstellungsvoraussetzung angesehen werden.

Die Ansiedlung des Werkes ist in vielfältiger Form umfassend gefördert worden (man spricht davon, daß die nicht zuletzt in der Werbung des Konzerns immer wieder nachhaltig herausgestellte "Milliardeninvestition" letztlich nur zum geringeren Teil vom Unternehmen aufgebracht werden mußte). Begründet wird das massive Engagement damit, daß es darum ging, den "Zuschlag" für das Vorhaben für die darauf besonders angewiesene Region zu sichern - ein Motiv, das auch in vergleichbaren Fällen (und der Förderwettlauf um vermeintlich at­traktive Ansiedlungen hat bekanntlich keineswegs erst mit der Wiedervereini­gung begonnen) immer wieder bemüht wird. Daß auch eine Reihe von anderen Standorten, u.a. im Ausland, in Betracht gezogen worden sein sollen, sei eben­falls erwähnt.

Hier braucht nun weder die Frage analysiert werden, welche direkten und indi­rekten Subventionen im einzelnen zum Tragen kamen, noch ist zu untersuchen, ob das alles letztlich erforderlich war, um die Entscheidung für den fraglichen Standort sicherzustellen. Zu konstatieren ist aber, daß neben allen materiellen Zusagen die Verfügbarkeit einer motivierten, industrieerfahrenen und im Au­tomobilbau vorqualifizierten sowie an Mehrschichtarbeit gewöhnten Arbeit­nehmerschaft stets als ein besonderer Vorteil betrachtet wurde, ein Plus, das bei der getroffenen Option eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte.

Daß dennoch gleichzeitig eine umfassende Qualifizierung der Arbeitskräfte für ihre Aufgaben im neuen Werk für sinnvoll oder sogar für obligatorisch gehalten wurde, braucht gleichwohl nicht zu verwundern: Zum einen steht außer Frage,

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daß die DDR-Automobilproduktion, gemessen an damals bereits in Westeu­ropa erreichten Standards, durch eine erhebliche Rückständigkeit charakteri­siert war. Vor allem aber ist in Rechnung zu stellen, daß es darum ging, ein Werk zu errichten, das in bislang (zumindest in Kontinentaleuropa) beispiello­ser Form auf die Anforderungen der "schlanken Produktion" ausgerichtet wer­den und zukunftsweisende Formen der Arbeitsorganisation umsetzen sollte. Schon eher überraschen konnte dagegen die Art und Weise, wie die Auswahl der neuen Belegschaft und deren Qualifizierung gestaltet wurde. Zweifellos ist darüber das eine oder andere aus den Medien oder auf andere Weise bekannt geworden, es erscheint aber sinnvoll, das Konzept kurz zu skizzieren, ehe ver­sucht wird, es im Kontext der angesprochenen "Verlagerungstendenz" zu ver­orten.

Der Weg zum neuen Arbeitsplatz

Der Weg zum neuen Arbeitsplatz besteht aus einem mehrstufigen Verfahren:

- Es beginnt mit einer (konventionellen) schriftlichen Bewerbung (1); - im Anschluß daran findet ein Gespräch statt, bei dem man vorhandene Quali­

fikationen und Interessen der Kandidaten in Erfahrung bringt, über die ver­fügbaren Arbeitsplätze informiert sowie eine Reihe von Tests durchführt (2);

- danach durchlaufen die Bewerber ein umfangreiches Assessment-Center, bei dem es u.a. darum geht, die "Teamfähigkeit", die Problemlösungskapazität und die Belastbarkeit zu testen (3);

- es schließt sich ein Gespräch mit Verantwortlichen aus dem vorläufig in Be­tracht gezogenen künftigen Tätigkeitsbereich an (4);

- die nächste Stufe bildet die angesprochene Qualifizierungsmaßnahme selbst, die ein knappes Vierteljahr dauert (5);

- daran schließt sich dann die Aufnahme der eigentlichen Tätigkeit an (6).

Festzuhalten ist, daß das Verfahren nach jeder durchlaufenen Stufe durch den Kandidaten oder das Unternehmen abgebrochen werden kann.

Nun ist bereits die Komplexität des Verfahrens zweifellos aufsehenerregend, die umfassende Betreuung des Gesamtablaufs durch professionelle Kompetenz außergewöhnlich und die Durchführung umfassender "assessment center" für Produktionsarbeiter bislang wahrscheinlich ziemlich einzigartig. Aber aus der hier zur Debatte stehenden Perspektive ist die Tatsache, daß die Teilnehmer bis zum letzten Schritt des Gesamtprozesses keinen Arbeitsvertrag mit dem Unternehmen haben und über Leistungen nach dem A F G finanziert werden,

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weit bemerkenswerter. Das Unternehmen geht also gegenüber den Teilneh­mern während des gesamten Ablaufs nicht nur keine bindende Verpflichtung ein, es muß auch nicht für deren Unterhalt aufkommen.

Bislang war die Besetzung vergleichbarer Arbeitsplätze im Westen nach der "Vermittlung" (unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Einschaltung der Bun­desanstalt zustande kam) eine "unternehmensinterne" Angelegenheit. Selbstver­ständlich sind auch seit jeher Eignungstests üblich, an die sich eine - mehr oder weniger strukturierte - Einarbeitungsphase (mit Anleitung durch Unterneh­mensangehörige) anschließt. Ebenso selbstverständlich erfolgte die Einarbei­tung aber nach Abschluß eines Arbeitsvertrages und bei normaler Lohnzah­lung, was - bei Vorliegen der entsprechenden individuellen Voraussetzungen -die einzelfallbezogene Gewährung von Einarbeitungszuschüssen und anderen AFG-Leistungen nicht ausschließen muß. 4

Die skizzierte mehrstufige Prozedur dagegen wurde federführend vom Ar­beitskräfte suchenden Unternehmen konzipiert; sie orientiert sich primär an dessen Bedürfnissen und führt - obwohl das prinzipiell offen ist - in der weit überwiegenden Zahl der Fälle auch dazu, daß diejenigen Teilnehmer, die das Unternehmen übernehmen will, dort eine Beschäftigung aufnehmen. Die Kosten für die Durchführung der aufwendigen Qualifizierungsmaßnahme wer­den aber von der Arbeitsverwaltung getragen, die Teilnehmer erhalten Leistun­gen gemäß AFG, und zwar unabhängig davon, ob sie aus der Arbeitslosigkeit, aus einem Beschäftigungsverhältnis im Westen außerhalb des zumutbaren Tagespendelbereichs oder aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis in den NBL kommen. Letzteres führt wegen der durch die Maßnahme geschaffenen "günstigen Vermittlungschancen" nicht zu Sperrzeiten. Daß die Förderung ge­nutzt wird, um zugunsten der Beteiligung von sogenannten Problemgruppen des Arbeitsmarkts zu intervenieren, ist nicht bekannt geworden. Der Anteil der Frauen in den Maßnahmen wird auf unter 10% geschätzt, was damit begründet wird, daß bei einem Großteil der Arbeitsplätze Drei-Schicht-Arbeit gefordert wird.

Die Qualifizierungsmaßnahmen selbst werden durch eine Einrichtung "vor Ort" durchgeführt, die von einer gemeinnützigen "Tochter" des Automobilherstellers und einem Bildungswerk im Westen gegründet und von diesen Institutionen auch mit einer "personellen Erstausstattung" versehen wurde. Auf die Inhalte

4 Hinweise darauf, daß solche Instrumente bisher bei Einstellungen für Produktionsarbeitsplätze in der Automobilindustrie eine nennenswerte Rolle spielten, liegen aber bislang nicht vor.

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der Maßnahmen ist hier nicht im einzelnen einzugehen. Es gibt aber keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie nach modernen Gesichtspunkten konzipiert und geeignet sind, angemessen auf eine spätere Tätigkeit im Werk vorzube­reiten. Prinzipiell steht die Teilnahme an den Maßnahmen allen Interessenten offen - auch solchen, die die skizzierte Prozedur nicht durchlaufen haben. Außerdem wird betont, daß auch Teilnehmer, die mit dem Ziel eines Arbeits­platzes im Automobilwerk eingestiegen sind, die Qualifizierung letztlich für eine Tätigkeit anderswo nutzen können. Nun ist eine solche "Öffnung" sicher­lich schon aus fördertechnischen Gründen obligatorisch, sie wird aber nur in wenigen Einzelfällen auch tatsächlich von "Externen" genutzt (vorzugsweise bislang von ortsansässigen Zulieferern). Für das Gros der Teilnehmer aber führt die Qualifizierung ins Werk.

Betont wird weiter - und auch das ist nicht in Zweifel zu ziehen -, daß die Qualifizierung bei weitem nicht ausschließlich betriebsspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln solle, auch wenn explizit die Vermittlung der neuen "Firmenphilosophie" einen besonderen Stellenwert hat. Schon die Tatsache aber, daß das Konzept vom Automobilhersteller entwickelt wurde und seine Umsetzung maßgeblich durch Akteure aus seinem Umfeld erfolgt, spricht dafür, daß dessen Bedingungen und Interessen optimal berücksichtigt werden. Dafür spricht aber vor allen Dingen, daß die Teilnehmer mehr als 80% der Maßnahmedauer an den Produktionsarbeitsplätzen im Werk selbst verbringen, was - durchaus plausibel - mit der erforderlichen Praxisnähe begründet wird. Ob und wieweit das übrige Fünftel der Zeit, das in der Bildungseinrichtung stattfindet, angesichts deren Konstruktion und personellen Ausstattung als völ­lig frei von Interessengebundenheit zu betrachten ist, kann hier nicht abschlie­ßend beantwortet werden.

3. Einige vorläufige Schlußfolgerungen

Warum nun die Darstellung dieses Qualifizierungsmodells? Es soll nicht dazu herhalten, eine pauschale Kritik an der Förderpolitik der Bundesanstalt zu for­mulieren, vielmehr ist - wie anfänglich bereits angedeutet - zu konzedieren, daß die Ausnahmesituation im Beitrittsgebiet besondere Flexibilität erfordert haben mag. Möglicherweise rechtfertigt auch die Qualität der geförderten Maß­nahmen sowie die Bedeutung des Investitionsvorhabens eine großzügige Hand­habung des AFG-Instrumentariums. Daß etwas Vergleichbares bis dahin im

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Westen kaum denkbar gewesen wäre bzw. zumindest intensive Debatten über "Mitnahmeeffekte" ausgelöst hätte, sei - angesichts von bis ins Jahr 1979 zu­rückreichenden - Erfahrungen des Autors mit der Behandlung dieser Probleme der Vollständigkeit halber immerhin erwähnt.5 Ebenso sei am Rande die Ver­mutung geäußert, daß eine weniger generöse Handhabung weder zur substan­tiellen Gefährdung des Gesamtvorhabens, noch auch nur zu einem Verzicht auf eine Qualifizierung der neuen Belegschaft geführt haben dürfte, denn das "Mutterunternehmen" konnte - in der fraglichen Zeit zumal - nicht gerade als Prototyp eines notleidenden Unternehmens angesehen werden.

Konstatiert werden soll aber ausdrücklich, daß die geschilderte Konstellation für den Automobilhersteller als außerordentlich attraktiv angesehen werden kann, verbindet sie doch die Chancen einer sehr sorgfältigen Personalauswahl und einer zielgerichteten Qualifizierung mit effektiven Möglichkeiten der Steuerung des zeitlichen Ablaufes und guten Chancen einer zumindest infor­mellen Bindung der Arbeitskräfte an das Unternehmen. Daß dies alles mit der Möglichkeit einer weitgehenden Entlastung von den anfallenden Kosten kom­biniert ist und auch noch die Chance damit einhergeht, als Unternehmen bei­spielhaft "schlank" zu bleiben und eine entsprechend günstige Position im Kon­zernverbund zu erreichen, kommt als wesentliches weiteres Positivum hinzu.

Die im hier diskutierten Zusammenhang entscheidende Frage ist - und hier schließt sich der Kreis zu den eingangs vorgestellten Überlegungen - ob die Förderpraxis dazu beiträgt, Tendenzen zu einer "Entbetrieblichung" der Quali­fizierung zu fördern. Wenn man die Schlußfolgerung teilt, daß dies zumindest so sein kann, schließen sich Fragen an, wie dieser Sachverhalt - insbesondere aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive - zu bewerten ist bzw. welche Ansatz­punkte es gibt, um den Trend in eine aus der Sicht des Arbeitsmarkts wünsch­bare Richtung zu lenken.

Unterstellt man einmal als gegeben (und einiges spricht für diese Annahme), daß es nicht möglich oder erwünscht ist, die umfassende Verantwortlichkeit der Unternehmen insbesondere für die Qualifizierung neben und nach der Erstaus­bildung aufrechtzuerhalten, so macht es durchaus Sinn, hier mit öffentlicher

5 Vgl. Mendius, Hans Gerhard; Sengenberger, Werner; Köhler, Christoph; Maase, Mira: Qualifi­zierung im Betrieb als Instrument der öffentlichen Arbeitsmarktpolitik - Begleitforschung zum Schwerpunkt 1 des Arbeitsmarktpolitischen Programms der Bundesregierung für Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen, Forschungsbericht 89. Hrsg. vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1983; Mendius, Hans Gerhard: Forderung betrieblicher Qualifizierungsmaßnahmen - Voraussetzungen, Probleme und erreichbare Effekte. In: Nieder­sächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (Hrsg.): Aus- und Weiterbildung -Orientierungsversuche aus ökonomischer Sicht, Hannover 1986, S. 59-86.

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Förderung anzusetzen. Sie müßte darauf ausgerichtet sein sicherzustellen, daß bei Maßnahmen des diskutierten Typs dem Dualen System der Erstausbildung vergleichbare öffentliche Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden und die Ausrichtung der Qualifizierung nicht ausschließlich nach be-triebs- bzw. unternehmensspezifischen Kriterien erfolgt. Vielmehr hätte sie nicht zuletzt den Aspekt der Förderung der Funktionsfähigkeit des Gesamt-arbeitsmarkts einzubeziehen.6 Ein solcher Ansatz sollte aber alles tun, um bei der Durchführung der Maßnahmen selbst den in den Unternehmen (und z.T. nur dort) vorhandenen umfassenden Sachverstand weiterhin bestmöglich zu nutzen.

Welche Voraussetzungen dazu im einzelnen zu schaffen wären und welche Mindestanforderungen man an die Förderwürdigkeit maßgeblich durch ein potentielles "Abnehmerunternehmen" gestalteter, aber "betriebsexterner" Qua­lifizierungsmaßnahmen zu richten hätte usw., läßt sich zweifellos nur in Abhän­gigkeit von den jeweiligen spezifischen Bedingungen ermitteln und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Abschließend sollen aber noch ein paar Hinweise geben werden, in welche Richtung sich eine derartige Qualifizierungsförderung orientieren könnte bzw. welche Probleme dabei im Auge zu behalten wären.

Selbstverständlich wäre dabei die Sicherstellung der Zugänglichkeit unabhängig von der Festlegung auf eine Beschäftigung im "Leitunternehmen" ebenso wich­tig wie die Möglichkeit, die Qualifikation (auch und gerade wenn die Maß­nahme nicht zuletzt "vor Ort", d.h. an Arbeitsplätzen und unter möglichst reali­stischen Alltagsbedingungen, stattfindet) auch anderweitig zu nutzen (d.h. u.a. Zertifizierung). Da es zu diesen Aspekten aber seit längerem ausführliche Dis­kussionen und umfassende Analysen gibt, sei hier dieser Punkt folgendermaßen kondensiert: Die Förderwürdigkeit von Maßnahmen des behandelten Typs ist um so niedriger anzusehen, je höher die Finanzkraft und der Arbeitskräfte­bedarf des "Leitunternehmens" ist, je größer die Anteile an betriebsspezifischer

6 Ansatzpunkte zur Schaffung solcher übergreifend anerkannter Fortbildungsabschlüsse (im Sinne es § 46.2 BIBG) gibt es. Zu erwähnen ist etwa eine Initiative im Bereich des Kfz-Handwerks, mit dem "Kfz-Service-Techniker eine zusätzliche Qualifikationsstufe zu schaffen. Dabei handelt es sich um einen Weiterbildungsgang, der von überbetrieblichen Berufsbildungszentren des Hand­werks, aber auch von Kundendienstschulen der Automobilhersteller (darunter auch das in diesem Beitrag diskutierte Unternehmen) angeboten wird. Das ist insofern bemerkenswert, als diese Kundendienstschulen bislang (und in breitem Umfang) ausschließlich markenspezifisch ausgerichtete Qualifizierungsgänge (mit entsprechenden internen Zertifikaten) anboten, wäh­rend jetzt dort erstmals übergreifend anerkannte, arbeitsmarktgängige Abschlüsse erworben werden können (vgl. Mendius, H.G., unter Mitarbeit von Heidling, E . und Weimer, S.: Kfz-Ge-werbe und Neustrukturierung der Automobilfertigung - Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zwischenbetriebliche Kooperation als Instrumente der Stärkung der betrieblichen Handlungsfähigkeit und der Arbeitsmarktposition. Arbeitspapier 1992-6, Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF), Gelsenkirchen 1992, S. 98 ff.

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Qualifizierung sind und je weniger man bereit ist, die Personalauswahlpolitik zugunsten benachteiligter Arbeitsmarktgruppen korrigieren zu lassen. Anderer­seits steigt die Förderwürdigkeit, je niedriger die Fähigkeit zur Selbstfinanzie­rung anzusetzen und je höher die Bereitschaft ist, für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren (und damit auch den Anteil nicht betriebsspezifischer, arbeitsmarktgängiger Qualifikationskomponenten zu erhöhen), sowie beson­ders darauf angewiesene Arbeitskräfte gezielt zu berücksichtigen.

In diesem Zusammenhang sei zumindest kurz darauf verwiesen, daß eine Ver­lagerung von Ausbildungskosten auf öffentliche Haushalte immer auch eine Komponente der Umverteilung zwischen Einkommen aus selbständiger und abhängiger Arbeit enthält: Wenn an die Stelle einer Finanzierung durch die Unternehmen eine Finanzierung aus von beiden Seiten zu gleichen Teilen er­brachten Beiträgen tritt, bedeutet das eine Umverteilung zuungunsten der Ar­beitnehmerseite: Die Lohnquote sinkt, zwar nicht nominell, aber real dadurch, daß aus AN-Anteilen zunehmend sonst von der Arbeitgeberseite alleine getra­gene Kosten finanziert werden, was - ceteris paribus - zu höheren Beitrags­sätzen als den sonst erforderlichen führen muß. Möglicherweise wird darin ein leichter gangbarer Weg gesehen, den Herausforderungen der Welt­marktkonkurrenz und der "Lean Production" zu entsprechen: Günstigere (Produktions-)Kosten nämlich nicht vor allem dadurch zu erreichen, daß die Produktivität durch bessere Mobilisierung der Qualifikationspotentiale der Be­legschaften gesteigert wird - eine Option, die neuerdings immerhin breiter dis­kutiert wird -, aber auch nicht dadurch, daß eine Kostenentlastung bei den Un­ternehmen durch direkte Abstriche bei Arbeitnehmereinkommen oder Sozial­leistungen erfolgt (derzeit stark propagiert), sondern dadurch, daß bisher von den Unternehmen getragene Aufgaben ganz oder teilweise öffentlich und damit auch von den Arbeitnehmern - sei es über Sozialversicherungsbeiträge oder über Steuerfinanzierung - alimentiert werden. An den Verteilungseffekten än­dert das aber nichts.

Abschließend sei noch darauf verwiesen, daß mit der Auslagerung von Qualifi­zierungsmaßnahmen aus den Unternehmen und der Kostenübernahme durch öffentliche Haushalte aber auch weitere Wirkungen ausgelöst bzw. unterstützt werden, die ihrerseits durchaus wiederum arbeitsmarktpolitische Folgen zeiti­gen können. Maßnahmen des skizzierten Typs wirken sich z.B. nachhaltig auf die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten auf der einen und auf die Mög­lichkeiten der Teilnehmer, ihre Interessen wahrzunehmen, auf der anderen Seite aus: Betriebliche Weiterbildung ist ein Bereich, in dem die Betriebsräte

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die gleichen Mitbestimmungsrechte haben wie bei der Erstausbildung. Die Verlagerung von Qualifizierungsmaßnahmen aus dem Zuständigkeitsbereich der betrieblichen Arbeitnehmervertretung tangiert den hier interessierenden Kontext nicht zuletzt deshalb, weil es gerade Betriebsräte waren, die versucht haben, ihren Einfluß in Richtung auf eine "arbeitsmarktfreundlichere" Ge­staltung von Weiterbildungsmaßnahmen im Unternehmen geltend zu machen.

Aber auch für die Teilnehmer selbst ergeben sich bei einer Externalisierung Verschlechterungen gegenüber einer Durchführung im Unternehmen und im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Daß die Ungewißheit, ob man letztlich eine Beschäftigung findet, bis zum Schluß des Verfahrens aufrechterhalten wird, wurde bereits erwähnt. Aber auch bezüglich ihrer Arbeitnehmerrechte gibt es substantielle Nachteile: Da der Großteil der Maßnahmendauer zwar im Unter­nehmen verbracht wird, die Teilnehmer dort aber nicht beschäftigt sind, können sie ihre Interessen nicht oder nur sehr eingeschränkt durch den dortigen Betriebsrat vertreten lassen. Mögliche Hilfskonstruktionen wie "Lehrgangssprecher" o.a. können allenfalls als sehr bedingter Ersatz angesehen werden. Auf einen weiteren Aspekt ist zumindest kurz hinzuweisen: Angesichts des großen Arbeitskraftüberschusses in den neuen Bundesländern kann die Förderung solcher Maßnahmen für Erwachsene, die in der Regel bereits eine Ausbildung durchlaufen haben, in Konkurrenz zur Erstausbildung geraten. Aus Sicht der Unternehmen könnte es sich (auch jüngere Fachkräfte sind in erheblicher Zahl verfügbar) für eine längere Phase als attraktiver darstellen, den entsprechenden Personalbedarf über derartige Weiterqualifizierung abzudecken, anstatt dazu Erstausbildungsgänge durchzuführen.

Solche perspektivisch weiterzuverfolgenden Fragen lassen sich im Rahmen eines solchen Beitrags nur anreißen mit dem Ziel, einen Anstoß zu einer Dis­kussion darüber zu liefern, wie - u.a. durch den gezielten Einsatz öffentlicher Mittel - der wichtige Bereich der (Weiter-)Qualifizierung gefördert werden kann, und zwar in einer Weise, die die Vorteile des "Lernorts Betrieb" und des Einsatzes betriebsnaher Lehrkräfte mit einer Form der Vermittlung moderner Qualifikationen verbindet, die legitimen betriebsspezifischen Anforderungen gerecht wird, vor allem aber auch die notwendige Arbeitsmarktgängigkeit sicherstellt.

7 Daß bei der praktischen Wahrnehmung dieser Rechte gerade in kleineren und mittleren Unter­nehmen, aber bei weitem nicht nur dort erhebliche Defizite bestehen, wurde verschiedentlich (u.a. auch im Rahmen von im ISF durchgeführten Vorhaben, s.o.) herausgearbeitet - ändert aber nichts an diesem Sachverhalt.

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Wolfgang Zeller

"Jenseits der Talsohle - Überlegungen zu einem Konzept zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung in Sachsen"

Die Durchführung einer Tagung zu diesem Problem ist gerade in einer Situa­tion wie sie derzeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere in den neuen Ländern, herrscht, besonders wichtig. Es ist erforderlich, das häufige vorherrschende Krisenmanagement mit systematischen Lösungen für die wissenschaftliche Durchdringung entscheidender Fragen zu verbinden.

In den neuen Ländern, so auch im Freistaat Sachsen, gibt es viel Arbeit, aber zugleich ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit. Die Bewältigung des Strukturum­bruchs läßt nicht nur diesen Widerspruch, sondern u.a. viele damit verbundene Fragen sehr deutlich werden.

Arbeitslosigkeit ist ein europäisches Problem geworden. 17 Millionen Men­schen, d.h. jeder zehnte Europäer ist arbeitslos. Es ist nicht die Arbeit an sich knapper geworden, sondern die Arbeit, deren Ergebnisse bezahlbar und wett­bewerbsfähig sind. Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolgs geworden: Immer weniger Menschen können immer mehr produzieren.

Im Osten fehlen Arbeitsplätze in bedrückenden Größenordnungen. Allein in Sachsen gab es im Oktober 1993

- 327 587 Arbeitslose, - 46 253 Kurzarbeiter - 48 108 Beschäftigte in A B M , - 101 557 Teilnehmer in FuU,ca. - 47 770 Pendler in die alten Länder, ein monatliches Wanderungssaldo zwischen Sachsen und dem Bundesgebiet West von ca. - 1 500 Personen im arbeitsfähigen Alter - 251 851 Empfänger von Vorruhestandsgeld bzw. Altersübergangsgeld.

Bedenklich stimmt besonders auch die Tatsache, daß 67,2 % aller Arbeitslosen Frauen sind. Im Oktober 1993 gab es also ca. 868 000 Arbeitslose oder im Vor-

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ruhestand befindliche Personen, die vor der Wende in Arbeit waren. Und das in einem Land, dessen Menschen ganz anders als im Westen auf ihre Betriebe fokussieren waren. Permament stellen wir uns die Frage, worin in der Beschäftigungspolitik unser Ziel besteht. Es soll hier nur auf folgende Möglich­keiten verwiesen werden:

Ist es die Vollbeschäftigung a la DDR? Ist es eine Beschäftigungspolitik bei Wirtschaftswachstum und hoher Produkti­vität? Ist es eine Beschäftigungspolitik bei offenen Grenzen? Ist es eine Beschäftigungspolitik, der unser jetziger Begriff von bezahlter Arbeit zugrunde liegt? Oder geht es zunächst darum, einen den alten Ländern ver­gleichbaren Beschäftigungsstand zu erreichen und welche Folgen hat das für die in 40 Jahren in Sachsen gewachsenen Strukturen? Wie steht die Frage im Westen Deutschlands? Nach längeren Zeiten steigender Erwerbstätigenzahlen steigt die Arbeitslosigkeit. Rezessive Erscheinungen, Kurzarbeit lassen bisher verdrängte Fragen wieder in den Vordergrund treten.

Wenn man die Diskussionen zur Beschäftigung etwas verfolgt, so ergibt sich für mich eine weitere Frage: Kann diese Aufgabe in einer von Partikularinteressen bestimmten Gesellschaft überhaupt gelöst werden?

Das Vollbeschäftigungsziel ist eine von vier Komponenten der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland, wie sie im "Gesetz zur Förde­rung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" von 1967 festgeschrieben worden sind. So haben Bund und Länder ihre Maßnahmen so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und zu außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen. In die sächsische Verfassung haben wir die Verpflichtung verankert, das Recht auf Arbeit möglichst zu verwirklichen.

Und schließlich: Können wir am Dogma des wirtschaftlichen Wachstums um jeden Preis festhalten, um Vollbeschäftigung erreichen zu können?

Eines ist zunächst festzustellen: Eine Vollbeschäftigung dergestalt, daß gar keine Arbeitslosen zu registrieren waren, gab es in der Geschichte der Bundes­republik Deutschland zu keinem Zeitpunkt. Die niedrigste Arbeitslosigkeit wurde 1965 registriert, als jahresdurchschnittlich 147 352 Arbeitnehmer ohne

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Beschäftigung waren. Das entsprach einem Anteil von 0,7 % an allen beschäf­tigten Arbeitnehmern.

Was bedeutet nun Vollbeschäftigung in Sachsen? Festzustellen ist, daß es eine Vollbeschäftigung auf dem Territorium des heutigen Freistaates Sachsen auch in DDR-Zeiten nie gegeben hat. Als föderaler Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland existiert der Freistaat erst seit 1990 und wurde als solcher inmitten einer Phase gegründet, in der die tatsächliche Dimension des ruinösen Zustan-des der ehemaligen DDR-Kommandowirtschaft erst richtig deutlich geworden war. In der ehemaligen DDR wurde dem äußeren Anschein nach das Ziel der absoluten Vollbeschäftigung und damit die Umsetzung des in der Verfassung festgeschriebenen Rechts auf Arbeit verwirklicht. Das vorgebliche Erreichen dieses Idealziels wurde mancherorts auch in der alten Bundesrepublik als nach­ahmenswerte Errungenschaft gepriesen. Daß es sich bei dieser Art von Vollbe­schäftigung in vieler Hinsicht um eine Scheinbeschäftigung handelte, hinter der sich eine verdeckte Arbeitslosigkeit verbarg, wird dabei nicht immer deutlich genug ausgesprochen. Dieses System stand bereits einige Zeit vor der Wende von 1989 in ökonomischer Hinsicht vor dem Zusammenbruch. Wer von einer Vollbeschäftigung in Sachsen spricht, muß realistischerweise hinzufügen, daß er damit nur die Aufrechterhaltung eines möglichst hohen Beschäftigungstandes meinen kann.

Es gilt, die Umbruchsituation zu berücksichtigen und gleichzeitig kurzfristige sowie aber auch mittelfristige Entwicklungen im Auge zu behalten, wie sie un­abhängig von den Transformationsprozessen im Osten Deutschlands zu erwar­ten sind. Die Situation der nächsten Jahre ist von einem Überangebot von Ar­beitskräften geprägt, das in sich jedoch nicht als homogen zu bezeichnen ist. So zeichnet sich tendentiell ab, daß es trotz eines generellen Arbeitskräfteüber­schusses regional zu einem Mangel von Arbeitskräften bestimmter Qualifika­tionen kommen wird. Überschuß und Knappheit können somit in mancher Hinsicht parallele Erscheinungen werden. Der zielgerichteten Qualifikation von Arbeitnehmern wie Arbeitslosen kommt daher eine zentrale Bedeutung zu.

Auf der anderen Seite muß bereits jetzt folgende Entwicklung berücksichtigt werden: Bereits ab dem Jahr 2000 wird es in Deutschland mehr Menschen zwi­schen 50 und 65 als zwischen 30 und 40 Jahren geben. Diese demographische Entwicklung spielt bereits jetzt in den Diskussionen zur Sicherung der sozialen Systeme in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle und offenbart ein Di­lemma, das die Politik vor zusätzliche schwere Herausforderungen stellt: Es ist auf der einen Seite naheliegend, im Hinblick auf die Bewältigung der Ar-

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beitslosigkeit unter anderem über eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit nach­zudenken. Gleichzeitig jedoch rückt die Forderung nach einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit immer stärker in den Vordergrund, um die Sicherheit der Renten für die zunehmende Zahl älterer Mitbürger in Deutschland auch in Zu­kunft zu garantieren.

Der kontinuierliche Rückgang der Bevölkerung aufgrund der geringen Gebur­tenrate wird nach dem Jahr 2010 ein deutlich geringeres Arbeitskräfteangebot zur Folge haben. Für Sachsen rechnen wir bis zum Jahr 2000 mit einem Bevölkerungsrückgang auf mindestens 4,3 Mio. Wenn angesichts dieser Ent­wicklungen für die mittelfristige Zukunft von der Notwendigkeit einer kontrol­lierten Zuwanderung aus dem Ausland nach Deutschland gesprochen wird, um auch weiterhin die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft aufrechterhalten zu kön­nen, ergeben sich hieraus weiter Diskussionsfelder.

Es geht also in eine Phase, die noch mehrere Jahre anhalten wird, in der sich die Ausgangsbedingungen sehr rasch ändern werden. Dafür gilt es auch aus arbeitsmarktpolitischer Sicht Grundprinzipien unseres Wirtschaftssystems zu hinterfragen, vor allem in Hinblick auf deren Tauglich­keit zur Lösung derzeit vorhandener Probleme. So ist die Frage zu stellen, ob sich die Arbeitsmarktprobleme über die Herstellung eines hohen wirtschaft­lichen Wachstums lösen lassen und ob dieses Wachstum perspektivisch über­haupt als sinnvoll erachtet werden kann. In den alten Bundesländern wurde in den 80er Jahren davon ausgegangen, daß ein reales Wirtschaftswachstum von mindestens 5 % über Jahre hinweg erforderlich gewesen wäre, um die Arbeits­losigkeit abzubauen und eine weitgehende Vollbeschäftigung zu erreichen. Auch in den Phasen des konjunkturellen Aufschwungs während der 80er Jahre mit Wachstumsraten, die zeitweilig 3,4 % erreichten, konnte die Zahl der Ar­beitslosen nicht unter 1,7 Mio Personen gedrückt werden.

Für die neuen Bundesländer gaben Prof. Herbert Henzler und Dr. Lothar Späth im Oktober 1992 sogar folgende Prognose ab:

"Selbst wenn es gelingen würde, ein zweites Wirtschaftswunder mit einem durchschnittlichen realen Wachstum von 8 % wie in den 50er Jahren zu errei­chen, würde es über 20 Jahre dauern, bis der wirtschaftliche Gleichstand zwi­schen neuen und alten Bundesländern erreicht wäre. Um eine Angleichung bis zum Jahre 2000 zu erreichen, müßte es uns sogar gelingen, in den neuen Bun­desländern ein durchschnittliches reales Wachstum von rd. 18 %, und damit

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mehr als das Doppelte wie in besten Erhardschen Zeiten zu erreichen." Wachstum war aber nicht Ziel der Erhardschen Politik, sondern deren Folge.

Mit Wachstum allein wird es also nicht möglich sein, umfassende Beschäfti­gung im Freistaat Sachsen zu erreichen.

Die Beschäftigungsquote im Osten Deutschlands wird sich nach Aufbau einer modernen Wirtschaft bei etwa 65% einpegeln. In Sachsen beträgt sie derzeit 50%. Es gibt kaum ein Industriegebiet, das mehr als 2/3 der Menschen im er­werbsfähigen Alter beschäftigen kann. In der DDR lag die Beschäftigung for­mal bei 90%. Einzige Einkommensquelle: Arbeit. Der Westen hat weitere Stärken: Vermögen, Sozialtransfers und Unternehmensgewinne. Die Ziel­funktion von Kapitalismus als auch Sozialismus besteht, wie Ministerpräsident Biedenkopf dargelegt hat, in der ständigen Vermehrung materieller Güter, und die Methoden zur Erreichung dieses Zieles sind verschieden. Der Methoden­streit ist mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft ent­schieden worden. Was bleibt, ist eine wachsende Beunruhigung darüber, ob eine materiell-expansionistische Wirtschaft zukunftsfähig ist. Dies muß wohl verneint werden, bedarf aber einer intensiveren politischen Diskussion als bis­lang beschehen.

Ich meine, ein neues Denken ist gefordert, welches sich direkt an den Worten unseres Bundespräsidenten "Teilung überwinden heißt Teilen lernen" orien­tieren muß.

Die Überweisung riesiger Transfersummen, zunehmend verbunden mit einer massiven Verschuldung, kann sicher nicht als "Teilen" bezeichnet werden, das uns langfristig weiterbringt. Es muß erlaubt sein, individuelles Anspruchs­denken und Gruppenegoismen und das damit verbundene Klientelsdenken in Wirtschaft und Politik kritisch zu hinterfragen. So kann es ganz einfach kein Tabuthema sein, den Leuten in Westdeutschland mit aller Klarheit zu sagen, daß die Zeiten ständig steigenden Wohlstands vorbei sind.

Es muß auch klar ausgesprochen werden dürfen, daß neue Formen der Ar­beitszeitgestaltung darauf hinauslaufen müssen, die vorhandene Arbeit auf einen breiteren Personenkreis zu verteilen, wobei das "Teilen" nur darin beste­hen kann, daß der einzelne auch einmal auf etwas verzichtet. Dies kann z.B. bedeuten, weniger zu arbeiten, jedoch auch weniger zu verdienen. Dies kann z.B. auch bedeuten, daß ein Teil der Lohnerhöhungen als Arbeitnehmer­beteiligung im Betrieb bleibt. Darüber denken wir intensiv nach und rufen die

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Gewerkschaften auf, ihre reservierte Haltung gegenüber einer Diskussion über die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen aufzugeben.

Aktive Arbeitsmarktpolitik ist in den neuen Ländern auf ein bisher nicht be­kanntes Niveau ausgeweitet worden. Über § 249 h kommt Bewegung ins er­starrte AFG, wobei nun die passiven Lohnersatzleistungen in die aktive Unter­stützung von produktiver Beschäftigung umgewandelt werden. Zu den wir­kungsvollsten Instrumentarien unserer Arbeitsmarktpolitik gehören die Be­schäftigungsgesellschaften, die ABSen, die wir in einem institutionalisierenden Rahmen zusammengefaßt und organisiert haben: Als Dachorganisation fun­giert die Aufbauwerk im Freistaat Sachsen GmbH, die von 5 Gesellschaftern gebildet wird und in 10 regionale Trägergesellschaften gegliedert ist. Gesell­schafter sind neben dem Freistaat Sachsen, die Gewerkschaften, Arbeitgeber­verbände und die Wirtschaft. In fast 100 Gesellschaften für Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung befinden sich derzeit durchschnittlich 360 Personen.

Beschäftigungsgesellschaften sollen sein:

- Rahmen und Stütze zur Bewältigung des notwendigen Strukturwandels und zur Gestaltung der Sozialverträglichkeit des Umbruchs

- Ausgangspunkt für Geschäftsideen und für unternehmerische Ausgründungen - "Übungswerkstatt" für den Übergang in die Selbständigkeit - "Qualifizierungsbrücke" bis zum Entstehen neuer Dauerarbeitsplätze bzw. bis

zum Erwerb eines Dauerarbeitsplatzes ("Zielorientierte ABS") - Basis zur Vorbereitung künftiger arbeitsmarktpolitisch notwendiger Struk­

turen

Beschäftigungsgesellschaften sollen nicht sein:

- Aufbewahrungsanstalt für alte Strukturen - Auffangstelle für ältere wenig qualifizierte oder sozial schwache Arbeit­

nehmer. Für diese Gruppen müssen maßgeschneiderte gesonderte Pro­gramme dienen.

- staatliche Pflichtübung zur Sicherung des genanntem Rechts auf Arbeit

Unser Ziel ist es auch, Ausgründungen voranzutreiben, damit nach einer Auf­fangphase und der Phase einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung, die Be-

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schäftigungsgesellschaft zu dem wird, was sie nach unserem Verständnis sein soll. Jedoch gibt es Probleme: keine beleihbaren Gebühren, keine Kredite, zu wenig know how.

Wir werden uns deshalb in der nächsten Zeit verstärkt dieser Frage zuwenden. Wir erleben in den neuen Ländern einen Strukturwandel im gestrafften Tempo. Wir erleben den Umbau einer Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsge­sellschaft. Dennoch ist es zu kurz gegriffen, von Deindustriealisierung zu spre­chen, da trotz eines enormen Beschäftigungsabbaus beispielsweise Ende 1991 zu Ende 1992 in Sachsen der Industrieumsatz gleichgeblieben ist. Sachsen be­treibt nicht nur Arbeitsmarkt-, sondern auch Industriepolitik, ja verknüpft bei­des. Das muß in einem Land geschehen, das praktisch einen Gesamtkonkurs abwickeln muß, der durch die Wende nun zum Ausdruck kam. Das muß aber auch ein Land tun mit rund 500 km EG-Außengrenze ohne Mauern. Ein Land, das an Länder grenzt, die deswegen billige Löhne anbieten können, weil weder die soziale Sicherheit noch der Arbeitsschutz noch der Umweltschutz geeignete Beachtung finden. Auch dieses Thema müßte stärker ins Bewußtsein der­jenigen Käufer rücken, die gern dort ihren billigen Einkauf tätigen.

Das bedeutendste Instrumentarium unserer Industriepolitik ist ATLAS. Damit wollen wir die Situation der Industrie und der Arbeitsmarktlage deutlich ver­bessern. Das Projekt ATLAS basiert auf einer Absprache des Sächsischen Staatsministers für Wirtschaft und Arbeit, Dr. Kajo Schommer, und der Präsi­dentin der Treuhandanstalt, Birgit Breuel, über die Modernisierung von Treuhandunternehmen. Im wesentlichen wurde in der im April 1992 getrof­fenen Absprache folgendes festgelegt:

1. Die Treuhandanstalt ist bereit, bestimmten, von der Sächsischen Staatsregie­rung als regional bedeutsam eingestuften, Unternehmen den für eine Modernisierung notwendigen Spielraum unternehmerisch und finanziell ein­zuräumen. Dies auch dann, wenn die Umsetzung des Modernisierungskon­zeptes einen mehrjährigen Zeitraum in Anspruch nehmen sollte.

2. Die Staatsregierung ist ihrerseits bereit, die Modernisierung dieser Treu­handunternehmen mit ihrem Förderinstrumentarium zu unterstützen.

Wegen der Begrenztheit der ihr zur Verfügung stehenden Mittel kann die Staatsregierung nicht alle Treuhandunternehmen fördern, die das Potential haben, sich zu wettbewerbsfähigen Unternehmen zu entwickeln. Sie kann des­halb im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel nur Treuhandunter­nehmen fördern, die folgende Merkmale haben:

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Das bislang nicht privatisierte Unternehmen ist von regionaler Bedeutung und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens ist innerhalb einer vertretbaren Frist mit vertretbaren Mitteln erreichbar. Mit diesen Förderprämissen sind zwei wesentlichen Aufgaben von ATLAS vorgegeben: ATLAS erfaßt die Treu­handunternehmen mit regionaler Bedeutung. ATLAS macht sich ein eigenes Bild von der Sanierungsfähigkeit dieser Unternehmen.

ATLAS verschafft sich also von den regional bedeutsamen Unternehmen einen Eindruck, unabhängig davon, wie diese Unternehmen bisher von der Treu­handanstalt bewertet wurden. ATLAS erörtert dann mit der Treuhandanstalt die Situation dieser Unternehmen und deren Chancen, sich zu wettbewerbs­fähigen Unternehmen zu entwickeln. Dabei wird ein Konsens in der Sanie­rungsfrage angestrebt.

Bisherige Arbeit von ATLAS (Stand 1 Juni 1993)

1. Von ATLAS wurden 179 Unternehmen mit ca. 52.000 Mitarbeitern als re­gional bedeutsam für Sachsen eingestuft. Der Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit, Herr Dr. Schommer, hat diese Unternehmen der Treuhand­anstalt gemeldet.

2. Von diesen 179 Unternehmen sind bisher - 56 Unternehmen privatisiert worden - zum Teil mit tatkräftiger Unterstützung

von ATLAS; sieben stehen kurz vor der Privatisierung; - 62 Unternehmen in Verhandlungen mit Branchendirektoraten und den Nie­

derlassungen in Sachsen von der Treuhandanstalt als sanierungsfähig einge­stuft worden;

- 22 Unternehmen in Liquidation: ATLAS kümmert sich auch um Unterneh­men, die bereits in Liquidation sind, in denen sich aber neue, sinnvolle Mög­lichkeiten der Privatisierung und Modernisierung ergeben;

- 32 Unternehmen, bei denen die Treuhandanstalt derzeit die Entscheidung vorbereitet hinsichtlich Sanierungsfähigkeit oder Abwicklung: ATLAS über­prüft in diesen strittigen Fällen die Unternehmenskonzepte umfassend und entwickelt gegebenenfalls Alternativen zur Treuhand-Planung;

3. Basis für die Unternehmenssanierung und Förderung durch das Land Sach­sen ist ein ausgereiftes Sanierungskonzept in dem insbesondere die Sanie­rungsziele, der Sanierungszeitraum und die Sanierungsschritte festgehalten werden. ATLAS überprüft derzeit die vorliegenden Konzepte insbesondere

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der 62 Unternehmen, die von der Treuhandanstalt als sanierungsfähig einge­stuft werden, daraufhin und unterstützt die Geschäftsführungen und Be­triebsräte bei der Konkretisierung und Vervollständigung der Unterneh­menskonzepte und den daraus sich ergebenden Förderanträgen.

4. Die Arbeit der ATLAS-Unternehmensbeauftragten zeigt, daß zunächst in keinem der von der THA als sanierungsfähig eingestuften Unternehmen ein aktuelles Unternehmenskonzept vorgelegen ist, das den Förderkriterien des Landes bzw. der Gemeinschaftsaufgabe entsprochen hätte. Die meisten Un­ternehmen verweisen auf ältere Konzepte und Förderanträge an das Land, die weit bis in das Jahr 1991 zurückgehen. Mit dem Einsatz der Unterneh­mensbeauftragten kann ATLAS jedoch inzwischen die Tragfähigkeit von 40 Unternehmenskonzepten bestätigen, die die Basis für positive Förderent­scheidungen bilden.

5. Von ATLAS werden auch Sanierungslösungen im regionalen oder sektora­len Verbund mehrerer Unternehmen ausgelotet. Das Erreichen internatio­naler Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung stehen im Mittelpunkt dieser Bemühungen um sächsische "strategische Allianzen" mit komplemen­tären Unternehmen. So wird derzeit zur Vorbereitung von Sanierungs­lösungen für den süd-/westsächsischen Maschinenbau ein eigenes profi­liertes Projektteam, begleitet vom Sächsischen Staatsministerium für Wirt­schaft und Arbeit und der Treuhandanstalt eingerichtet. Branchenbezogene Lösungen werden ebenfalls gesucht für den Textilmaschinenbau, den Wag­gonbau und für die sächsischen Gießereien.

6. In jüngster Zeit hat sich ATLAS auch um von der THA privatisierte Unter­nehmen gekümmert, die angesichts der konjunkturellen Situation in eine akute Liquidationsgefahr gekommen sind. Wir können davon ausgehen, daß sich diese Fälle in nächster Zeit eher mehren.

7. ATLAS bereitet derzeit die Begleitung der Sanierung von THA-Unterneh-men und einzelner geförderter, privatisierter Unternehmen vor (u.a. mit ATLAS-Controlling-System). ATLAS kontrolliert dabei die Realisierung des jeweiligen Unternehmenskonzepts und die Einhaltung von Prämis­sen/Auflagen, wie sie im Förderbescheid des Landes festgehalten sind.

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Frank Gerlach

Ansätze für eine innovative Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Sachsen - am Beispiel von ATLAS

Neue Institutionen in Sachsen

Wie in den anderen neuen Bundesländern brach auch in Sachsen nach der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion 1990 die Industrie breitflächig zusammen und stieg die Unterbeschäftigung - d.h. die offizielle Arbeitslosigkeit zuzüglich der Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit - auf eine Größen­ordnung von 40-50% an. In Reaktion auf diese dramatische Entwicklung wurden in Sachsen neue Institutionen aufgebaut, die der Deindustrialisierung und der Beschäftigungskatastrophe entgegensteuern sollten. Der Aufbau solcher Einrichtungen erwies sich als unumgänglich, als immer deutlicher wurde, daß die klassischen Institutionen und Instrumente, die aus West­deutschland auf die neuen Bundesländer "übertragen" worden waren, der Auf­gabe, den Prozeß der Transformation einer Plan- in eine Marktwirtschaft zu unterstützen, nicht gewachsen waren. Sie waren in einem ganz anderen histori­schen Kontext entstanden und sollte ursprünglich andere Zielvorstellungen re­alisieren. Beispielsweise sollte die 1969 aus der Taufe gehobene Gemein­schaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GA) der Verminderung regionaler Disparitäten in den alten Bundesländern dienen; in den neuen Bundesländern hingegen mauserte sie sich zu einem zentralen, flä­chendeckend eingesetzten Instrument der Wirtschaftsförderung, das dem wirt­schaftlichen Wiederaufstieg wichtige Impulse verleihen sollte. Ein solcher An­satz hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn in einer intakten Privatwirtschaft der take-off durch massive finanzielle Förderung zusätzlich stimuliert werden soll. Ohne eine Schicht von Unternehmern, ohne neue Produkte und Märkte, ohne ein relativ rasch erreichbares, niedrigeres Kostenniveau, war ein solcher Auf­schwung - zumindest in dem zentralen Bereich der Industrie - kurz- bzw. mit­telfristig nicht zu erreichen.

Die Grundannahmen einer traditionellen, aus Westdeutschland übernommenen Förderpolitik erwiesen sich folglich spätestens dann als fragwürdig, als immer

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deutlicher wurde, daß es in Sachsen (wie auch in den anderen neuen Bundes­ländern) zunächst weniger darum ging, investitionsbereiten Unternehmen und Unternehmern zusätzliche staatliche Unterstützung zu gewähren als vielmehr die Trümmer von (privatisierten oder noch in THA-Besitz befindlichen) ehe­maligen Staatsunternehmen zu stabilisieren.

Was für die GA gilt, trifft auch auf die anderen in Sachsen geschaffenen Insti­tutionen der Wirtschaftsförderung zu: Auch sie sind auf eine intakte Privat­wirtschaft bzw. auf die relativ schnelle Etablierung einer solchen angewiesen -Voraussetzungen, die sich in den Jahren 1991 und 92 mehr und mehr als brü­chig erwiesen.

Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wurde es ebenfalls relativ rasch deutlich, daß neue Instrumente und Institutionen gebraucht wurden, die der dramatisch anschwellenden Arbeitslosigkeit etwas entgegensetzen konnten, Die laut A F G zur Verfügung stehenden Mittel und Wege einer aktiven Arbeitsmarktpolitik waren als Ergänzung zum funktionierenden 1. Arbeitsmarkt gedacht und sollten im wesentlichen als "Brücke" zur Reintegration in eben diesen dienen. Wenn Arbeitslosigkeit aber nicht mehr nur ein mehr oder minder abgrenzbares Schicksal von "Problemgruppen" und damit gezielten Maßnahmen zugänglich ist, sondern zu einem dauerhaften Schicksal breiter Teile der Bevölkerung wird, dann können die Maßnahmen des A F G ohne komplementäre Maßnahmen bzw. Institutionen nicht greifen - wie die Erfahrung in den neuen Bundes­ländern zeigt. Dieses gilt zumindestens dann, wenn akzeptiert wird, daß eine dauerhafte Einrichtung eines 2. Arbeitsmarktes unumgänglich ist. Sowohl im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wie auch im Bereich der Struktur­politik werden deshalb neue Institutionen geschaffen, weil sich die Probleme derart verschärfen, daß sie mit den klassischen Institutionen der westdeutschen Wirtschaftsförderung bzw. Arbeitsmarktpolitik nicht mehr lösbar waren. Gemeint sind hiermit:

- die ab dem Frühjahr 1991 sukzessive gegründeten Gesellschaften zur Ar­beitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung (ABS), hierunter das ABS-Sondervermögen im Metall-Bereich mit seinen sechs Branchen­gesellschaften. Insbesondere das Ziel der Strukturentwicklung verdient, her­vorgehoben zu werden, soll doch in den ABS-Gesellschaften Struktur- und Arbeitsmarktpolitik innovativ verknüpft werden - z. B. bei der Sanierung von altindustriellem Gelände sowie bei Ausgründungsvorhaben. 1993 gab es in Sachsen nahezu 100 Beschäftigungsgesellschaften mit rund 35.000 Beschäf­tigten. Finanziert werden sie über AFG- , Landes- und Treuhandmittel sowie

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durch Eigeneinnahmen. Eine solche Mischfinanzierung erwies sich als not­wendig, da eine finanzielle Absicherung der ABS-Gesellschaften über das A F G nicht allein erfolgen konnte.

- das 1992 gegründete Aufbauwerk Sachsen (AWS), mit dem Land, der Treu­hand, der Dresdner Bank, Arbeitgebern und Gewerkschaften als Gesellschaf­tern, das im Verbund mit den regionalen Trägergesellschaften (TGR) der Konsolidierung, Koordination und Anleitung für die ABS-Gesellschaften die­nen soll. Das AWS soll die Umstrukturierung der Wirtschaft im Freistaat Sachsen unterstützen und diesen Prozeß für die betroffenen Arbeitnehmer sozialverträglich gestalten, In diesem Zusammenhang sind AWS und TGR auch als Träger von regionaler Strukturpolitik in dem Sinne anzusehen, daß sie bei der notwendigen Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik mitwirken sollen.

- das ATLAS-Projekt - eine Abkürzung für 'Ausgesuchte Treuhand­unternehmen, vom Land angemeldet zur Sanierung'. Das Projekt basiert auf einer Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit der T H A vom Frühjahr 1992. Danach kann das Land die Treuhandunternehmen benennen, die regional be­deutsam sind und die über ein Modernisierungskonzept verfügen, das ihnen eine begründete Aussicht auf eine betriebliche Stabilisierung bzw. Sanierung gibt. Die T H A ist bereit - im Falle des Konsens - den für die Modernisierung notwendigen Spielraum unternehmerisch und finanziell einzuräumen. Das Land Sachsen wird seinerseits die Sanierung - gedacht ist i . d. R. an eine mehrjährige Phase - zu den üblichen Konditionen finanziell fördern - eine Praxis, die es vorher bei THA-Unternehmen nicht gab.

ATLAS soll für Sachsen Industriepolitik initiieren, wobei Industriepolitik hier definiert wird als Einsatz staatlicher Förderinstrumente und staatlich veran-laßter Beratung zur Stabilisierung und Sanierung von Industriebetrieben - auf der Grundlage von regional- und branchenspezifischen Konzepten. ATLAS wurde im September 1992 aus der Taufe gehoben. Das ATLAS-Team besteht zum einen aus zwei Geschäftsführern und mehreren Unternehmens­beauftragten, die sich um einzelne, ihnen speziell zugeordnete Unternehmen kümmern sollen. Zum anderen gibt es einen Beratungskreis "Betriebliche Sa­nierung", in dem die Arbeitgeber und Gewerkschaften mitarbeiten. Dieser hat die Aufgabe, das ATLAS-Team bei der Entwicklung neuer Wege zur Errei­chung der Wettbewerbsfähigkeit regional bedeutsamer Unternehmen zu unter­stützen. Zum dritten wurde ein Beratungskreis "Region", in dem Landtags­abgeordnete aus dem Wirtschaftsausschuß bzw. Finanzausschuß vertreten sein

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sollten, eingerichtet. Dieser hat die Aufgabe ATLAS bei der Erfassung regional bedeutsamer Unternehmen beratend zu unterstützen. Er soll vor allem dem ATLAS-Team wichtige Informationen aus dem regionalen Umfeld der Unter­nehmen, aus anderen sächsischen Regionen und aus den Ausschüssen zugäng­lich machen. Im wesentlichen dient dieses Gremium der wechselseitigen Infor­mation. Nicht benannt wurden hingegen Regionalbeauftragte, die von den Ge­werkschaften gewollt waren und an der Schnittstelle von Region und Betrieb tätig sein sollten. Damit wurde eine wichtige institutionelle Voraussetzung für einen regionalen Bezug und für eine regionale Einbindung der Arbeit von ATLAS nicht hergestellt.

- das Programm "Arbeit und Technik in Sachsen" (ATS). Dieses Programm ist vorrangig auf Prozeßinnovation in den Betrieben orientiert und verfolgt einen integrativen Ansatz von arbeitsorientierter Gestaltung der Technik, von humanzentrierten Veränderungen der Arbeitsorganisation und Arbeits­situation sowie Formen partizipativen Managements. Die über den ATS fi­nanzierten Projekte sollen in eine abgestimmte Entwicklungsstrategie von Re­gionen bzw. Branchen eingebunden (z. B: Verbundprojekte mit regionalem bzw. Branchenbezug) und mit anderen Teilpolitiken verknüpft werden. Neben den in Sachsen seit längerem geltenden Förderprogramm zur Produkt­innovation stellt ATS sozusagen das Komplement dar - allerdings mit einem deutlichen Akzent auf der arbeitsorientierten Gestaltung der Produktions­prozesse. Insofern ist es nur konsequent, daß Betriebsräte eine Stellungnahme zu den Projektanträgen der Geschäftsführung verfassen müssen bzw. eigene Projektanträge stellen können. ATS ist relativ neu; Träger des Programms ist ein Verein, in dem Gewerkschaften und Wissenschaftler vertreten sind. Zur Zeit wird gerade der hauptamtliche Programmträger (Geschäftsführung und wissenschaftliche Mitarbeiter) aufgebaut.

Regionale Netzwerke als Entwicklungshelfer

Diese neuen Institutionen, die auf dem Felde der Arbeitsmarkt-, der Industrie-sowie der Technik- und Arbeitspolitik aktiv sein sollen, sind relativ rasch und pragmatisch aus dem Boden gestampft worden. Die Initiativen hierzu gingen keineswegs allein von staatlichen Stellen aus; vielmehr erfolgten entscheidende Impulse zu ihrem Aufbau maßgeblich von den Gewerkschaften, die vor Ort mit den Problemen des Arbeitsmarktes, der Deindustrialisierung sowie den

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Anpassungsschwierigkeiten der Betriebe an die Marktwirtschaft konfrontiert wurden. Wichtig ist allerdings, daß solche Vorstöße aufgegriffen und gemein­sam in die Tat umgesetzt wurden. Daß in dieser Weise verfahren wurde, liegt sicherlich an der personellen Konstellation in Sachsen mit einem Minister­präsidenten an der Spitze der Regierung, dem an der Erweiterung und Vertie­fung von Kooperation in den genannten Feldern gelegen ist. Entscheidend war jedoch, daß der Problemdruck nach der Vereinigung Deutschlands so gewaltig war, daß in der einen oder anderen Form reagiert werden mußte. In dieser Situation war die Einbeziehung der wichtigsten Interessengruppen, insbeson­dere der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände notwendig, um im Sinne einer möglichst breiten Konsensbildung die politisch wie wirtschaftlich nur schwer kalkulierbaren Konsequenzen des Übergangs in eine Markt­wirtschaft politisch, ökonomisch und sozial abzufedern

Es handelt sich also um typische korporatistische Arrangements, deren Sinn-haftigkeit insbesondere in einer zugespitzten Krisensituation kaum zu bestreiten ist: Ohne daß es den unter dem Druck der Ereignisse handelnden Akteuren vielleicht bewußt war, gibt es mittlerweile in der Wissenschaft eine ganze Reihe von Untersuchungen, die belegen, daß nicht marktmäßige Beziehungen zwischen (regionalen) Akteuren für das Erreichen eines take-off in den Regionen zentral sind . Beispielsweise hatten regionale Netzwerke in den USA bei der Restrukturierung von alten Industrieagglomerationen eine große Bedeutung. Unternehmensnetzwerke, aber auch die Existenz bzw. der Aufbau regionale spezifischer Institutionen, an denen die wichtigsten regionalen Akteure beteiligt waren, führten zu einer Neuausrichtung - etwa im Sinne einer flexiblen Spezialisierung - von Regionen.

ATLAS - Arbeitsweise und Erfolgsbilanz

Mittlerweile arbeiten die genannten Institutionen - ausgenommen das Pro­gramm ATS - eine geraume Zeit, so daß eine - wie auch immer vorläufige -Bewertung ihrer Arbeit möglich erscheint. Inwieweit haben sie tatsächlich auch Maßnahmen sowie durch den Aufbau bzw. die Stabilisierung von Netzwerken einen praktischen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Verbes­serung der Lage auf dem Arbeitsmarkt leisten können? Am Beispiel von ATLAS - zu den ABS-Gesellschaften und zum Aufbauwerk wird J. Riedel in seinem Beitrag Stellung beziehen - soll dieser Frage nachgegangen werden.

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ATLAS verdeutlicht Möglichkeiten und Grenzen eines pragmatischen indus­triepolitischen Ansatzes, der gleichzeitig immer - um politikfähig zu bleiben -kompromißhaft sein muß. Erklärtes Ziel der Gewerkschaften war ursprünglich eine Sächsische Industrieholding, in der mit staatlichem Mitteleinsatz und unter Staatsbeteiligung über einen längeren Zeitraum professionell Sanierungspolitik gemacht werden sollte. Hierdurch sollte eine unternehmerische Neuausrichtung der Betriebe erreicht werden, die mit neuen bzw. verbesserten Produkten, einer besseren Realkapitalausstattung und effektiverer Produktionsorganisation die Wettbewerbsfähigkeit herstellen sollten. Falls diese erreicht würde, stünde selbstverständlich einer Privatisierung nichts im Wege.

Wenn es auch zunächst die Gewerkschaften waren, die immer deutlicher eine sächsische Industrieholding forderten, so konnte sich doch die sächsische Lan­desregierung spätestens ab dem Zeitpunkt einer solchen Forderung nicht mehr verweigern, als das Fiasko einer THA-Politik mit der Priorität der Privati­sierung immer deutlicher wurde. Immerhin war spätestens in der zweiten Hälfte des Jahres 1992 kaum mehr zu verbergen, daß in Sachsen ganze Regio­nen in der Gefahr waren, dauerhaft ins Abseits zu geraten - ohne Industrie und mit hoher Arbeitslosigkeit. Ein stabiler wirtschaftlicher Wiederaufstieg wäre in einer solchen Situation äußerst unwahrscheinlich, da hierzu die eigene industri­elle Basis fehlte. Dennoch wurde die Sächsische Industrieholding A G - kurz SIAG genannt - nicht realisiert, da der Bund, der ja via Treuhand als Mitfinan­zier weiterhin im Boot sein sollte, sich weigerte, diesen Weg mitzugehen, Mög­licherweise hatte jedoch auch bei der Sächsischen Landesregierung die Furcht vor nur schwer kalkulierbaren finanziellen Risiken bei der Installierung einer Industrieholding ein größeres Gewicht als in der Öffentlichkeit eingeräumt -von sicher auch vorhandenen ordnungspolitischen Bedenken gegenüber einer "Staatsholding" ganz zu schweigen. Stattdessen wurde ATLAS installiert - ein Kompromiß zwischen dem Bund bzw. der THA und sächsischen Akteuren, also insbesondere dem Land und den Gewerkschaften.

ATLAS arbeitet nun seit 2 Jahren. Die Vorgehensweise ist kurzgefaßt als ein differenziertes Evaluationsverfahren und Bargainingkonzept zu umschreiben. ATLAS prüft - mit Hilfe seiner Unternehmensbeauftragten - die Sanierungs­fähigkeit der Unternehmen und benennt - in Absprache mit dem Beratungs­kreis "Betriebliche Sanierung" - Betriebe, die aus seiner Sicht sanierungsfähig und regional bedeutsam sind. Diese Betriebe werden vom Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit der THA gemeldet, mit der letztendlich Einvernehmen über Ziele, Wege und Dauer der Sanierung hergestellt werden muß.

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Die endgültige Entscheidung verbleibt jedoch bei dem Eigentümer, der THA -es sei denn der Freistaat ist im Falle eines Dissenses mit der T H A bereit, die finanziellen Risiken einer Sanierung allein zu tragen. Insofern besteht immer theoretisch die Gefahr, daß Unternehmen als sanierungsfähig von ATLAS ein­gestuft werden, ohne daß die entsprechenden finanziellen wie operativen Maß­nahmen erfolgen. Trotz dieser grundlegenden Probleme in der Konstruktion kann ATLAS durchaus Erfolge verzeichnen: Nach dem Arbeitsbericht von Ende Januar 1994 wurden 207 Unternehmen als regional bedeutsam für Sach­sen eingestuft und vom Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit der THA ge­meldet. Von diesen sind bisher 120 Unternehmen mit über 16.000 Mitarbeitern privatisiert worden - etwa die Hälfte von ihnen mit der Unterstützung von ATLAS. Inwieweit ohne die Aktivität von ATLAS in diesen Unternehmen die Privatisierung gescheitert wäre, muß offen bleiben. In jedem Fall spielt jedoch bei den Privatisierungsentscheidungen die THA die "erste Geige". Von den übrigen 87 Unternehmen mit 27.000 Mitarbeitern sind

-13 Unternehmen in Management KG's der T H A - 31 Unternehmen von der THA als sanierungsfähig eingestuft worden - 25 Unternehmen in einer Umstrukturierungsphase mit dem Ziel der Sanie­

rung und Privatisierung aus der Liquidation heraus - 18 Unternehmen, bei denen die THA die Entscheidung hinsichtlich Sanierung

oder Abwicklung vorbereitet. - In 60 Unternehmen bestand insofern ein Dissens, als die T H A der Meinung war, daß die Betriebe wegen ihrer schlechten Ausgangssituation keine Per­spektive hätten. In langwierigen Verhandlungen konnte jedoch erreicht werden, daß die THA die von ATLAS entwickelten Konzepte zur Stabili­sierung der Unternehmen zunächst mittrug. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Landmaschinenhersteller Fortschritt Erntemaschinen Neustadt.

In allen diesen Prozessen hat ATLAS eine nicht zu unterschätzende Rolle ge­spielt. Sowohl durch Erarbeitung von Sanierungskonzepten wie auch durch praktische Unterstützung der Betriebe konnte sicherlich der politische Druck in Richtung Sanierung verstärkt werden. Mit dem Einsatz der Unternehmens­beauftragten konnte ATLAS darüberhinaus die Tragfähigkeit von 63 Sanie­rungskonzepten bestätigen, die die Basis für positive Förderentscheidung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe bilden. Bis zu dem Zeitpunkt Ende Januar 1994 wurden 43 Anträge auf Förderung von Investitionen bewilligt, mit weite­ren Bewilligungsbescheiden in weiteren 23 Fällen ist mit positiven Förderbe­scheiden zu rechnen. Insgesamt sind für 49 Unternehmen (mit ca. 15.000 Mit­arbeitern) von der THA und ATLAS 66 positive Förderentscheidungen vorbe-

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reitet worden. Diese Unternehmen werden 825 Mio D M investieren und er­halten hierzu sächsische Fördermittel in Höhe von ca. 130 Mio D M . Weitere Anträge von 23 weiteren, von ATLAS als regional bedeutsam eingestuften Un­ternehmen sind gestellt. Indem ATLAS die Förderpolitik des Landes in dieser Weise unterstützt und die Entscheidungen des SMWA zur Förderung von Be­trieben vorbereitet, trägt es dazu bei, daß in dem komplizierten Bargaining-Prozeß zwischen dem Land und der THA das Land nicht nur als 'Fordernder', sondern gleichzeitig als 'Gebender' auftritt. Dies stärkt zweifellos die Stellung des Landes in den Verhandlungen mit der THA, so daß sich die Reali­sierungschancen für die Durchsetzung der Sanierungskonzepte von ATLAS verbessern.

Schwachstellen in der Arbeit von ATLAS

Trotz dieser Erfolgsbilanz von ATLAS gibt es dennoch eine Reihe von Schwachstellen in seiner Arbeit bzw. Konstruktionsmängel, die ATLAS als in­dustriepolitisches Instrument der Landesregierung als nur begrenzt tauglich er­scheinen lassen:

1. Selbst wenn man berücksichtigt, daß das Land (und damit die regionalen Akteure) ihren Einfluß auf die Entscheidungen der T H A verstärken können, so verbleiben doch die zentralen Hebel zur Realisierung bzw. Nicht-Realisierung industriepolitischer Vorstellungen bei dem Eigentümer der Betriebe, der THA. Es handelt sich also um eine typische second-best-Lösung, da letztendlich die THA sich die zentralen Entscheidungen vorbehält.

Inwieweit faktisch die Betriebe die notwendige Zeit zur Sanierung erhalten, ob den Betrieben die erforderlichen Mittel hierfür zur Verfügung gestellt werden oder ob nicht doch eine schnelle Privatisierung angestrebt wird, bleibt in letzter Instanz der THA überlassen. Skepsis ist hier angebracht, da die T H A in der Vergangenheit im Zweifelsfall eher die Privatisierung bevorzugt hat. Die Erfah­rungen der Vergangenheit zeigen, daß Privatisierung - selbst wenn von den guten Absichten der neuen Eigentümer ausgegangen wird - häufig mit erheb­lichen Risiken behaftet ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Betriebe sich zum Zeitpunkt der Privatisierung in einem desolaten Zustand befinden. Im Augenblick verfolgt die THA in dieser Richtung eine langsamere Gangart; dies

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könnte sich jedoch nach den Bundestagswahlen ändern - zumal die T H A in der jetzigen Form nur noch bis Ende des Jahres bestehen soll.

2. ATLAS kann auf den Prozeß einer Sanierung selbst kaum Einfluß nehmen. Dieses gilt für privatisierte Betriebe per se; aber auch bei Betrieben, die wei­terhin im Besitz der THA verbleiben oder einer Management K G zugewiesen sind, bleibt ATLAS "als Berater" in gewisser Weise "außen vor", kann also -trotz Konzepterstellung und Beratung - auf die Prozesse der Umgestaltung der Betriebe nur begrenzt Einfluß nehmen. Gerade in der Phase der Sanierung -sei es unter der -Gilde der THA, sei es als privatisiertes Unternehmen - ändern sich die betrieblichen Handlungsparameter sowie das Agieren der Betriebe häufig sehr schnell und drastisch, so daß die (ursprünglichen) Konzeptionen der Sanierung in solchen Fällen rasch obsolet werden. Eine solche dringend erfor­derliche prozeßbezogene Beratung (mit Eingriffsmöglichkeiten), die gewisser­maßen in den Betrieben "am Ball" bleibt, kann ATLAS somit nur begrenzt leis­ten.

Dieses war aber die Absicht, die der Vorstellung einer Industrieholding zu­grunde lag: eine professionell betriebene Sanierung, die in ein industriepo­litisches Konzept eingebettet sein sollte. ATLAS kann eine solche Verzahnung im Prozeß der Sanierung nicht durchsetzen.

3. Zunächst konzentrierte sich ATLAS auf punktuelle Lösungen, d. h. einzel­betriebliche Lösungen. Angesichts der Größenordnung, auf die viele Betriebe geschrumpft waren, erwies sich eine solche Strategie als höchst problematisch. Internationale Wettbewerbsfähigkeit erfordert ein Ausmaß an FuE sowie an Vertrieb/Marketing, das solche Betriebe einzeln nicht mehr leisten können. Auch in Bezug auf die Produktion selbst ist die Betriebsgröße häufig sub­optimal.

Zur Sicherung eigenständiger industrieller Kerne sind deshalb strategische All i­anzen komplementärer Unternehmen erforderlich. Die Treuhand hingegen hat sich gegenüber "Verbundlösungen" mit dem Argument gesperrt, daß hierdurch eine Privatisierung erschwert wird.

Für die Einzelprivatisierung kleiner Einheiten ließen sich - so die THA - leich­ter Käufer finden; zudem wäre durch die Anbindung an westliche Betriebe der schnelle Transfer westlichen know-hows sowie der Marktzugang gesichert. Sol­che Betriebe könnten somit schneller stabilisiert werden, während Verbundlö­sungen nur schwer zu privatisieren wären. Nach den bisherigen Erfahrungen

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hat sich jedoch eine solche THA-Politik als äußerst problematisch erwiesen. Nicht nur daß viele privatisierte Betriebe dieser Art rasch in große Schwierig­keiten kamen, sondern darüber hinaus besteht selbst bei gelungener Privatisie­rung immer die Gefahr, daß sie verlängerte Werkbänke bleiben (ohne eigenen Vertrieb, ohne eigene FuE) und damit - wie Forschungsergebnisse aus West­deutschland zeigen - extrem konjunkturabhängig sind. Deshalb wurden vom ATLAS Team von Anfang an - wenn möglich - Verbundlösungen präferiert; faktisch konnten diese jedoch erst ab Mitte 1993 konzeptionell angegangen werden, da auch im SMWA Bedenken gegen solche Lösungen - wegen einer vermuteten Nähe zu alten Kombinatsvorstellungen - vorhanden waren. Solche Einwände konnten jedoch ausgeräumt werden. Mitte des Jahres wurde zur Vorbereitung von Sanierungslösungen für den südwestsächsischen Maschi­nenbau ein eigenes Projektteam eingerichtet. Nachdem im Chemnitzer Werk­zeugmaschinenbau - wegen der Einzelprivatisierung - eine Verbundlösung nicht erreicht werden konnte, konzentrierte sich die Arbeitsgruppe im folgenden nun auf den Fortbestand des Textilmaschinenbaus in Sachsen, für den ebenfalls eine Verbundlösung - möglicherweise unter Beteiligung des Freistaates Sachsen -präferiert wird. Konzepte für eine solche Lösung sind bereits - u. a. auch von BASIS - erarbeitet worden. Nun wird es darauf ankommen, eine solche in die Tat umzusetzen. Auch hierbei zeigt sich jedoch wieder die unheilvolle Rolle des Faktors "Zeit".

Nachdem über zwei Jahre insbesondere von den Gewerkschaften ein Textilma­schinenverbund gefordert wird, hat sich in der Sache bisher faktisch wenig be­wegt. Bisher ist somit die Chance, einen eigenständigen industriellen Kern im Textilmaschinenbau in Sachsen zu sichern, nicht genutzt worden.

4. Mit dem "Faktor Zeit" ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen. Obwohl bereits 1991 deutlich war, daß eine weitgehende Deindustrialisierung von Regionen in Sachsen drohte, wurde m. E. zu spät reagiert. ATLAS kam unter politischem Druck - insbesondere von seiten der Gewerkschaften -zustande, konnte allerdings mit der eigentlichen Arbeit erst Ende 1992 beginnen. Zu diesem Zeitpunkt waren in vielen Branchen und Regionen die Würfel schon gefallen. Was übrig bleibt, ist in vielen Fällen der verzweifelte Versuch, Restbestände von Betrieben, die bisher noch keinen Käufer gefunden haben, zu stabilisieren. Dieses ist keineswegs ATLAS anzulasten, sondern vielmehr zeigen sich hier die Grenzen eines den Ereignissen hinterherlaufenden Pragmatismus, dem es an vorwärtsweisenden industriepolitischen Konzeptionen mangelt.

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5. Zwar wurde - wie bereits oben gesagt - der ATLAS-Beratungskreis "Region" eingerichtet, abgelehnt wurde jedoch von seiten des SMWA die von den Ge­werkschaften geforderte Benennung von Regionalbeauftragten. Dieses ist mehr als ein beiläufiges institutionelles Defizit. Vielmehr sollte den Regionalbeauf­tragten eine strategisch wichtige Aufgabe an der Schnittstelle von Betrieb und Region zukommen. Die zu sanierenden Betriebe sind ja nicht als Einzelfälle, sondern in ihrer regionalen Einbindung als Teile eines realen oder möglichen Clusters zu betrachten. In den meisten Regionen Sachsens sind die Verbindun­gen zwischen den Betrieben abgerissen, auch fehlt häufig der Kontakt zu Forschungseinrichtungen vor Ort. Industriepolitik heißt auch, daß für eine ent­sprechende Infrastruktur in den Beziehungen zwischen Betrieben bzw. zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen gesorgt werden muß.

Auf die Relevanz solcher "Netzwerke" zwischen Unternehmen für den ostdeut­schen Transformationsprozeß hat unlängst H . Albach hingewiesen . Es fehlt also im ATLAS-Konzept die Verbindung von betrieblichen Sanierungsvorstel­lungen und regionalen Konzepten. Regionalbeauftragte hätten hier zudem auf in Regionen vorhandene bzw. sich bildende Institutionen zurückgreifen können, die ihnen notwendige Informationen hätten geben sowie weitere Unterstützung hätten zukommen lassen können. Beispielsweise ist in der Region Chemnitz der Interessenverband Chemnitzer Maschinenbau gegründet worden, dem neben für die Region zentralen Betrieben, Forschungseinrichtungen, die Stadt Chem­nitz und die IG Metall angehören. Es handelt sich also um ein typisches regio­nales Netzwerk, das ATLAS in seiner Arbeit in der Region sehr gut unterstüt­zen könnte.

6. Als letzter Punkt ist auf die Notwendigkeit der Verknüpfung der industriepo­litischen Bemühungen von ATLAS mit anderen Teilpolitiken in Sachsen hinzu­weisen. Hierbei handelt es sich um einen oft formulierten Anspruch, dessen Einlösung schwierig ist. Denkbar ist jedoch z. B., daß die GA-gestützten Sanie­rungsbemühungen von ATLAS durch eine staatlich geförderte Produktent­wicklung - hierfür gibt es in Sachsen ein entsprechendes Programm - sowie über eine durch ATS geförderte arbeitsorientierte Prozeßinnovation flankiert werden. Desweiteren ist die häufig diskutierte, aber keineswegs hinreichend re­alisierte Einbindung der Arbeitsmarktpolitik in die Industriepolitik erforderlich.

Beispielsweise könnten arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die im Rahmen von Sanierungen notwendige Entlassungen abfedern sollen, stärker als bisher geschehen für die zu sanierenden Betriebe bzw. für die Verbesserung der re­gionalen Wirtschaftsstruktur genutzt werden. Projekte in ABS-Gesellschaften,

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die die Entwicklung neuer Produkte zum Ziel haben, sind hierfür gute Bei­spiele.

ATLAS als Modell für die Zukunft?

Zum Abschluß soll noch ein Blick in die Zukunft geworfen werden und die Frage nach den Perspektiven korporatistischer Institutionen wie ATLAS ge­stellt werden. Die angeführten kritischen Punkte zur Arbeit von ATLAS sollten ja keineswegs die Institution insgesamt in Frage stellen. Vielmehr sollte deut­lich werden, daß insgesamt die Möglichkeiten, die in ATLAS gelegen hätten, nicht zur Gänze ausgeschöpft wurden. Dieses liegt in erster Linie an politischen Vorgaben und an der letztendlich nicht tangierten Machtposition der THA. Auf der anderen Seite rechtfertigt die "Erfolgsbilanz" keineswegs eine durchgehend skeptische Beurteilung des ATLAS-Projektes. Die Sächsische Industrieholding - wie sie von den Gewerkschaften oft genug gefordert worden ist - wäre indus­triepolitisch sicherlich erfolgversprechender gewesen; das Modell "ATLAS" kann jedoch erfolgreicher agieren, wenn die Verbindung zur Region hergestellt wird, eine bessere Verzahnung mit Teilpolitiken realisiert wird und eine begleitende Sanierung möglich wird. Die Umsetzung von kooperativen Sanie­rungsvorhaben - möglichst mit Beteiligung des Freistaates Sachsen - wäre eine "kleine Lösung", wenn schon eine sächsische Industrieholding zur Zeit politisch nicht durchsetzbar ist. Die verstärkte Einbeziehung von privatisierten Unter­nehmen ist eine weitere wichtige Voraussetzung für die zukünftige Arbeit von ATLAS. Viele dieser Betriebe befinden sich in Schwierigkeiten, haben also einen erheblichen Bedarf an Beratung und Unterstützung. ATLAS hat zwar bisher solche Unternehmen fallweise beraten, die stärkere Orientierung der Arbeit von ATLAS auf die Unterstützung der Bildung von regionalen "Clustern" erfordert aber die systematische Einbeziehung des privaten Sektors, der im übrigen zunehmend dominant wird.

Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob sich eine offensiv zu verstehende Ausweitung des Aufgabenzuschnitts für ATLAS wird in Zukunft realisieren las­sen. Für eine solche Vermutung spricht insbesondere die sich allmählich bes­sernde wirtschaftliche Lage, die den Handlungsdruck in Richtung 'Ausweitung der industriepolitischen Bemühungen' vermindern dürfte. Immerhin wird in diesem Jahr in Sachsen das reale Bruttoinlandsprodukt um 7 - 8 % zunehmen, nachdem bereits 1992 und 1993 ein Wachstum von 10 bzw. 8

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% zu verzeichnen war. Diese Zahlen sind natürlich trügerisch, denn faktisch wird in Sachsen immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau produziert - mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit und einer weit unterdurchschnittlichen Pro­duktivität, die 1992 noch nicht einmal die Hälfte des durchschnittlichen Niveaus in Westdeutschland erreichte. Im übrigen handelt es sich immer noch um ein im starken Maße von außen induziertes Wachstum, das von den Transferzah­lungen und Investitionen aus Westdeutschland abhängt und zumindestens im Baubereich stark spekulative Elemente hat. Dennoch ist - bei anhaltenden Transferzahlungen - auch in Zukunft mit einem nicht unerheblichen Wachstum zu rechnen. Mittelfristig könnten zudem die Standortvorteile Sachsens - näm­lich das traditionell hohe FuE-Potential, die industrielle Tradition mit dem ent­sprechenden Bestand von Facharbeitern und Ingenieuren sowie die räumliche Nähe zu den für deutsche Investoren attraktiven Ländern Polen und Tschechi­sche Republik, die eher als in anderen Bundesländern zu einer entsprechenden Arbeitsteilung führen werden - wachstumsinduzierend wirken.

In einem solchen Szenario würde vermutlich der Druck, industriepolitisch aktiv zu bleiben bzw. aktiver zu werden, erheblich abnehmen.

Innovative Projekte wie ATLAS würden es unter solchen Bedingungen schwer haben, ihre Existenz zu rechtfertigen - von einer Ausweitung der Aufgaben für ATLAS ganz zu schweigen. Daß dieses eine fatale Konsequenz wäre, braucht nicht betont zu werden. Anhaltend hohe, segmentierte Arbeitslosigkeit sowie die Deindustrialisierung peripherer Regionen in Sachsen können keineswegs mit den althergebrachten Rezepten behoben werden. Hierzu bedarf es weiterer innovativer Konzepte und Institutionen. ATLAS mit einem erweiterten Aufga­benzuschnitt ist hierzu durchaus zu zählen.

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Literaturverzeichnis

Hakanson, E., Industrial Technoligical Development, a Network Approach, London 1987

Albach, H.; Zerrissene Netze, eine Netzwerkanalyse des ostdeutschen Transformationsprozesses, Berlin 1993

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Jürgen Riedel

Ansätze für eine innovative Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Sachsen: das Aufbauwerk im Freistaat Sachsen

1. Lassen Sie mich zunächst die Ausgangslage skizzieren, in die mein Thema einzuordnen ist: Der wohlhabende westliche Teil Deutschlands schließt sich mit dem östlichen, wirtschaftlich ärmeren auf Wunsch der Bevölkerung in beiden Teilen wieder zusammen. Der dabei beschrittene Weg wird mit den Risken be­gründet, die bei den politischen Unwägbarkeiten im Verhalten der bisherigen östlichen Schutzmacht liegen. D.h. die deutsche politische Führung beschließt, den Prozess radikal und schnell durchzuführen und dabei der Politik Vorrang vor der Ökonomie einzuräumen. Die Konsequenz ist eine Aufwertung des ost­deutschen Bruttoproduktionswertes etwa um den Faktor vier, die der bisher ohnehin im internationalen Leistungswettbewerb der Marktwirtschaft schwa­chen Position der DDR den Todesstoß versetzt. Hinzu kommt das wachsende Chaos auf den traditionellen östlichen Absatzmärkten der DDR-Wirtschaft.

Gemessen an den wirtschaftlichen Realitäten wäre eher eine Abwertung um etwa denselben Faktor erforderlich gewesen, wenn man den Strukturanpas­sungsmodellen, insbesondere denen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, folgt. Diese ökonomischen Begleitumstände der politischen Wiedervereinigung können als einmalig in der Wirtschaftsgeschichte bezeichnet werden.

2. Die Konsequenzen dieser Wiedervereinigungsstrategie haben die Re­gierenden wie auch viele Fachleute der wirtschaftlichen und anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen überrascht. Mir ist das unverständlich geblieben, da die hier relevanten theoretischen Erkenntnisse einfach grund­legend und unbestritten sind. Diese Überraschung bezieht sich sowohl auf das Ausmaß des wirtschaftlichen Zusammenbruchs als auch auf die Dauer des nachfolgenden Reformprozesses bzw. der wirtschaftlichen Erholung.

3. Hierzu möchte ich Sie mit einigen Größenordnungen für Sachsen konfron­tieren. Es wird geschätzt, daß die Wertschöpfungen der beiden produktiven Sektoren Landwirtschaft und Industrie Mitte 1993 auf unter 40% des Standes von 1989 abgesunken sind. Die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt sind kata-

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strophal. Von 2,1 Millionen Erwerbstätigen in Sachsen sind 0,3 Millionen Ar­beitslose und etwa 10000 Kurzarbeiter (ohne Arbeitszeit) die Hauptopfer. Knapp 270000 Menschen im Altersübergang und Vorruhestand fühlen sich als "Altes Eisen". Über 60000 weitere Kurzarbeiter, 77000 in A B M und 141000 in Fortbildung und Umschulung vervollständigen das Beschäftigungsdefizit. Das sind zusammen rund 850000 oder 40% der Erwerbsfähigen. Diesem Defizit stehen rein statistisch 10000 offene Stellen gegenüber.

4. Die politische Verantwortung für diese sozio-ökonomischen Auswirkungen der Wiedervereinigung liegt zwar direkt bei der/den Regierungen, aber letztlich bei der deutschen Bevölkerung selbst, die in der Mehrheit diese Strategie mitgetragen hat. Es ist deshalb müßig, darüber "nachzutaroggen". Nach wie vor ist es jedoch wichtig, daß die Prinzipien der sozialen Markt­wirtschaft in dieser Situation dem wirtschaftlich Starken eine besondere Ver­antwortung gegenüber dem Schwachen auferlegen. Dieser wird auch durch die vielfältigen Mechanismen der Transferwirtschaft, insbesondere der Wirtschafts­und Arbeitsförderung Rechnung getragen. Zweifel werden allerdings an der ausreichenden Höhe des Ressourcentransfers und der Effizienz der eingesetzten Instrumente geäußert.

5. Als problematisch wird besonders angesehen, daß

- trotz beträchtlicher Förderung die privaten Investitionen in den produktiven Sektoren hinter den Erwartungen zurückbleiben,

- der Staat mit seinen Infrastrukturinvestitionen ein Übergewicht als Wachs­tumsmotor, d.h. als Auftraggeber und Generator von Arbeitsplätzen, aber eben nur von begrenzter Dauer erhält und

- schließlich zu wenig Akzelerator- und Multiplikatoreffekte vor Ort entstehen, da ein zu großer Anteil induzierter Nachfragesteigerung vom westdeutschen Angebot aufgesogen wird.

Daraus folgt, daß der Staat in eine bedenkliche Rolle als Ersatzbeschaffer von Arbeitsplätzen hineinwächst. Dies gilt auch für den zweiten Arbeitsmarkt ein­schließlich des § 249 h AfG-Instruments, das vom Privatsektor bisher kaum ge­nutzt wird. Die eigenständige sächsische Wirtschaft wiederum kann aufgrund ihres Kapitalmangels und noch fehlender Wettbewerbsfähigkeit die Chancen der (öffentlichen) Nachfrage nicht genügend nutzen, so daß die Im­pulspotentiale für das sächsische Angebot und damit großenteils auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen verpuffen. Umso größer ist der Bedarf an Über­gangslösungen mit Hilfe arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien.

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Diese Faktoren wirken trotz jährlicher realer Wachstumsraten des Bruttoin­landsproduktes zwischen 5% und 7% fort. Da die staatlichen Mittel der Ar­beitsförderung immer weiter verknappt werden, muß mit fortdauernd hoher, wenn nicht gar steigernder Arbeitslosigkeit gerechnet werden. Letzteres gilt vor allem für die sächsische verarbeitende Industrie.

6. Genau hier setzen die Funktionen des Aufbauwerkes im Freistaat Sachsen an, das an der Schnittstelle von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik einerseits und von Beschäftigungs- und Sozialpolitik andererseits arbeitet. Unter Bezug auf die Rahmenvereinbarung der Gewerkschaften, Arbeitgeber, Treuhand­anstalt und der Neuen Bundesländer vom 17.07.1991 einschließlich deren Richtlinien ist am 23.09.1991 von den Gesellschaftern Freistaat Sachsen, Treu­handanstalt (THA), Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Dresdner Bank die 'Aufbauwerk im Freistaat Sachsen GmbH' (AWS) gegründet worden. Laut Rahmenvereinbarung ist der Gesellschaftszweck der Trägergesellschaft auf Landesebene (TGL) bzw. des AWS "die mittelbare Förderung von Maß­nahmen, die auf Hilfen für Arbeitnehmer hauptsächlich durch Nutzung arbeits­förderungsrechtlicher Instrumente und sonstiger Fördermöglichkeiten gerichtet sind. In diesem Rahmen besteht die Aufgabenstellung der T G L insbesondere in der Entfaltung von Initiativen der Dienstleistung und Beratung sowie der Ver-waltungs- und Holdingfunktion".

Im Gesellschaftsvertrag des AWS selbst und als Zielsetzung sind verankert:"... die Voraussetzungen für ein Gelingen der gegenwärtigen Umstrukturierung der Wirtschaft im Freistaat Sachsen deutlich zu verbessern und diesen Prozess für die betroffenen Arbeitnehmer sozialverträglich zu gestalten". Der daraus abge­leitete Zweck des AWS ist die "Förderung von Qualifizierungs-, Be-rufsausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen sowie die Betreuung von Ar­beitslosen oder von Arbeitslosigkeit Bedrohten. Zur Verwirklichung dieses Zweckes richtet die Gesellschaft regionale Trägergesellschaften (TGR) ... ein. Die Gesellschaft unterstützt und koordiniert die Aktivitäten der TGR".

Unmittelbare Zielgruppe des AWS sind demnach die regionalen Aufbauwerke (TGR). Deren Zielgruppe wiederum sind die Gesellschaften zur Arbeits­förderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung (ABS) und sonstigen Be­schäftigungsinitiativen, mit denen Kooperationsvereinbarungen abgeschlossen worden sind. ABS-Gesellschaften werden laut Rahmenvereinbarung als ge­eignet angesehen, die "... Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft kon-

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struktiv zu begleiten... Es ist anzustreben, daß aus den ABS Neugründungen von Unternehmen hervorgehen".

7. Auf Initiative des AWS wurden bisher - im wesentlichen auf der Ebene der Arbeitsamtbezirke - die folgenden neun TGR (davon drei bereits 1991) ge­gründet:

- Aufbauwerk der Region Riesa, Meißen, Großenhain - Gemeinnützige Regionale Aufbaugesellschaft Chemnitz - Wirtschaftsentwicklungs- und Fortbildungszentrum Mittelsachsens (W.F.Z.),

Flöha - Aufbauwerk Vogtland, Plauen - Aufbauwerk Pirna - Aufbauwerk Oberlausitz-Niederschlesien, Bautzen/Zittau - Aufbauwerk Erzgebirge, Olbernhau - Aufbauwerk Leipzig

(Die Gründung eines Aufbauwerkes in Dresden ist bisher an der Stadt ge­scheitert)

Damit verfügt das Aufbauwerk über eine das Gebiet von Sachsen deckende Or­ganisationsstruktur. Von fast 100 erfaßten ABS-Gesellschaften werden sechs als sogenannte Branchen-ABS geführt. Es sind dies die

- ABS Landmaschinen- und Schienenfahrzeugbau, Bischofswerda - ABS Werkzeug- und Textilmaschinenbau, Chemnitz - ABS Elektrotechnik, Dresden - ABS Maschinen- und Anlagenbau, Leipzig - ABS Stahl, Riesa - ABS Straßenfahrzeuge, Zwickau

Mehr als die Hälfte aller ABS in Sachsen haben eine Kooperations­vereinbarung mit der jeweils zuständigen TGR abgeschlossen. Die Aktivitäten von TGR und ABS sind so miteinander vernetzt.

8. Das Aufbauwerk beschäftigt derzeit 44 Mitarbeiter, weitere 120 sind in den TGR tätig. Ein Großteil hat ABM-Stellen, die von Auszehrung bedroht sind. Mit diesem bescheidenen Personalbestand betreuen diese Gesellschaften der­zeit die fast 100 Beschäftigungsgesellschaften mit rund 35.000 Beschäftigten, davon 25.000 in A B M ; das sind rund ein Drittel aller ABM-Stellen in ganz

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Sachsen und mehr als 70% der in den ABS Beschäftigten. Im Januar 1992, als das Aufbauwerk seine Arbeit aufnahm, waren nur 12% der sächsischen A B M -Arbeitnehmer in ABS-Gesellschaften beschäftigt. Damals dominierten Kurzar­beiter mit 100% Arbeitsausfall mit einem Anteil von 62%, der bis heute auf 12% zurückgefallen ist.

9. Damit ist zwar eine Substitution der wenig sinnvollen Kurzarbeit mit 100% Arbeitszeitausfall durch eine zeitlich befristete Beschäftigung mit Arbeiten im öffentlichen Interesse gelungen, aber ich kann mich angesichts arbeitsmarkt­politischer Notwendigkeiten und Möglichkeiten nicht dazu entschließen, dies als einen besonders innovativen Ansatz zu bezeichnen. Denn, nachdem die Brücke zurück in den ersten Arbeitsmarkt doch nicht so kurz und elegant ge­schwungen wie ursprünglich erwartet ist, sondern im Nebel verschwindet und immer länger zu werden droht, müssen wohl Innovationen in diesem Bereich tatsächlich "neue Bahnen brechen".

10. Von seiner Zielsetzung her hat das Aufbauwerk durchaus einen derartigen innovativen Charakter, und zwar aus folgenden Gründen:

- erstens mit seinem Ansatz der zielorientierten ABS (Z-ABS) wird versucht, fallspezifische Arbeitnehmer für Investoren zu qualifizieren. Dadurch wurden aus ABS-Gesellschaften im ersten Jahr (1992) 320 feste Arbeitsplätze ge­schaffen und 2.100 Vermittlungen in die Wege geleitet; die entsprechenden Zahlen für das 1. Halbjahr 1993 liegen bereits bei 1.150 bzw. 4.800.

- zweitens konnten durch Existenzgründungen von Beschäftigten der ABS-Ge­sellschaften etwa 500 Arbeitsplätze geschaffen werden. Ein Mehrfaches dürfte in den ABS selbst in eigenen erwerbswirtschaftlichen Unternehmensbereichen eine Beschäftigung gefunden haben.

- drittens ist es gelungen, § 249h-AfG-Projekte für etwa 15.500 Arbeitnehmer vorzubereiten, und zwar in einer Qualität, daß fast alle Projekte vom Lan­deskoordinierungskreis (LKK) befürwortet werden konnten (der L K K setzt sich aus Vertretern der relevanten Staatsministerien, des Landesarbeitsamtes und der Treuhandanstalt zusammen). Mangels zusätzlicher öffentlicher Fi­nanzierung wurden jedoch von diesen 15.500 beantragten nur für 5.500 Ar­beitnehmer Zuwendungsbescheide ausgestellt.

Angesichts wegbrechender ABM-Stellen sind das bei einem Bestand von 35.000 Arbeitnehmern in ABS und fast 300.000 Arbeitslosen in Sachsen sehr beschei­dene Zahlen. Sie spiegeln einerseits die schwierigen wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen und andererseits die politischen Prioritäten wider. Das heißt, das

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Aufbauwerk ist bei seinen innovativlichen Initiativen gefesselt, oder zuminde-stens gebremst. Es steht unter dem Odium, daß die Arbeitsförderung von den öffentlichen Händen als zu teuer angesehen wird und selbst in dem bereits ge­schrumpften Umfang wohl nicht gehalten werden soll.

11. Ein besonders innovativer Ansatz des Aufbauwerkes liegt in der Ver­knüpfung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik. Ausgangspunkt war ur­sprünglich die Zielrichtung, aus Treuhandunternehmen entlassene Arbeits­kräfte in Reserve für die in großer Zahl erwarteten Investoren an ihren Stand­orten zu halten und für deren Bedarf beruflich zu qualifizieren (FuU). Wie wenig tragfähig diese Vorstellung war, zeigen die Statistiken über die Zahl der von den Arbeitsämtern vermittelten Arbeitnehmer und die Aufgaben zu den Z-ABS. Das Aufbauwerk hat deshalb aus dieser prekären Lage heraus eigene strukturpolitische Initiativen entwickelt:

- Erstens wurde versucht, ABS-Gesellschaften in geeignete öffentliche Investiti­onsprogramme einzubinden, wie z.B. Erste Verdachtsfallerhebungen zur Fest­stellung von ökologischen Altlasten oder Maßnahmen zur Verkehrserziehung und -Sicherheit.

- Zweitens hat das Aufbauwerk einen neuartigen struktur- und re­gionalpolitischen Ansatz für Ostsachsen entwickelt. Er zielt auf die Stärkung lokaler Wirtschaftskreisläufe unter Mobilisierung der vorhandenen Res­sourcen. Diesem Ansatz liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die dabei entste­henden wirtschaftlichen Aktivitäten arbeitsintensiv sind, Raum für flexible Ar­beitsorganisationen bieten und besonders aufgrund ihrer Überschaubarkeit und sozialen Transparenz sehr gut geeignet sind, die Motivation und Eigenan­strengungen der Menschen in ihrem sozialen Gefüge zu mobilisieren.

- In diesem Zusammenhang hat das Aufbauwerk drittens eine Reihe von Demonstrationsvorhaben initiiert und weitere bestehende Projekte von Um­welt- und Beschäftigungsinitiativen gefördert, wie das Stadt-Umland-Projekt Leipzig, das Ökozentrum Auterwitz, das Beratungs- und Selbsthilfeprojekt für Kleinunternehmen Pulsnitz und einige beispielhafte Existenzgründungen im Umweltbereich.

Mit Ausnahme der genannten vier Demonstrationsvorhaben konnten diese In­itiativen des Aufbauwerkes mangels öffentlicher Unterstützung bisher nicht weitergeführt werden. Auch hier werden die Bremsspuren der Rahmenbe­dingungen sichtbar, denen das Aufbauwerk zur Zeit unterliegt.

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12. Zusammengefaßt ist festzustellen: Das Aufbauwerk mit seinen regionalen Trägergesellschaften ist zusammen mit den ABS-Gesellschaften und sonstigen Beschäftigungsinitiativen zwar ein innovatives Instrument, aber es operiert in Abhängigkeit von alten, dem Systemwandel nicht adäquaten Regelungsmecha­nismen. Diese bieten keine Lösungen für den Fall der Massenarbeitslosigkeit, wenn Unternehmer keine Arbeitsplätze schaffen und der Staat sich veranlaßt fühlt, arbeitsmarktpolitische Dynamik statisch-fiskalischen Prioritäten unter­zuordnen. Ein wesentliches Resultat dieser Gegebenheiten ist ein "Stop and Go" der zuständigen Politik mit der Gefahr beliebiger Einzelfallentscheidungen und daraus folgenden Diskriminierungen bzw. Ineffizienzen. Ein arbeits­marktpolitisches Konzept für Massenarbeitslosigkeit, Strukturanpassung und Systemwandel fehlt.

13. Ich bin der Auffassung, daß selbst unter Reduzierung der Arbeits­marktfinanzierung erhebliche Potentiale für Effizienzteigerung im arbeits­marktpolitischen System bestehen, über die im einzelnen zu diskutieren wäre. Wichtig ist insbesondere eine Verstetigung und Vorausschaubarkeit der Fi­nanzierung und Vergabeverfahren.

Dies gilt besonders auch für das Instrument des § 249h AfG, bei dem die Nicht­einhaltung von politischen Versprechungen bereits zu beträchtlichen Ef­fizienzverlusten und Demotivation geführt hat. Diese Regelung (Lohnkostenzuschüsse) ist ein Instrument des ersten Arbeitsmarktes und wird selbst von Arbeitsmarktpolitikern häufig mit A B M in einen Topf geworfen. Es bietet die Chance und Brücke zum ersten Arbeitsmarkt aber nur dann, wenn eine Verstetigung der öffentlichen Aufträge politisch gesichert werden kann.

Die Instrumente Z-ABS und Existenzgründungen sind wichtig, werden aber überschätzt und können mit einer breiteren Wirksamkeit nur rechnen, wenn die Wirtschaft sich belebt. Das Gleiche gilt auch für die Inanspruchnahme der Lohnkostenzuschüsse (§ 249h AFG) durch Privatunternehmen.

Eine systematisch arbeitsorientierte Struktur (Technologie(Technologie) politik fehlt. Die derzeitige Wirtschaftsdynamik beruht auf Sektoren, die kapi­talintensiv (Infrastrukturinvestitionen, großflächige Agrarproduktionen, inten­sive Viehhaltung) sowie transportkostenintensiv und damit umweltbelastend (große Teile des Handels und der Dienstleistungen als Folge der Transfer-wirtschafl) sind. Trotz vieler Neugründungen ist das einheimische Kleinge­werbe (Handel und Handwerk) in seiner Existenz bei weitem noch nicht gesi­chert. In der gegenwärtigen Übergangsphase wäre zu überlegen, Kriterien in

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der Arbeitsintensität an die Gewährung von staatlicher Förderung zu legen. Damit könnte - zwar möglicherweise unter Verzicht auf kurzfristig realisierbare Zuwächse der Kapitalproduktivität - ein längerfristig tragfähiger Wachs­tumsprozeß eingeleitet werden (Strategie der lokalen Wirtschaftskreisläufe).

ABS-Gesellschaften haben sich vielerorts trotz äußerst widriger Bedingungen konsolidiert. Sie haben den zugenommenen Finanzrestriktionen eigene er­werbswirtschaftliche Aktivitäten entgegengesetzt und unternehmerische Kom­petenzen entwickelt. Beschämend war häufig die falsche Propaganda, die gerade auch aus Westdeutschland kam, ABS-Gesellschaften, da öffentlich ge­fördert, dürften keine eigenen erwerbswirtschaftlichen Aktivitäten durchführen (so als ob ein Fußballverein mit geförderter Amateur- und Jugendarbeit keine Profiabteilung haben könne). Gerade in diesen erwerbswirtschaftlichen Aktivi­täten der ABS liegt derzeit eine große Chance.

Erstens sind diese über das Land verstreut, operieren in der Regel auf loka­len/regionalen Märkten und stellen ein zusätzliches mittelständisches Element dar, das unter widrigen Bedingungen auch eigener Kraft entstanden ist.

Zweitens bin ich der Auffassung, daß ABS-Gesellschaften gerade auch ange­sichts der erwarteten relativ hohen strukturellen bzw. systemimmanenten Ar­beitslosigkeit als Modellinstrument einer längerfristig angelegten Arbeits­marktpolitik gelten sollten. Ihren innovativen Wert sehe ich in der inhaltlichen Verknüpfung von

vielfältigen kleinen erwerbswirtschaftlichen Aktivitäten mit Arbeiten im öffentlichen Interesse und sozialer Betreuung von Langzeitarbeitslosen bzw. besonders betroffenen Be­völkerungsgruppen.

Die wettbewerbspolitische Brisanz, die in dieser Verknüpfung liegen mag, ist weniger eine ordnungspolitische Prinzipienfrage als vielmehr ein technisch-or­ganisatorisches und Controlling-Problem.

Längerfristig angesiedelt auf ortsnahen, von ihnen selbst mitsanierten ehema­ligen Industriebranchen können ABS innerhalb der eigenen Gesellschaft die Chancen des Übergangs von Arbeitslosigkeit über den zweiten in den ersten Arbeitsmarkt offenhalten und nutzen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich auf dem Industriegelände in unmittelbarer Nachbarschaft weitere Unterneh­men ansiedeln.

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Ich bedaure, hier abschließend feststellen zu müssen, daß dieses Modell bisher noch nicht die Akzeptanzschwelle überschritten hat und stattdessen in völliger Verkennung der Realitäten die ABS-Gesellschaften eher als notwendiges Übel angesehen werden und ihre zeitlich begrenzte Existenz immer wieder ange­mahnt wird. Hier spielen nicht nur "Ideologiepolitiker" und Interessenvertreter, sondern auch der Wissenschaft verpflichtete Fachleute westdeutscher Herkunft eine nicht gerade rühmliche Rolle. Anstatt das Engagement der ABS-Ge­sellschaften mit den sie betreuenden Trägergesellschaften auf regionaler und Landesebene durch Fragen nach deren Existenzberechtigung zu verunsichern und zu lähmen, sollte überlegt werden, wie dieses ostdeutsch-spezifische inno­vative Element des Wiedervereinigungsprozesses sinnvoll und effizienter ge­staltet werden kann.

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Christian Brinkmann

Berufliche Weiterbildung in der Region: Neue Ansätze zur Verzahnung von Arbeitsförderung und Strukturpolitik in den neuen Bundesländern

I. Zusammenhang von Region und beruflicher Weiterbildung

1. Die Problemlage: Unsichere Zukunftsperspektiven und zunehmende regionale Differenzierung in den neuen Bundesländern

2. Unterschiedliche Handlungsebenen: Der überregionale Rahmen für regionale Entscheidungen

3. Aspekte regionaler Weiterbildungssteuerung

II. Neue Elemente einer beschäftigungspolitischen Infrastruktur

1. Not macht erfinderisch: Neue Koordinierungsstrukturen entwickeln sich unkoordiniert

2. ABS, TGL, TGR, TGS: Beschäftigungsgesellschaften als Zentren lokaler und regionaler Vernetzung

3. Aufbaustäbe als Mittler zwischen Verwaltungsebenen

4. Regionale Qualifizierungszentren (RQZ): Der Brückenschlag der Bildungspolitik

5. Wirtschaftsnahe Qualifizierung: Ein neues Schlüsselwort

III. Ausblick

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Schwierigkeiten, öffentlich geförderte berufliche Qualifizierungsmaßnahmen mit dem (regionalen) Qualifizierungsbedarf abzustimmen, hat es im Westen schon immer gegeben; in den neuen Bundesländern wurden sie durch die Umbruchsituation wesentlich verstärkt. Im Transformationsprozeß sind Unsi­cherheiten über die wirtschaftliche Entwicklung von Regionen ein ganz beson­deres Problem, auf das ich zunächst eingehe. Aufzugreifen ist aber auch der Diskussionsstand im Westen, bevor in einem zweiten Teil auf Entwicklungen im Osten näher eingegangen wird.

In diesem Hauptteil geht es nicht nur um "Arbeitsmarktinfrastruktur", sondern um Ansätze zur Verknüpfung mehrerer Politikbereiche, die beschäftigungspo­litisch von Bedeutung sind (vor allem Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne, Wirtschaftsförderung und Regionalpolitik). Einiges wurde schon in den Refe­raten von Gerlach und Riedel angesprochen.

Bei der Diskussion um solche Neuerungen kommen zwangsläufig auch Modifi­kationen von Instrumenten in den Blick, die zur besseren Verzahnung von be­ruflicher Weiterbildung mit dem sich entwickelnden bzw. zu entwickelnden Qualifikationsbedarf einer Region notwendig werden. Solche Aspekte werden vor allem zum Schluß des zweiten Teils unter dem Stichwort "wirtschaftsnahe Qualifizierung", angesprochen.

I. Zusammenhang von Region und beruflicher Weiterbildung

1. Die Problemlage: Unsichere Zukunftsperspektiven und zuneh -niende regionale Differenzierung in den neuen Bundesländern

In der ehemaligen DDR gab es wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelte und strukturierte Regionen, darunter viele monostrukturierte Industriezentren und monostrukturierte Landwirtschaftsregionen.1 In ihnen konzentrieren sich ganz spezifische Qualifikationspotentiale. Sie sind wesentlicher Standortfaktor, "endogenes Entwicklungspotential" und als solches zu pflegen, damit auch An­knüpfungspunkt für alle Arten von Qualifizierung, insbesondere für Anpas­sungsfortbildung.

1 Rudolph, H., Beschäftigungsstrukturen in der D D R vor der Wende. Eine Typisierung von Krei­sen und Arbeitsämtern, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (MittAB), H. 4/1990, S. 474 ff.

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Die Ausgangsstrukturen geben allerdings noch keine Hinweise darauf, wohin die Reise geht, welche wirtschaftliche Basis sich in einer Region neu entwickelt. Der Strukturbruch läßt Analogien zu globalen, aber auch zu regionalspezifi­schen Entwicklungen im Westen nur sehr begrenzt zu. Häufig spielen politische Entscheidungen eine Rolle, die weder vorhersagbar noch durch reine wirt­schaftliche oder arbeitsmarktliche Faktoren determiniert sind. Markante Bei-spiele sind die frühzeitigen Versuche, den Industriestandort Jena zu erhalten als auch das stille "Wegbrechen" der wirtschaftlichen Basis in den dünnbesie­delten landwirtschaftlichen Regionen im Norden.3

Festzustellen ist derzeit, daß sich die einzelnen Regionen der neuen Bundes­länder in unterschiedlichen Phasen der Umstrukturierung befinden, die bei der Konzeption von Weiterbildung in der Region zu berücksichtigen sind. In der relativ günstigen Region Dresden beträgt das Arbeitsplatzdefizit rd. 25%, in anderen Arbeitsamtsbezirken, wie z.B. Halberstadt und Suhl, rd. 40%.4

Charakterisiert werden die Phasen der Umstrukturierung durch unter­schiedlichen Stand der Auflösung der alten Strukturen, der Herausbildung neuer Strukturen und der Vorgaben für künftige Entwicklungen durch private Investoren und politische Entscheidungen (Übersicht 1).

Mit den Phasen der Umstrukturierung verbinden sich unterschiedliche Grade der Unsicherheit über das quantitative und qualitative Beschäftigungsproblem einer Region. Entscheidungen über künftige Maßnahmestrukturen hängen auch, aber nicht nur, von diesem Grad der Unsicherheit ab, wobei nicht alle Entscheidungsebenen gleichermaßen betroffen sind. Hohe Unsicherheit spricht

- für ein geringeres Gewicht von Qualifizierungsmaßnahmen im Vergleich zu anderen Maßnahmen, die unmittelbar der Schaffung von Arbeitsplätzen die­nen; - für einen höheren Anteil von AFG-Qualifizierung im Vergleich zur innerbe­trieblichen Qualifizierung, die erst bei schon vorhandenen bzw. entstehenden neuen Arbeitsplätzen ihr übliches Gewicht erhalten kann, sofern nicht aus an­deren Gesichtspunkten heraus (z.B. finanzielle Engpässe bei sich umstruktu-

2 Mütze, K., Integrierte Unternehmens- und Regionalplanung - das Beispiel Jena, sowie Weiss­huhn, P., Das Unternehmens- und Regionalplanungskonzept von SRI-lnternational für die optoelektronische Industrie - dargestellt am Beispiel Jena, in: Kaiser, M , Koller, M. , Plath, H. -E. (Hrsg.), Regionale Arbeitsmärkte und Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern, Bei­träge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (BeitrAB) 168, Nürnberg,1993.

3 Boje, J., Brinkmann, Ch., Slawinski, U., Völkel, B (Hrsg.), Zur Entwicklung ländlicher Räume in den neuen Bundesländern, BeitrAB 175, Nürnberg, 1993.

4 Bach, H.-U., Jung-Hammon, Th., Otto, M., Aktuelle Daten vom Arbeitsmarkt.IAB-Werkstatt­bericht Nr. 1.6 vom 15.6.1993 (wird laufend aktualisiert).

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rierenden Treuhandbetrieben) eine öffentliche Finanzierung für notwendig er­achtet wird;

- innerhalb von AFG-Qualifizierung für kürzere, breiter angelegte Fortbildung statt längerfristiger Umschulung. Damit sind aber inhaltliche Entscheidungen über Zielberufe, Qualifikationsniveau und auch angestrebte Teilnehmer­strukturen noch völlig offen. Hierfür sind inhaltlich umrissene wirtschafts­strukturelle Entwicklungslinien entscheidend, die sich - soweit vorhanden -nur erkennen lassen, wenn eine hinreichende Informationsbasis vorhanden ist.

Je unsicherer diese regionalen Entwicklungsperspektiven sind, desto mehr sind inhaltliche Qualifizierungsentscheidungen auf Kooperation und Unterstützung all derer angewiesen, die die Entwicklungen vor Ort mitbestimmen, z.B. Unter­nehmen und deren Vertreter, Gewerkschaften sowie Verantwortliche für Wirt­schaftsförderung und Strukturentwicklung in den Gebietskörperschaften.

2. Unterschiedliche Handlungsebenen: Der überregionale Rahmen für regionale Entscheidungen

Konkrete Weiterbildungsentscheidungen werden vor Ort gefällt: Bildungsträger bieten Lehrgänge und Kurse an, Arbeitsämter suchen Träger für ergänzende "Auftragsmaßnahmen"; arbeitslose und nicht arbeitslose Personen wollen sich beruflich qualifizieren, werden von Betrieben für Maßnahmen gewonnen oder -die Versichertengemeinschaft vertretend - von den Arbeitsämtern zur Teil­nahme verpflichtet; Arbeitsämter finanzieren die Teilnahme (weitgehend), so­fern ein öffentliches Interesse an der Teilnahme erkennbar ist oder angesichts drohende Arbeitslosigkeit im Vordergrund steht.

Die berufliche Verwertbarkeit ist zentraler Bezugspunkt für alle Beteiligten. Das muß und darf nun keineswegs nur die Verwertbarkeit auf Arbeitsplätzen in einer (wie auch immer abgegrenzten) Region bedeuten. Uberregionale Ar­beitsmärkte sind für hochqualifizierte Arbeitskräfte die Regel; hochspeziali­sierte Kurse lassen sich u.U. nur durchführen, wenn Teilnehmer aus einem weiteren Einzugsbereich kommen bzw. ein überregionales Arbeitsplatzangebot in Betracht ziehen.

Generell besteht nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) eine begrenzte Mobilitätszumutung, wenn vor Ort keine passenden Arbeitsplätze verfügbar sind. Die große Zahl von Tages- und Fernpendlern aus den neuen Bundeslän-

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dern mit Arbeitsplatz im Westen (ganz abgesehen von den Wanderungsströ­men) verdeutlicht, was immer schon für den Westen galt: Einen ausschließli­chen Bezug auf eine (kleine) Region kann es im Hinblick auf die Verwertbar­keit beruflicher Qualifikationen nicht geben.

Trotzdem ist bei einer Weiterbildungsentscheidung zurecht vorrangig nach den Nutzungsmöglichkeiten in der Region oder in den Regionen zu fragen, in denen der Teilnehmer seinen sozialen Bindungen und Neigungen folgend Zuhause ist. Auch um das von den vorhandenen Arbeitskräften mitbestimmte Entwick­lungspotential einer Region zu erhalten, sind Qualifizierungsmaßnahmen so­weit wie möglich auf den Qualifikationsbedarf einer Region hin zu strukturie­ren.

Dabei sind jedoch, Sauter folgend, überregionale Ordnungselemente für eine regionale Gestaltung der beruflichen Weiterbildung zu beachten,6 vor allem auch, um eine Einschränkung der Mobilität zu vermeiden. Übersicht 2 faßt die auf der lokal-regionalen und der überregionalen Handlungsebene zu erledigen­den Aufgaben und Aktivitäten im Bereich der Weiterbildung zusammen.

Während sich Sauter auf die formalen Ordnungselemente konzentriert, wurden vom LAB eine Reihe von inhaltlichen Orientierungsmöglichkeiten und "globalen" Hilfestellungen entwickelt, die in gleicher Weise von überregionaler Bedeutung sind. Dabei geht es vor allem um - Aspekte der beruflichen Flexibilität, der Breite der Verwendbarkeit von Qua­

lifikationen,8

- Möglichkeiten und Grenzen der Orientierung an nicht-fachlichen Qualifika-tionen/"Schlüsselqualifikationen",9

5 Infratest Sozialforschung, Arbeitsmarkt-Monitor für die neuen Bundesländer, Schnellbericht mit Daten für November 1992, München/Nürnberg, 1993 (vgl. auch BeitrAB 148 - 148.5 mit Ergeb­nissen vorausgegangener Erhebungswellen).

6 Sauter, E., Handlungsebenen der Weiterbildung. Überregionale Ordnungselemente für eine re­gionale Gestaltung der beruflichen Weiterbildung, in: Akademie für Raumforschung und Lan­desplanung Hannover (Hrsg.), Berufliche Weiterbildung als Faktor der Regionalentwicklung, Hannover, 1993.

7 Stooß, F., Qualifizierungsbedarf und lohnende Ziele beruflicher Fortbildung und Umschulung in Ostdeutschland, unveröffentlichtes Manuskript, Dresden, 1992.

8 Vgl. hierzu eine Vielzahl von Veröffentlichungen in MittAB. Beiträge, die sich auch auf die ehemalige D D R beziehen, enthält Kaiser, M., Görlitz, H. (Hrsg.), Bildung und Beruf im Um­bruch, BeitrAB 153.1 -153.3, Nürnberg, 1992.

9 Bunk, G. P., Kaiser, M., Zedier, R., Schlüsselqualifikationen - Intention, Modifikation und Re­alisation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, MittAB 2/1991, S. 365 ff. Mertens, D., Schlüsselqualifikationen, Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, in: MittAB 1/1974, S. 36 ff.

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- Beachtung des bodenständigen Gewerbes für den Aufbau in den neuen Bun­desländern,1 0

- den Berufeatlas des LAB 1 1

- und die schon sehr frühzeitig für die neuen Bundesländer benannten Hand­lungsfelder einer situationsadäquaten Qualifizierungspolitik.12

Auf der lokal-regionalen Ebene sind alle konkreten Entscheidungen zu fällen, eher "global" zu sehende Zusammenhänge wie überregionale Ordnungsele­mente sind jedoch in die Entscheidung einzubeziehen. Dies bedeutet auch, daß Kooperationsstrukturen notwendig werden, die eine überregionale Einbindung der Entscheidungsträger sicherstellen.

3. Aspekte regionaler Weiterbildungssteuerung

Bosch faßt in einem neuen Beitrag die westlichen Erfahrungen zur Verknüp­fung von regionaler Entwicklung und Weiterbildung zusammen.13 Wie sieht es aus mit "regionalen Handlungspotentialen", mit Weiterbildung als regionalem Entwicklungsfaktor, mit Versuchen, die "zersplitterte Weiterbildungslandschaft untereinander besser zu koordinieren und mit anderen Bereichen der Regio­nalpolitik zu verknüpfen?"14 Er kommt aus praktischen und grundsätzlichen Erwägungen zunächst zu einer eher skeptischen Einschätzung:15

"Zum einen läßt sich berufliche Weiterbildung innerhalb einer Region wegen der institutionellen Vielfalt und der unterschiedlichen Eigeninteressen der ver­schiedenen Träger nicht einfach koordinieren. Zum anderen sind langfristige Bildungsziele (Erweiterung der individuellen Handlungskompetenz, größere Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt insgesamt - auch auf dem überregionalen etc.) nicht ohne weiteres mit häufig nur kurzfristig absehbaren wirtschaftlichen Anforderungen kompatibel zu gestalten. Aus bildungspolitischer Sicht sind da­her Vorbehalte gegen eine einseitige wirtschaftspolitische Instrumentalisierung nicht unbegründet."

10 Chaberny, A., Stooß, F., Nachholbedarf im bodenständigen Gewerbe. Berufeatlas gibt Denkan­stöße, IAB-Kurzbericht Nr. 18/5.8.1992.

11 Müller, G., Chaberny, A., Stooß, F., Berufeatlas. Wirtschafts und Arbeitsmarktindikatoren nach Regionen, BeitrAB 150, Nürnberg, 1991.

12 Blaschke, D. u.a., Qualifizierung in den neuen Bundesländern, Materialien aus der Arbeits­markt- und Berufsforschung (MatAB) Nr. 7/1990.

13 Bosch, G., Regionale Entwicklung und Weiterbildung, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover (Hrsg.), a.a.O.

14 Bosch, G., a.a.O., S. 65 15 Bosch, G., a.a.O., S. 65

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Tatsächlich überwiege nach bislang vorliegenden Untersuchungen in den alten Bundesländern eher eine unsystematische Planung bei den Trägern, zwischen den Trägern und auch im Hinblick auf Auftragsmaßnahmen der BA. Bei der Ermittlung des regionalen Weiterbildungsbedarfs als "entscheidendem Schar­nier zwischen Weiterbildung und regionaler Entwicklung" gibt es, Bosch fol­gend, eine Reihe von Schwierigkeiten: 6

- sie sind teils methodischer Art (wer kann was über welchen Zeithorizont aus­sagen) und hängen auch mit unzulänglichen/fehlenden Bedarfsplanungen der Betriebe zusammen;

- zu berücksichtigen sind unterschiedliche Interessen der am Weiterbildungs­prozeß beteiligten Individuen, Träger, abnehmenden Betriebe und finanzie­renden Institutionen;

- betrieblicher und regionaler Bedarf klaffen partiell auseinander so sind z.B. Großbetriebe nur zum Teil auf ein regionales Angebot von Arbeitskräften angewiesen;

- Marktprozesse und Bildungsprozesse haben einen unterschiedlichen Zeithori­zont da Weiterbildung zukunftsbezogen, der Markt eher gegenwartsnah greif­bar ist;

- der Weiterbildungssektor ist institutionell zersplittert; - auch die zur Stärkung der Region zu verknüpfenden Politikbereiche, wie z.B Technologieentwicklung und Wirtschaftsförderung) haben einen unterschied­lichen Zeithorizont.

Trotz dieser Schwierigkeiten benennt Bosch Bausteine einer regionalen Wei­terbildungssteuerung, die sich ansatzweise im Westen herausbilden, nicht als Patentrezepte, sondern als Orientierungspunkte für einen Suchprozeß mit dem Ziel, regionale Beschäftigungs- und Weiterbildungspolitik besser zu koordinie­ren:

- Übernahme von Verantwortung durch Kommunen oder auch durch größere Regionalverbände als allgemeinsten Repräsentanten regionalen Interesses, z.B. durch Aufbau regionaler Weiterbildungsberatungsstellen, auch Zusammenfassung von Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftsförderung auf kommunaler Ebene.

16 Bosch, G., a.a.O., S. 70 ff. 17 Bosch, G., a.a.O., S. 73 ff.

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- Erstellen von Weiterbildungsberichten mit Übersichten über betriebliche und überbetriebliche Weiterbildungsmaßnahmen in der Region (Datenbanken übergreifender Art, regionale Erfolgsbeobachtung).

- Verbesserung der Kooperation von vor Ort tätigen öffentlichen und privaten Weiterbildungseinrichtungen, z.B. durch Bildung von Arbeitsgemeinschaften, wobei Weiterbildungszentren auch die Funktion von Technologieberatung und Wirtschaftsförderung mit übernehmen können.

- Entwicklung und Durchsetzung von Qualitätsstandards bei Anbietern von Qualifizierungsmaßnahmen, wie z.B. "Gütesiegel", und auch administrative Maßnahmen der BA.

- Organisation von "runden Tischen" bzw. Bildung lokaler Netzwerke unter Beteiligung arbeitsmarktpolitischer und strukturpolitischer Akteure und gesellschaftlicher Kräfte.

- Berücksichtigung von "Problemgruppen" in der Region bei Weiterbildungs­maßnahmen; deren Ausgrenzung und Langzeitarbeitslosigkeit schwächen u.a. auch die Potentiale der Region.

Auf die Situation im Osten bezogen ist insbesondere eine Förderung des Zu­sammenwirkens regionaler Akteure notwendig, die sich vielfach erst selbst kon­stituieren und etablieren mußten. Sie müssen sich aber auch in den notwen­digerweise bestehenden überregionalen Rahmen einbinden, da ein "ausschließlich lokal agierendes Weiterbildungssystem ... zu einer Segmentie­rung von Qualifikationen und starken Begrenzungen der beruflichen Mobilität führen" würde 1 8

II. Neue Elemente einer beschäftigungspolitischen Infrastruktur

1. Not macht erfinderisch: Neue Koordinierungsstrukturen entwickeln sich, unkoordiniert

Welche "infrastrukturellen" Neuerungen hat es nun in den neuen Bundeslän­dern gegeben zur Verknüpfung von Arbeitsmarktförderung im allgemeinen und öffentlich geförderter beruflicher Qualifizierung im besonderen mit regionalem Qualifikationsbedarf bzw. mit Strukturpolitik? Mit dem einigungsbedingten Strukturbruch und der aus ihm resultierenden Beschäftigungskrise haben sich

18 Bosch, G., a.a.O., S. 76

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in den neuen Bundesländern sehr schnell eine Vielzahl von beschäftigungsori-entierten Beratungsinstitutionen und Beratungsgremien herausgebildet, teils herkömmlicher, teils neuer Art (vgl. Übersicht 3). Neue Ansätze zur Koordina­tion und Verzahnung von Maßnahmen entwickelten sich dabei insbesondere im Zusammenhang mit

- Beschäftigungsgesellschaften und den für sie flächendeckend geschaffenen Trägerstrukturen (Land, sektoral, regional),

- den über das "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" 1991 zunächst flächen­deckend entstandenen regionalen "Aufbaustäben",

- den von der Bildungsseite her ins Leben gerufenen regionalen Qualifikations-entwicklungszentren (RQZ) und (QUEM) (Qualifikations-Entwicklungs-Management) bei zunächst zeitlich befristeter Aufgabenstellung und Finanzie­rung, was auch für die meisten übrigen institutionellen Neuerungen gilt.

Die aufgeführten Entwicklungen werden im folgenden näher beleuchtet. Von besonderer Bedeutung für die hier zu behandelnde Verzahnungsproblematik sind auch die von den Ländern getragenen oder mitgetragenen Entwicklungs­agenturen wie BASIS (Beratungsstelle für arbeitsorientierte Strukturentwick­lung in Sachsen e.V.) oder die LASA (Landesagentur für Strukturentwicklung und Arbeit), die innerhalb des Arbeitsministeriums in Brandenburg angesiedelt wurde. Deren Arbeit wurde am Beispiel von BASIS bereits von Gerlach darge­stellt.

Auf eine Reihe weiterer, weitgehend öffentlich finanzierter, zum Teil flächen­deckend aufgezogener Beratungsinstitutionen kann hier nicht näher eingegan­gen werden. Ein Überblick über Entwicklungen in diesem Bereich konnte bis­lang nur ansatzweise gewonnen werden.20 Eine Bewertung ist noch kaum mög­lich. Ich werde mich deshalb auf die besonders wichtig erscheinenden institu­tionellen Neuerungen beschränken.

2. ABS, TGL, TGR, TGS: Beschäftigungsgesellschaften als Zentren lokaler und regionaler Vernetzung

19 z. B. BBJ Service und andere Einrichtungen zur Technischen Hilfe" vorrangig mit Blick auf EG-Fördermittel, Frauen-Beratungszentren, den mit über 1.000 weitgehend ABM-finanzierten Mitarbeitern als Beratungsinstitution und Projektträger fungierenden Arbeitslosenverband Deutschlands e.V. und andere.

20 Fritsche, H., Groß, J., Völkel, B., Beratung im Bereich der Beschäftigungsförderung. Bestands­aufnahme und Ansätze einer Wertung. IAB-Werkstattbericht Nr. 12 vom 1.7.1993 (vgl. Über­sicht 3 und unten Abschnitt 3).

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Mit dem rapiden Beschäftigungsabbau der Großbetriebe der ehemaligen DDR entstanden schon frühzeitig sogenannte Beschäftigungs- und Qualifizierungsge­sellschaften21 mit dem Ziel, Auffangbecken für die Freigesetzten zu schaffen, den Übergang in die Marktwirtschaft sozialverträglich zu gestalten und den Neuaufbau von Beschäftigung zu unterstützen. Initiiert wurden sie vor allem in der Anfangsphase von den sich umstrukturierenden Unternehmen, häufig auf der Basis von Absprachen zwischen Firmenleitung und Betriebsrat bzw. auf Ini­tiative von Gewerkschaften.22

Hintergrund war nicht nur das anfängliche Fehlen einer hinreichenden Träger­struktur für die beabsichtigten Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Zielsetzung war von Anfang an - anders als bei den im Westen üblichen Be­schäftigungsgesellschaften - die Förderung des externen Strukturwandels in der Region, da sich eine Wiederbeschäftigung in den überdimensionierten alten Kombinaten in aller Regel ausschloß. Diese Zielsetzung wurde, allerdings erst nach langem Tauziehen und auf Verlangen der Gewerkschaften, in der ent­scheidenden Rahmenvereinbarung zwischen Treuhandanstalt, Bundesländern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vom Sommer 1991 verankert.

Der Vereinbarung entstammt der programmatische Name "Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung", kurz ABS-Gesell­schaften genannt. In der Rahmenvereinbarung wurde die Basis für eine flä­chendeckende Vernetzung dieser ABS-Gesellschaften über sog. Trägergesell­schaften geschaffen, die sich auf der Ebene der neuen Bundesländer (TGL), sowie auf einzelne Sektoren der Wirtschaft bezogen (TGS) und in kleineren Regionen (TGR) bildeten. Direkt beteiligt waren Bundesländer, Treuhandun­ternehmen, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Kommunen, Einzelperso­nen u.a. An den TGL, die sich in einzelnen Ländern auch "Aufbauwerk" nen­nen, hat die Treuhandanstalt einen Anteil von 10%. Allerdings mußte nach der Rahmenvereinbarung vorgesehen werden, "daß die Beteiligung der Gesell­schafter zeitlich begrenzt ist bzw. werden kann und daß nach Ablauf von 5 Jah­ren eine Kündigung möglich ist ..."23 Für die T G L wurde als Gesellschaftszweck festgelegt "die mittelbare Förderung von Maßnahmen, die auf Hilfen für Ar­beitnehmer hauptsächlich durch Nutzung arbeitsförderungsrechtlicher In­strumente und sonstiger Fördermöglichkeiten gerichtet sind. In diesem Rah-

21 auch unter den Namen Arbeitsförderungsgesellschaft, Aufbaugesellschaft o.a. 22 Kaiser, M , Otto, M., Was ABS-Gesellschaften bisher geleistet haben. Ergebnisse einer empiri­

schen Trägeranalyse, IAB-Werkstattbericht Nr. 13 vom 21.7.1993. 23 Rahmenvereinbarung zur Bildung von Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und

Strukturentwicklung vom 17. Juli 1991, Teil I (Trägergesellschaften auf Landesebene - TGL)

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men besteht die Aufgabenstellung der TGL insbesondere in der Entfaltung von Initiativen der Dienstleistung und Beratung sowie in der Verwaltungs- und Holdingfunktion." Die TGL kann sich an (nach Ermessen zu gründenden) re­gionalen Trägergesellschaften TGR beteiligen, "die ihrerseits bevorzugt auf die Bildung von ABS in räumlicher und organisatorischer Nähe zu den betroffenen Betrieben hinwirken und außerdem unmittelbar Fördermaßnahmen umsetzen. In Einzelfällen können die TGR und die TGL, diese soweit keine TGR vorhan­den ist, Gesellschafter an der ABS sein."24

Auf der Basis dieser Vorgaben haben sich einer flächendeckenden Erhebung des LAB folgend bis Anfang 1992 in den neuen Bundesländern rd. 330 ABS-Ge­sellschaften gegründet, weitere 85 waren im Gründungsstadium.25 Die vorgese­henen Trägergesellschaften hatten sich etabliert, vielerorts allerdings erst nach Gründung der ABS-Gesellschaften, bei deren Gründung sie behilflich sein sollten. Nach der Haupterhebung im 1. Halbjahr 1992 gab es in den ABS-Gesellschaften Anfang 1992 insgesamt rd. 110000 Teilnehmer, über die Hälfte in A B M , 17000 bzw. 15% in Fortbildung und Umschulung, gut ein Viertel noch in "Kurzarbeit 0" (100% Arbeitsausfall), nur wenige in beruflicher Erstausbil­dung.26

Qualifizierungsmaßnahmen spielen in ABS-Gesellschaften nur eine unterge­ordnete Rolle, obwohl einige sich darauf spezialisiert haben. Bislang wurde der größere Teil von ihnen als Fremdmaßnahmen durchgeführt: Zum 31.12.1991 gab es in ABS-Gesellschaften nur knapp 4000 Eigenmaßnahmen, beantragt waren allerdings 11000 und zum Jahresende 1992 geplant sogar 21000 Eigen­maßnahmen in Fortbildung und Umschulung. Dies sind aber auch nur 19% der von ABS-Gesellschaften insgesamt geplanten Maßnahmen.

Versuche, Qualifizierung mit anderen Maßnahmen zu kombinieren, hat es in ABS-Gesellschaften wie bei anderen Trägern gegeben, allerdings bislang nur in geringem Umfang, wie auch Qualifizierungsmaßnahmen in ABS-Gesellschaften nur einen kleinen Anteil der in den neuen Bundesländern insgesamt durchge­führten Qualifizierungsmaßnahmen darstellen. Trotzdem ist bei ABS-Gesell­schaften das Potential für eine Verzahnung der beruflichen Qualifizierung mit der wirtschaftlichen Entwicklung und regionalen Strukturpolitik vorhanden.

24 Rahmenvereinbarung ...,Teil II (Regionalgesellschaften) 25 Kaiser, M , Otto, M., a.a.O. sowie Kaiser, M., Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäfti­

gung und Strukturentwicklung (ABS-Gesellschaften), IAB-Werkstattbericht Nr. 10 vom 21.71992.

26 Kaiser, M , Otto, M , a.a.O., S. 19

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So geben im Rahmen der IAB-Befragung immerhin die Hälfte (47%) der ABS-Gesellschaften an, daß ihre Maßnahmen in eine Entwicklungsplanung des Lan­des oder der übrigen Gebietskörperschaften eingebettet seien. Sehr viele von ihnen verweisen auf eine gute Kooperation mit dem Arbeitsamt (71%), ande­ren Betrieben (60%), Gewerkschaften (48%), Wirtschaftsdezernaten (47%), IHK (30%), Handwerkskammer (30%) und Arbeitgebervertretern (22%). Von größeren ABS-Gesellschaften werden in bestimmtem Umfang auch selbst Beratungsleistungen erbracht, die über den Rahmen der Gesellschaft hinaus in der Region wirksam werden. Sie sind im besonderen Maße auf die Koope­ration mit Akteuren im lokalen und regionalen Umfeld angewiesen, haben viele dieser Akteure auch als Gesellschafter bzw. Beiratsmitglieder, so daß sie selbst stärker in die verschiedenen Politikbereiche eingebunden sind und Ansatz­punkte für lokale Netzwerke bilden.

Spieß konstatiert für den Bereich der Trägergesellschaft Schiffbau (TGS) in Rostock eine zunehmend breiter gewordene Finanzakquisition und bei inno­vativen Projekten nur noch einen BA-Finanzierungsanteil von 25% 2 9 Auf­fallend sei aber, daß die Wirtschaftsministerien der Länder bislang als Finan­ziers von ABS-Gesellschaften weitgehend ausfielen. Herkömmliche Instru­mente der Wirtschaftsförderung schließen zum Teil "unkonventionelle" Existenzgründer von der Förderung aus.

Mit der Arbeit der ABS-Gesellschaften werden Koordinations- und Abstim­mungsdefizite unterschiedlicher Politikbereiche deutlich. Sie wirken aber auch als "kommunale Innovationsträger" und "Brutkästen" für Unternehmensgrün­dungen.30 Um ihre Aufgaben besser erfüllen zu können, sind nach Spieß eine Reihe von konkreten Verbesserungen notwendig: Öffnung der Wirtschaftsför­derprogramme für "unkonventionelle" Existenzgründer, Aufhebung der institu­tionellen Trennung zwischen den Ressorts Arbeit und Wirtschaft, inhaltlich of­fenere und nur verfahrensmäßig stärker auf den Konsens der relevanten gesell-

27 Kaiser, M., Otto, M., a.a.O., S. 33 28 Fritsche, H., Groß, J., Völkel, B., a.a.O., S. 24

29 Spies, B.-G., Die Arbeit der Trägergesellschaft Schiffbau und die Funktion von Arbeitsmarktpolitik im ökonomischen und sozialen Umbauprozeß Ostdeutschlands, Fachtagung der Hans-Böckler-Stiftung und des WSI am 28.1.1993 in Berlin (Manuskript).

30 Bade, H., Betz, M., Spies, B.-G., Strukturerneuerung und Beschäftigungsförderung durch ABS, Erfahrungen, Erfolge, Probleme, Perspektiven aus Sicht der ostdeutschen Schiffbauindustrie, Manuskript, Hamburg/Rostock, März 1993. Die Autoren unterscheiden fünf Funktionen der

- beschäftigungspolitische Auffangfunktion, - ABS als kommunale Innovationsträger, - ABS als Qualifizierungsagenturen, - ABS als "Brutkasten" Tür Unternehmensgründungen, - sozialpolitische Funktion von ABS

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schaftlichen Gruppen abstellende Förderinstrumente. Die Erfahrung der TGS zeige aber auch, "daß die Arbeit von regionalen und sektoralen Trägergesell­schaften sich schrittweise dem Charakter von regionalen Entwicklungsagentu­ren annähert ... Hier wird durch die Erfahrungen in Ostdeutschland mit ABS-en ein Feld institutioneller und instrumenteller Reformen und Innovationen be-schrieben."

Solche mehr auf Potentiale als bisherige faktische Wirkungen zielende Fest­stellungen bedürfen noch der systematischen Überprüfung. Die unverkennba­ren innovativen Ansätze sind nicht bei allen ABS-Gesellschaften gleichermaßen gegeben. Auch ist deren Zukunft wie die der Trägerschaften keineswegs abgesi­chert, ganz zu schweigen von Möglichkeiten einer Übertragung auf den Westen. Stop-and-go-Politik in der Anfangsphase haben die Entwicklung ebenso beein­trächtigt wie die gegenwärtigen generellen Einschnitte in die För­dermöglichkeiten nach dem A F G . Zeitliche Befristungen, unsichere Finan­zierungsbasis und ein leicht zerbrechlicher Konsens über die künftige Notwen­digkeit solcher Institutionen werden ihre Entwicklung immer wieder in Frage stellen. Andererseits ist in vielen Regionen bislang kein Ersatz für sie zu erken­nen. Dies spricht für ihren Erhalt als wesentliche "infrastrukturelle" Neuerung der Beschäftigungspolitik. Weil von "strategischer" Bedeutung, bedürfen künf­tige Entwicklungen, z.B. auch Funktionsverschiebungen, in diesem Bereich weitergehender wissenschaftlicher Begleitung.32

3. Aufbaustäbe als Mittler zwischen Verwaltungsebenen

Über die Entwicklung der sogenannten "Aufbaustäbe" in den neuen Bundeslän­dern liegen Ergebnisse und Einschätzungen aus einem IAB-Auftragsprojekt über Beratung im Bereich der Beschäftigungsförderung in den neuen Bundes­ländern vor, das von Söstra e.V. durchgeführt wurde. Die Ausführungen hierzu basieren auf einer gemeinsam mit dem LAB durchgeführten Auswertung.33

Wie von der Bundesregierung vorgeschlagen, wurden im Zusammenhang mit dem "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" im 1. Halbjahr 1991 auf der Ebene der Landkreise annähernd flächendeckend Aufbaustäbe ins Leben gerufen. Hintergrund waren die damals weitgehend fehlenden oder noch nicht arbeitsfä-

31 Spies, B.-G., a.a.O., S. 5 32 Im Rahmen der sich im IAB entwickelnden Implementationsforschung ist für 1994/95 eine em-girische Untersuchung "Zur Entwicklung beschäftigungsfördernder Netzwerke in den neuen

Bundesländern" geplant (10-447 A). 33 Fritzsche, H., H. Groß, J., Völkel, B., a.a.O.

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higen Verwaltungen, die angesprochene Vielzahl von Förderfeldern, fehlende regionale Entwicklungskonzepte. Aufbaustäbe wurden auf Initiative der Land­räte und Bürgermeister ins Leben gerufen und sollten keine zusätzliche Ver-waltungs- oder Vollzugsebene schaffen, sondern koordinierend wirken und ins­besondere den Einsatz von Fördermitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe be­gleiten. Weiterhin sollten sie Anknüpfungspunkte für regionale Strukturpolitik und die dazu notwendige Vernetzung der Akteure schaffen. Schwerpunktmäßig konzentrierten sie sich darauf, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaß­nahmen zu akquirieren, Betriebsschließungen sozialverträglich zu gestalten und eine gewisse Koordination, vor allem mit öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und regionalpolitischen Fördermaßnahmen zu ermöglichen. "Mittelfristige strukturpolitische Ansätze gab es kaum... Im Maße der Herausbildung von Verwaltungsstrukturen wurden diese ersten Formen der gegenseitigen Infor­mation, Beratung und Koordinierung der regionalen Akteure teilweise über­flüssig... Nur in den wenigsten Fällen haben sich die Aufbaustäbe den neuen Bedingungen und Anforderungen angepaßt ... Ausnahmen bleiben Arbeits­stäbe, die als Initiatoren von Anti-Krisenkonzepten bzw. als Pressuregroups in Erscheinung treten ... Impulse für den Auf- bzw. Ausbau längerfristig wirkender regionaler Netzwerke sind von den Aufbaustäben in der Regel nicht

34 ausgegangen."

Anders als die nun kaum mehr existenten lokalen Aufbaustäbe, deren Funktio­nen zum Teil auch von der Wirtschaftsförderung der Kommunen und Land­kreise übernommen wurden, sind die fünf auf Arbeitsamtsebene gebildeten re­gionalen Aufbaustäbe im Land Brandenburg zu beurteilen, die auf Beschluß der Landesregierung Brandenburg gebildet wurden. Sie sind als "konzertierte Aktion" der Entscheidungsträger in den Regionen konzipiert und haben vor allem die Aufgabe, staatliche Planungen mit Gemeinden, Verbänden und pri­vaten Investorinteressen abzustimmen. Mitglieder sind die Landräte und Ober­bürgermeister, die Kammern, Arbeitsämter, Unternehmensverbände, Gewerk­schaften, Treuhandanstalt, Wirtschaftsfördergesellschaften, Vertreter der Mini­sterien und von Fall zu Fall Sachverständige. Formalrechtlich sind sie der Staatskanzlei unterstellt.

Die regionalen Aufbaustäbe haben eine entscheidungsvorbereitende und Mitt­lerfunktion zwischen oberer und unterer Verwaltungsebene. Private Inve­stitionsprojekte lassen sich über sie fördern und Lücken des Verwaltungs­handelns aufspüren, die Informationsarbeit verbessern. Impulse für private Ini-

34 Fritzsche, H., H. Groß, J., Völkel, B., a.a.O., S. 34 f.

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tiativen (obwohl angestrebt) haben sie wohl weniger gegeben, auch konnten sie angesichts schwach besetzter Geschäftsstellen kaum weitergehende Vernet-zungs und Koordinierungsfunktionen übernehmen. "Aufbaustäbe erreichen dort größere regionale Wirksamkeit, wo sie sich mit anderen Initiativen regionaler Akteure verbinden bzw. wo sie sich mit zusätzlichen örtlichen Initiativen tref­fen. Die Initiierung von Netzwerken regionaler Akteure kann offenbar nicht allein auf administrative Weise erfolgen." 5

Zur Detailsteuerung von Qualifizierungsmaßnahmen sind diese Aufbaustäbe sicherlich zu hoch angesiedelt; immerhin nimmt der Ministerpräsident an den meisten Sitzungen der Aufbaustäbe persönlich teil. Allerdings lassen sich über sie im Hinblick auf regionale Entwicklungskonzepte generelle Schwerpunkte setzen. Bei einer weitergehenden Dezentralisierung von Entscheidungs­befugnissen innerhalb der Arbeitsverwaltung ließen sich auf dieser Ebene auch weitergehende Abstimmungen und Verzahnungen erreichen. Inwieweit sich die Aufbaustäbe als Vehikel der Regionalplanung und möglicherweise weiterge­hende Abstimmungsgremien zwischen Arbeitsförderung und regionaler Struk­turpolitik entwickeln, bedarf der weiteren Beobachtung und auch des Ver­gleichs mit entsprechenden Entwicklungen in westlichen Bundesländern wie in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.36

4. Regionale Qualifizierungszentren (RQZ): Der Brückenschlag der Bildungspolitik

Als wissenschaftliche Serviceeinrichtung finanziert das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in den neuen Bundesländern zeitlich befristet die Er­probung "Regionaler Qualifikationsentwicklungszentren" (RQZ) in Schwerin, Leipzig, Halle, Erfurt und Brandenburg. Aufgabe der eigenständig arbeitenden Zentren sind die Entwicklung, Beratung, Analyse und Evaluierung des Qualifi­kationsprozesses auf regionaler Ebene. Sie können und sollen u.a. den notwen­digen überregionalen Erfahrungsaustausch verbessern.

Diesem Zweck dient auch die ebenfalls vom BMBW befristet geförderte Ar­beitsgemeinschaft "Qualifikations-Entwicklungs-Management" (QUEM) für die neuen Bundesländer in Berlin. Im Mittelpunkt ihrer Aufgaben steht die

35 Fritzsche, H., H. Groß, J., Völkel, B., a.a.O., S. 37. 36 Zur Arbeit der Aufbaustäbe in den neuen Bundesländern führt das WSI derzeit eine Umfrage

in den DGB-Kreisen durch. Vgl. auch Krafft, A., Ulrich, G., Chancen und Risiken regionaler Selbstorganisation: Erfahrungen mit der Regionalisierung der Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, Oldenburg, 1992.

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"effiziente Ausgestaltung der Qualifikationsanpassung beim Übergang vom Plan zum Markt."3 7 Sie hat auch die RQZ installiert. "Runde Tische Weiter­bildung" werden organisiert, regionale Arbeitsmarktstudien und Branchen­analysen in Auftrag gegeben immer mit der Zielrichtung, Qualifikationsbedarf zu ermitteln, Workshops werden durchgeführt und Multiplikatoren ausgebildet. Wesentlicher Ausgangspunkt für alle Bemühungen sind innerbetriebliche Qualifizierungsnotwendigkeiten im Zusammenhang mit dem Trans­formationsprozeß; von vornherein ist hierbei aber auch der Brückenschlag zur Arbeitsmarktpolitik mit intendiert; so ist über das Kuratorium von Q U E M z.B. auch die Bundesanstalt für Arbeit beratend vertreten.

Untersuchungen zur Wirksamkeit der RQZ und auch von Q U E M , das ein regelmäßig erscheinendes Bulletin verbreitet, fehlen bislang. Diese neuen Ein­richtungen werden auch nur zeitlich begrenzt und mit begrenzter Kapazität vom BMBW gefördert. Der Versuch zielt gleichwohl in das Zentrum der Problematik einer besseren Verzahnung von beruflicher Qualifizierung mit dem regionalen Qualifikationsbedarf. Inwieweit sich die Aktivitäten der RQZ und von Q U E M mit denen von ABS-Gesellschaften und ihren Trägergesellschaften, wie auch von Aufbaustäben überschneiden oder sinnvoll ergänzen, ist bislang nicht erkennbar.

5. Wirtschaftsnahe Qualifizierung: Ein neues Schlüsselwort

Die bislang geschilderten neuen Ansätze zur Verzahnung von Arbeitsförderung und Strukturpolitik in den neuen Bundesländern waren institutioneller Art und betrafen die infrastrukturellen Voraussetzungen der Verzahnung, nicht aber oder nur am Rande die Förderinstrumente selbst. Konkrete Förderkonditionen lassen häufig eine bessere Verzahnung der Instrumente unterschiedlicher Poli­tikbereiche nicht ohne weiteres zu. Dies mag zum Teil mit den eingangs ge­schilderten grundsätzlichen Verzahnungsproblemen zusammenhängen, zum Teil handelt es sich aber auch um eine "Überregulierung" von Förder­instrumenten, wie die von Spieß geschilderten Erfahrungen belegen. Gerade auch im Hinblick auf die vielfach geforderte "Ausgründung" aus Beschäftigungsgesellschaften und ihre Unterstützung durch Qualifizierung lassen sich die Instrumente häufig nicht unmittelbar verzahnen.38 Anpassungen

37 QUEM-Bulletin, H. 1/1992, S. 1. 38 Brater, M., Lindig, R., Maurus, A., Eisbach, J., Schuldt, K., Ausgründungen aus Gesellschaften

zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung. Beschäftigungsrelevante Fallbei­spiele, BeitrAB 173, Nürnberg, 1993.

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auf der instrumentellen Ebene erscheinen ebenso notwendig wie solche auf der institutionellen, um Mittel verschiedener Politikbereiche effektiver und effizienter für gemeinsame Ziele einzusetzen.

In diesem Sinne wurden u.a. im IAB-Werkstattbericht "Neue Politik für neue Arbeitsplätze" eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die AFG-Förderung unter bestimmten Umständen auch für innerbetriebliche Umstrukturierungen zu öffnen, z.B. zur Unterstützung der Umstrukturierung von sanierungsfähigen Treuhandbetrieben, als besonders wirksame Form eines Lohnkostenzuschusses für Klein- und Mittelbetriebe, als Mittel zur Förderung von Zielgruppen. Ziel-gruppenauflagen könnten steuernd wirken und Zertifizierungsauflagen die Marktgängigkeit vermittelter und damit auch das öffentliche Interesse einer Förderung sicherstellen.

Unter der Voraussetzung, daß in bestimmten Konstellationen Betriebe selbst keine Ressourcen haben, um die für ein Überleben und zur Umstrukturierung notwendige Qualifizierung der Mitarbeiter zu bewältigen, sind eine Reihe von weitergehenden Regelungen denkbar, zum Teil auch eine veränderte Hand­habung bestehender Regelungen. In diese Richtung einer stärker auf die inner­betrieblichen Bedürfnisse zielenden öffentlichen Förderung von beruflicher Qualifizierung gehen auch jüngst veröffentlichte Thesen des Kuratoriums von Q U E M "Zur Transformation der Qualifikations und Sozialisationspotentiale von Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern." These 8 spricht in diesem Zusammenhang eine neue Verantwortung des Staates an. Zur Begründung heißt es: "Staatliche Fördermittel sind erforderlich, weil fehlende Perspektiven ostdeutscher Unternehmen sich häufig als Qualifizierungshemmnis auswirken und die Möglichkeiten des Unternehmens als Lernort einschränken. Staatliche Subventionen beziehen sich in diesem Fall nicht auf Sachkapital oder Produkte, sondern auf fachliche und motivationale Veränderungsnotwendigkeiten in den Unternehmen. Sie zielen damit auf die Verringerung entscheidender Wettbe­werbsnachteile ab."40 Festgestellt wird, daß staatliche Investitionshilfen in das betriebliche Humankapital in den alten Ländern weitgehend tabuisiert seien.

Mit etwas anderer Akzentuierung geht auch ein Vorstoß der Landesregierung Brandenburg in Richtung wirtschaftsnaher Qualifizierung. "Die außergewöhn­liche Situation in den neuen Bundesländern, auch im Land Brandenburg, zwingt zu ungewöhnlichen Taten. Angesichts des weitgehenden

39 Brinkmann, Ch., et. al., Neue Politik für neue Arbeitsplätze, IAB-Werkstattbericht Nr. 20 vom 30.10.1992.

40 QUEM-Bulletin, H. 6/1993, S. 6.

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Zusammenbruchs wirtschaftlicher Strukturen und der damit verbundenen hohen Arbeitslosigkeit wollen wir eine Qualifizierung betreiben, die Existenz-und Unternehmensgründungen oder Sanierungen unterstützt, begleitet und auch initiiert. Dies soll in enger Verzahnung mit der jeweiligen regionalen Entwicklung geschehen. Wenn man so will, ist es der Versuch, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, indem Arbeitsplätze selbst geschaffen werden. Wir müssen Inseln der Hoffnung bilden und sie dann vergrößern."41

Viel Verzweiflung im Hintergrund, wird hier Gewohntes auf den Kopf gestellt und auch eine neue Funktion von öffentlich geförderter Qualifizierung gesehen: Sie soll zusammen oder im Vorlauf, aber immer verbunden mit einem Unter­nehmenskonzept und mit strukturpolitischen Hilfen, soweit wie möglich Ar­beitsplätze selbst schaffen helfen, insbesondere dort, wo es keinen externen In­vestor gibt. Hier geht es um eine neue Art der Hilfestellung durch berufliche Qualifizierung bei der Entwicklung endogener Potentiale der Regionen.

In weniger deutlicher Form ist dieser Gedanke auch im Entwurf eines Arbeits­und Strukturförderungsgesetzes (ASFG) der SPD enthalten, der gegenwärtig im Bundestag diskutiert wird 4 2

III. Ausblick

Eine abschließende Bewertung der sich in den neuen Bundesländern ent­wickelnden neuen Ansätze zur Verzahnung von Arbeitsförderung und Struktur­politik kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Allzuvieles ist noch im Fluß, weitere Begleitforschung notwendig.

Die Umbruchsituation im Osten führte zu besonderen Anstrengungen und auch zu Entwicklungen bei Maßnahmen und Infrastruktur, die keineswegs von allen Beteiligten als zukunftsträchtig oder gar für den Westen modellhaft gesehen

41 Haase-Schur, I., Inseln der Hoffnung bilden, in: Das Podium, Informationsblatt des Interessen­verbands berufliche Weiterbildung Berlin-Brandenburg, 2. Jahrgang, März 1993.

42 Bundestagsdrucksache 12/4294 vom 5. Februar 1993. Dort werden - für Ost wie für West -neue wirtschaftsnahe Instrumente zur Beschäftigungsförderung vorgeschlagen. Danach sollen vom technologischen Wandel oder Strukturproblemen besonders betroffene Betriebe eine Förderung der innerbetrieblichen Qualifizierung erhalten, soweit die Qualifikationen grundsätzlich auch in anderen Betrieben verwertbar sind und damit die Beschäftigungsprobleme des Betriebes oder bestimmter Zielgruppen bewältigt werden.

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werden; zu erinnern ist an die immer wieder aufflackernde ordnungspolitische Debatte um ABS-Gesellschaften und die sie verbindenden Trägerstrukturen. Angesichts des weiterhin zu erwartenden hohen Problemdrucks in den meisten Ost-Regionen, der auch im Westen nicht nur konjunkturell zunehmenden Ar­beitslosigkeit und der immer größer werdenden Finanzierungsengpässe bei den öffentlichen Haushalten scheint gleichwohl die Erwartung berechtigt, daß er­folgreiche Neuansätze zur Bewältigung der Beschäftigungskrise Bestand haben und Schule machen werden. Letztlich gibt es keine Alternative zu Versuchen, öffentliche Ressourcen zu bündeln und Beschäftigung zu fördern, statt Arbeits­losigkeit über Lohnersatzleistungen zu finanzieren 4 3

Dies wird die Forderung nach einer weitergehenden Verzahnung von Arbeits­förderung und Strukturpolitik immer wieder in den Raum stellen und die Frage aufwerfen, wie dies - mit welchen Instrumenten und Regelungen und mit wel­cher "beschäftigungspolitischen Infrastruktur" - am besten zu bewerkstelligen sein wird. Hier liegt die Chance auch für die sich im Osten neu entwickelnden Institutionen, Gremien und Instrumente, wie sie zur wirtschaftsnahen Qualifi­zierung, vorgeschlagen und z.T. bereits modellhaft praktiziert wurden.

Trotz aller praktischen Probleme bei Ko-Finanzierungen aus unterschiedlichen Politikbereichen und dem "Damokles-Schwert" einer unzureichenden und zeit­lich befristeten Finanzierungsbasis der neuen Beratungs- und Koordinierungs­strukturen geht der Brückenschlag in die richtige Richtung. Euphorie ist nicht angesagt: Noch gelingt die gewünschte Verzahnung allenfalls ansatzweise, überwiegen die Probleme. Sie aufzuarbeiten und Lösungsansätze zu entwickeln ist auch Aufgabe weiterhin und verstärkt notwendiger wissenschaftlicher Untersuchungen.

43 Bogai, D., et al., Arbeitsplatzförderung statt Lohnersatz. Ein Plädoyer für investive Beschäfti-

fungs- und Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern, IAB-Werkstattbericht Nr. 7 vom 6.5.1992.

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Übersicht 2:

Aufgaben und Aktivitäten im Bereich der Weiterbildung nach Handlungsebenen

Handlungsebene Aufgaben/Aktivitäten

(1) lokal - regional - Planung und Entwicklung von Bildungsangeboten durch die Bildungsträger (Betriebe,außerbetriebliche Anbieter) auf der Grundlage regionaler Bedarfsanalysen,

- Abstimmung der Angebote im Hinblick auf die Herstellung eines regionalen Gesamtprogramms,z.B. im Rahmen einer Kooperation der Bildungsträger,

- Herstellung von Angebotstransparenz, z.B. durch Datenbanken, Weiterbildungsberichte und Angebotsverzeichnisse,

- Information und Beratung der Bildungsinteressenten und Maßnahmeträger, z.B.durch Datenbanken, Kammern, Arbeitsämter, kommunale Einrichtungen,

- Durchführung der Maßnahmen (einschließlich Methoden- und Medieneinsatz, Prüfungen, Evaluation),

- Ausbau der Infrastruktur durch institutionelle Förderung,

- Verknüpfung der Wirtschaftsförderung mit Maßnahmen der Qualifizierung,

- Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -kontrolle, z.B. durch freiwillige Selbstkontrolle oder im Rahmen der AFG-Förderung durch die Arbeitsämter.

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(2) überregional - Setzung von Rahmenbedingungen für die Gestaltung des Angebots, z.B. durch: - Fortbildungsregelungen und Zertifikate sowie - Qualitätsanforderungen an Maßnahmen und

Bildungsträger (einschließlich Qualifikations­anforderungen an Lehrkräfte),

- Regelungen von Vorgaben für die Förderung des Weiterbildungszugangs und der -beteiligung, z.B. durch - Finanzierungs- und Freistellungsregelungen bzw. Vereinbarungen sowie

- Förderung von Informations- und Beratungsinstitutionen

- Herstellung von Rahmenbedingungen für die Transparenz des Weiterbildungbereichs, z.B. durch - Einführung einer bundeseinheitlichen Weiterbildungsstatistik

- durch regelmäßige Repräsentativerhebungen und qualitative Untersuchungen

entnommen aus: Sauter, E . , a. ,a., O. , S. 47

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Autoren

Christian Brinkmann Abteilungsleiter am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit

Dr. Frank Gerlach Geschäftsführer der Beratungsstelle für arbeitsorientierte Strukturentwicklung in Sachsen e.V.

Dr. Hans Gerhard Mendius Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München

Dr. Jürgen Riedel Bis August 1993 Geschäftsführer der Zweigstelle Dresden des Aufbauwerks im Freistaat Sachsen. Seitdem Geschäftsführer der Niederlassung des IFO -Institut für Wirtschaftsforschung in Dresden.

Dr. Wolfgang Zeller Staatssekretär im Sächsischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit

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