wygotski - zur psychologie und pädagogik der kindlichen defektivität

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Die Sonderschule, Jg. 1975, H.2, Berlin (Volk und Wissen), S. 65-72. Seite 65 Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität 1 L. S. Wygotski (1896-1934) DK 376(47) Defektologie Wesentliche Grunderkenntnisse der sowjetischen De- fektologie gehen auf Arbeiten L. S. Wygotskis zurück. Er hat es verstanden – vom wissenschaftlichen Standpunkt des Marxismus-Leninismus ausgehend – den Gesamt- komplex der Bildung und Erziehung anomaler Kinder zu durchdenken und die theoretischen Auffassungen von idealistischen Vorstellungen zu befreien. Seine Aus- gangsposition, daß eine organische Schädigung des Menschen, z. B. die Taubheit, nicht einfach wie bei ei- nem Tier den Ausfall der akustischen wahrnehmung be- deutet, sondern zugleich eine soziale Schädigung, ein „sozialer Knacks“ ist, wurde zu dem Ansatzpunkt für die Defektologie, der nicht nur die Praxis, sondern auch die Theorie maßgeblich beeinflußte. L. S. Wygotski stellt auch in dem nachstehenden Beitrag die kindliche Defek- tivität als soziales Problem dar, das „als primäres Mo- ment“ bei der Bildung und Erziehung des Kindes „an die erste Stelle“ gesetzt werden muß. Jeder körperliche Mangel -- sei es Blindheit, Ge- hörlosigkeit oder angeborener Schwachsinn -- ver- ändert nicht nur die Beziehung eines Menschen zur natürlichen Umwelt, sondern wirkt sich vor allem auf seine Beziehungen zu anderen Menschen aus. Eine organische Schädigung oder Störung findet ihren Ausdruck in einem sozial anomalen Verhalten. 1 Nachdruck aus dem Sammelband "Fragen der Erziehung blinder, gehörloser und schwachsinniger Kinder" mit Aufsätzen und Materialien, erschienen unter der Redaktion von L. S. Wygotski, herausgegeben von der Abteilung sozialer und rechtlicher Schutz für Unmündige, Hauptverwaltung Sozialer- ziehung, des Volkskommissariats für Volksbildung der RSFSR, Moskau 1924, S.5-30. Der Beitrag ist geringfügig ge- kürzt. (W. Lange, Berlin, übersetzte diesen Nachdruck aus der "Defektologija", Moskau, 6. Jg. (1974), H. 2) „Die Sonderschule“ Jahrgang 1975 Heft 2 Volk und Wissen Volkseigener Verlag

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Die Sonderschule, Jg. 1975, H.2, Berlin (Volk und Wissen), S. 65-72. Seite 65

Zur Psychologie undPädagogikder kindlichen Defektivität1

L. S. Wygotski (1896-1934)

DK 376(47) Defektologie

Wesentliche Grunderkenntnisse der sowjetischen De-fektologie gehen auf Arbeiten L. S. Wygotskis zurück. Erhat es verstanden – vom wissenschaftlichen Standpunktdes Marxismus-Leninismus ausgehend – den Gesamt-komplex der Bildung und Erziehung anomaler Kinder zudurchdenken und die theoretischen Auffassungen vonidealistischen Vorstellungen zu befreien. Seine Aus-gangsposition, daß eine organische Schädigung desMenschen, z. B. die Taubheit, nicht einfach wie bei ei-nem Tier den Ausfall der akustischen wahrnehmung be-deutet, sondern zugleich eine soziale Schädigung, ein„sozialer Knacks“ ist, wurde zu dem Ansatzpunkt für dieDefektologie, der nicht nur die Praxis, sondern auch dieTheorie maßgeblich beeinflußte. L. S. Wygotski stelltauch in dem nachstehenden Beitrag die kindliche Defek-tivität als soziales Problem dar, das „als primäres Mo-ment“ bei der Bildung und Erziehung des Kindes „an dieerste Stelle“ gesetzt werden muß.

Jeder körperliche Mangel -- sei es Blindheit, Ge-hörlosigkeit oder angeborener Schwachsinn -- ver-ändert nicht nur die Beziehung eines Menschen zurnatürlichen Umwelt, sondern wirkt sich vor allem aufseine Beziehungen zu anderen Menschen aus. Eineorganische Schädigung oder Störung findet ihrenAusdruck in einem sozial anomalen Verhalten.

1 Nachdruck aus dem Sammelband "Fragen der Erziehungblinder, gehörloser und schwachsinniger Kinder" mit Aufsätzenund Materialien, erschienen unter der Redaktion von L. S.Wygotski, herausgegeben von der Abteilung sozialer undrechtlicher Schutz für Unmündige, Hauptverwaltung Sozialer-ziehung, des Volkskommissariats für Volksbildung derRSFSR, Moskau 1924, S.5-30. Der Beitrag ist geringfügig ge-kürzt. (W. Lange, Berlin, übersetzte diesen Nachdruck aus der"Defektologija", Moskau, 6. Jg. (1974), H. 2)

„Die Sonderschule“Jahrgang 1975Heft 2

Volk und Wissen Volkseigener Verlag

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Die Sonderschule, Jg. 1975, H.2, Berlin (Volk und Wissen), S. 65-72. Seite 66

Selbst in der Familie ist das blinde oder gehörlo-se Kind in erster Linie ein besonderes Kind; die Fa-milienmitglieder nehmen eine ungewöhnliche, einebesondere Haltung ihm gegenüber ein, anders alszu einem anderen Kind. Sein Unglück verändert zu-nächst seine soziale Stellung in der Familie. Unddas trifft nicht nur für die Familien zu, in denen mansolch ein Kind als Last und Strafe empfindet, son-dern auch dort, wo man das blinde Kind mit dop-pelter Liebe, mit verzehnfachter Fürsorge und Zärt-lichkeit umgibt. Gerade diese erhöhte Aufmerksam-keit und das Mitleid sind eine schwere Bürde für dasKind und bilden eine Sperrmauer um das Kind, iso-lieren es von den übrigen Kindern.

Korolenko hat in seinem berühmten Roman voneinem blinden Musiker mit Recht gezeigt, wie einblindes Kind der "Mittelpunkt der Familie, der unbe-wußte Despot geworden ist, dessen geringste Lau-nen alle im Haus zu spüren bekamen".

Im weiteren Leben löst der körperliche Mangeleine ganz andere Einstellung zur Umwelt aus alsbei normalen Menschen. Die Störungen in der "kor-relierenden Tätigkeit" zwischen Mensch und natürli-cher Umwelt wirken sich nach einem Ausspruch vonW. M. Bechterew als schwere Störung des gesam-ten Systems der sozialen Beziehungen aus. AlleBeziehungen zu den Menschen, alle Momente, dieden geometrischen Platz des Menschen in seinersozialen Umwelt, seine Rolle und sein Schicksal alsTeilnehmer des Lebens bestimmen, alle Funktionendes gesellschaftlichen Seins werden unter einemneuen Aspekt umgebaut.

Davon zeugen die übereinstimmenden gedan-kenvollen Aussagen der Blinden und Gehörlosenselbst sowie einfachste Alltagsbeobachtungen imLeben geschädigter Kinder und die Ergebnisse ei-ner wissenschaftlichen psychologischen Analyse.

Leider sind bisher sowohl in der wissenschaftli-chen pädagogischen Literatur als auch in der allge-meinen Vorstellung die Probleme der kindlichenDefektivität größtenteils als biologisches Problemaufgefaßt und beantwortet worden. Ein physischerMangel ist hauptsächlich unter dem Aspekt der Ver-änderungen untersucht worden, die er in der biolo-gischen Struktur der Persönlichkeit, in ihrer Bezie-hung zur natürlich-physikalischen Weil hervorruft.

Pädagogisch wird in diesem Falle immer von derKompensation gesprochen, mit der die Erziehungdie gestörten Funktionen des Organismus ersetzen

kann. Die Frage ist somit im engen Rahmen desbetreffenden Organismus gestellt worden, in demdie Erziehung bestimmte, den Mangel kompensie-rende Fertigkeiten auslösen soll - in der Art, wie beider Entfernung einer Niere die andere einen Teil ih-rer Funktionen übernimmt.

Mit einfachen Worten gesagt: Psychologisch undpädagogisch ist die Frage gewöhnlich zutiefst phy-sisch und in begrenztem Rahmen organisch gestelltworden. Mediz1inisch ist der physische Defekt alssolcher erforscht, und kompensiert worden, Blind-heit bedeutete einfach ein Fehlen des Sehvermö-gens, Gehörlosigkeit ein Fehlen des Hörvermögens,als wenn es sich um einen blinden Hund oder einengehörlosen Schakal handeln würde.

Dabei wurde übersehen, daß im Gegensatz zumTier ein organischer Defekt des Menschen oder einMangel in der biologischen Organisation der Per-sönlichkeit sich niemals unmittelbar als solcherauswirken muß, weil Auge und Ohr beim Menschennicht nur physische, sondern auch soziale Organesind, weil zwischen natürlicher Umwelt und Men-schen noch die soziale Umwelt steht, die ihrerseitsalles, was vom Menschen zur Welt und von derWelt zum Menschen geht, bricht und steuert. Einenackte, unsoziale, unmittelbare Kommunikation zwi-schen Mensch und natürlicher Umwelt besteht nicht.Ein Mangel des Auges oder des Ohrs bedeutet da-her vor allem den Ausfall wichtiger sozialer Funktio-nen, die völlige Veränderung der gesellschaftlichenBeziehungen, die Verschiebung aller Verhaltenssy-steme.

Das Problem der kindlichen Defektivität muß manin der Psychologie und in der Pädagogik als sozia-les Problem erkennen und durchdenken, vor allemweil sich das bisher übersehene soziale Moment,das gewöhnlich als zweitrangig und abgeleitet an-gesehen worden ist, in Wirklichkeit als primäresMoment, als Hauptmoment erweist. Man muß es andie erste Stelle setzen. Man muß kühn und uner-schrocken diesem Problem als sozialem Problemins Auge schauen.

Wenn psychologisch ein körperlicher Mangel einesoziale Verrenkung bedeutet, so kann man pädago-gisch solche Kinder erziehen, d. h., man kann sie imLeben zurechtrücken, wie man ein verrenktes oderkrankes Organ wieder zum Funktionieren bringt. Ei-nige einfache Überlegungen sollen diesen Gedan-ken unterstützen.

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Vor allem muß man sich ein für alle Mal von dervon der Wissenschaft entkräfteten, aber noch le-bendigen und im allgemeinen Bewußtsein populä-ren Legende von der biologischen Kompensationder körperlichen Mängel trennen: Es herrscht dieMeinung, als ob die "weise Natur", wenn sie demMenschen ein Sinnesorgan nimmt - das Auge oderdas Ohr - ihm gewissermaßen als Entschädigungfür den Grunddefekt eine größere Empfindlichkeitanderer Organe zuteilt.

So erzählt man häufig Geschichten vom unge-wöhnlichen Tastsinn bei Blinden oder ungewöhnli-chen Sehleistungen bei Gehörlosen. Diesen Ge-schichten liegt die richtige Beobachtung zugrunde,daß beim Ausfall eines Wahrnehmungsorgans an-dere gewissermaßen an seine Stelle treten und an-fangen, Funktionen auszuüben, die von ihnen beinormalen Menschen nicht ausgeübt werden. DerBlinde erkennt mit Hilfe der Hand an den Gegen-ständen mehr als ein Sehender zu ertasten vermag.Der Gehörlose liest die Sprache von den Lippen ab,was kein normal hörender Mensch tut.

Aber auch das Tastvermögen bei Blinden unddas Sehvermögen bei Gehörlosen weisen, wie Un-tersuchungen gezeigt heben, keinerlei Besonder-heiten im Vergleich zur normalen Entwicklung die-ser Sinnesorgene auf. (1)

"In allen den Fällen", sagt dazu A. W. Birilew, "indenen das Tasten der Blinden an elementaren,einfachen Tastempfindungen untersucht wird, läßtes keinerlei Unterschied gegenüber diesem Sinnes-organ bei normalen Menschen erkennen." Der Un-terschied in der Feinheit der Tastempfindungen beiSehenden und Blinden ist durch exakte Untersu-chungen nicht festgestellt worden. Wenn er in ein-zelnen Fällen auch konstatiert werden kann, danndoch in so verschwindend geringem Maße, daß unsder gewaltige Unterschied zwischen dem Tastver-mögen der Blinden und der Sehenden, den jederleicht beobachten kann, irgendwie nicht erklärt wer-den kann.

Auf gleiche Weise gestattet auch das Sehvermö-gen dem Gehörlosen, vieles zu sehen, was wir nichtwahrnehmen, aber die visuellen Wahrnehmungender Gehörlosen liegen eher niedriger als die vonnormalen Menschen, auf alle Fälle aber nicht höher.Bei den Gehörlosen, so sagt N. Lagowski, "kann es(das Auge) in seltenen Fällen bis zu einem Gradeentwickelt werden, der das normale Sehvermögenüber schreitet" (2).

Die hervorragende Stärke des Tastvermögensbei den Blinden und des Sehvermögens bei denGehörlosen ist vollständig aus den besonderen Er-fahrungsbedingungen zu erklären, denen hier dieseOrgane ausgesetzt werden. Mit anderen Worten:Die Ursachen dafür sind nicht konstitutionell und or-ganisch, sind nicht durch eine irgendwie spezifischeVerfeinerung des Baus eines Organs oder seinerNervenbahnen erklärbar, sondern sind funktionalbedingt, gehen auf eine längere Benutzung des be-treffenden Organs zu anderen Zwecken, als das beinormalen Menschen der Fall ist, zurück.

Wenn ein Blinder mit der Hand lesen kann undsich ausgezeichnet in dem Chaos der erhabenenPunkte auskennt, denen sich unweigerlich jederSehende ausgesetzt sieht der die Seite eines Bu-ches in Blindenschrift betrachtet, so nur deshalb,weil beim Blinden in der Erfahrung mehrfach jedeKombination von Punkten, die den einzelnen Buch-staben bilden, von dem entsprechenden Laut be-gleitet worden ist, der mit diesen Punkten, mit die-sen Buchstaben bezeichnet wird, mit ihm so engassoziiert wurde, wie bei uns die visuelle Wahrneh-mung der Umrisse eines Buchstabens mit demLaut. Folglich bestimmt die bisherige Erfahrung desBlinden, die er im Gegensatz zum Sehenden beim Tasten der Blindenschrift gewinnen konnte, daß je-de bestimmte Punktkombination bei ihm als Reakti-on den entsprechenden Laut auslöst. Die Lautewerden zu Worten zusammengesetzt, und dasPunktchaos wird im bewußten Lesen organisiert.

Das ist ein Prozeß, der ganz analog dem visuel-len Lesen des normalen Menschen verläuft. Auspsychologischer Sicht besteht hier keinerlei grund-sätzlicher Unterschied. Einem des Lesens undSchreibens unkundigen Menschen wird die Seiteeines unserer Bücher als genauso ungeordneteHäufung unverständlicher Zeichen erscheinen, wiefür unsere Finger eine Seite in Blindenschrift. Esgeht hier also nicht um das bessere oder schlechte-re Ertasten, sondern um das Lesen- und Schreiben-können, d. h., um die bisherige Erfahrung, die unse-re Buchstaben oder die Punkte der Blindenschriftgliedert, verknüpft und geistig verarbeiten läßt.

Ganz analog vollzieht sich auch das Absehenanhand der Bewegungen, die den einen oder ande-ren Laut erzeugen. Der Gehörlose, der auf dieseWeise lernt, mit den Augen zu hören, baut dieseFähigkeit wiederum nicht auf der besonderen Ent-wicklung des Sehvermögens auf, sondern

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auf dem besonderen Lesen und Schreiben, d. h.,auf dem Assoziieren, auf dem Verknüpfen be-stimmter Bewegungen mit dem Aussehen eines be-stimmten Gegenstands auf usw.

Alle diese Prozesse kann man sich exakt vor-stellen als Prozesse, in denen bedingte Reflexe aufbekannte, bedingte Zeichen und Signale herausge-bildet werden. Sie sind vollständig all den Mecha-nismen der Bildung und Erziehung bedingter Reak-tionen untergeordnet, die von AkademiemitgliedPawlow und Akademiemitglied Bechterew entdecktwurden. (3)

Das mehrfache zeitliche Zusammenfallen zweierReize (eines bestimmten Lautes plus einer be-stimmten Kombination von Punkten) führt dazu, daßspäter der neue Reiz (die Punkte) dieselbe Reaktionauslöst wie der Laut, der zeitlich mit ihm zusam-menfiel. Der neue Tastreiz tritt gewissermaßen alsErsatz für den früheren akustischen Reiz auf.

Jedes beliebige Element der Umwelt, jedes Teil-chen der Welt, jede Erscheinung kann als bedingterReiz auftreten. Die Prozesse der Anerziehung einesbedingten Reflexes sind in allen Fällen ein und die-selben.

Auf diesem Gesetz beruht die ganz wichtige,prinzipielle Position der Pädagogik der defektivenKindheit, die man so formulieren kann: Das psy-chologische Wesen der Anerziehung bedingter Re-aktionen beim Blinden (Abtasten der Punkte beimLesen) und beim Gehörlosen (Absehen) ist ganzgenau dasselbe wie auch beim normalen Kind; folg-lich gleicht auch die Natur des Erziehungsprozessesder defektiven Kinder im wesentlichen der normalerKinder.

Der ganze Unterschied besteht lediglich darin,daß in einzelnen Fällen (bei Blindheit und Gehörlo-sigkeit) ein Wahrnehmungsorgan durch ein anderesersetzt wird. Der qualitative Inhalt der Reaktionbleibt derselbe wie auch der gesamte Mechanismusihrer Anerziehung. Anders gesagt: Das Verhalteneines Blinden und eines Gehörlosen kann unterpsychologischem und pädagogischem Aspektdurchaus dem Normalen gleichgesetzt werden. DieErziehung des Blinden und des Gehörlosen unter-scheidet sich grundsätzlich durch nichts von der Er-ziehung des normalen Kindes.

Wenn auf diese Weise die übermäßige Entwick-lung des Tastvermögens beim Blinden und desSehvermögens beim Gehörlosen beim Lesen derBlindenschrift und beim Absehen der Lippenbewe-

gungen erklärt werden kann, sind alle anderen Be-sonderheiten dieser Sinnesorgane ebenso vollstän-dig in ihrem Zustandekommen dem funktionalenReichtum der bedingten Verbindungen zuzuschrei-ben, die auf diese Organe von anderen, nicht wirk-samen übertragen werden. Das Tastvermögen imSystem des Verhaltens des Blinden und das Seh-vermögen beim Gehörlosen spielen nicht die Rolle,wie bei normal sehenden und hörenden Menschen;ihre Aufgabe in bezug auf den Organismus, ihreFunktionen sind andere: Sie müssen über ihre Bah-nen gewaltige Mengen solcher Verbindungen mitder Umwelt leiten, die bei normalen Menschen aufanderen Bahnen verlaufen. Daraus resultiert ihrfunktionaler, in der Erfahrung erworbener Reichtum,der fälschlicherweise als angeborener, als struktu-rell-organischer Reichtum betrachtet wird.

Die Abkehr von der Legende der biologischenKompensation des Defekts und die richtige psycho-physiologische Vorstellung von der Natur der Erzie-hung der kompensierenden Reaktionen gestattenes uns, sehr dicht an die grundlegende und prinzipi-elle Frage der pädagogischen Lehre von der De-fektivität - von der Rolle und Bedeutung der Son-derpädagogik (der Blinden- und Gehörlosenpäd-agogik) im System der Bildung und Erziehung de-fektiver Kinder und von ihrer Verbindung mit denallgemeinen Elementen jeglicher Bildung und Erzie-hung heranzukommen.

Bevor man dieses Problem löst, wollen wir nocheinmal bekräftigen, was als unbestreitbar bereits aufder Grundlage der von uns weiter oben dargestell-ten Überlegungen und Fakten festgestellt werdenkann. Wir können sagen, daß es bei psychologi-scher Betrachtung keinerlei besondere, grundsätz-lich unterschiedliche, getrennte Pädagogik der de-fektiven Kinder gibt. Die Bildung und Erziehung desdefektiven Kindes ist Gegenstand nur eines Kapitelsder allgemeinen Pädagogik. Daraus folgt unmittel-bar, daß alle Fragen dieses schwierigen Kapitels im Lichte der allgemeinen Prinzipien der Pädagogikneu durchdacht und gesehen werden müssen.

Die Grundposition der traditionellen Sonderpäd-agogik der defektiven Kindheit hat Curtman so for-muliert: "Den Blinden, den Gehörlosen und denSchwachsinnigen darf man nicht mit demselbenMaß messen, wie den Normalen." Darin liegt das Aund O nicht nur der allgemein verbreiteten Theorie,sondern auch der Praxis in fast ganz Europa undbei uns, die bei der Erziehung defektiver Kinder rea-

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lisiert wird. Wir behaupten nun das Gegenteil undstellen die psychologische und pädagogischeGrundposition auf: "Den Blinden, den Gehörlosenund den Schwachsinnigen kann und muß man mitdemselben Maß messen, wie den Normalen."

"Im Grunde besteht zwischen normalen und an-omalen Kindern kein Unterschied", sagt G. Tro-schin,"die einen wie die anderen sind Menschen,die einen wie die anderen sind Kinder, bei den ei-nen wie bei den anderen verläuft die Entwicklungnach den gleichen Gesetzen. Der Unterschied be-steht nur in dem Verfahren der Entwicklung..." (4)Diese Behauptung geht auf einen Forscher zurück,der in den Fragen der Psychologie und der Päd-agogik im allgemeinen eher auf dem biologischenals auf dem sozialen Standpunkt verharrte.

Trotzdem mußte ihm auffallen, daß "die kindlicheAnomalie in den allermeisten Fällen das Ergebnisanomaler gesellschaftlicher Bedingungen ist" unddaß der größte Fehler bei diesem Problem darinbesteht, "in den anomalen Kindern nur die Krankheitzu sehen und zu vergessen, daß in ihnen außer derKrankheit noch ein normales psychisches Lebenexistiert, das wegen der besonderen Bedingungeneine solch primitive, einfache und begriffliche Formannimmt, die wir bei gesunden Kindern nichtantreffen" (4).

Das ist der allergrößte Fehler - "die Auffassungvon der kindlichen Anomalie nur als Krankheit", undsie hat unsere Theorie und Praxis auf gefährlicheIrrwege geführt. Wir erforschen sorgfältig die Körn-chen der Defekte; die Goldkörnchen der Krankheit,die wir bei den anomalen Kindern vorfinden, "so-undsoviel Blindheit, soundsoviel Gehörlosigkeit, so-undsoviel Katarrhe der Eustachschen Röhre, so-undsoviel Empfindungsanomalien usw.", und be-merken dabei die Pud an Gesundheit nicht, die injedem kindlichen Organismus enthalten sind, wieschwer er auch immer unter dem Defekt gelittenhaben mag.

Es scheint tatsächlich unfaßbar, daß ein so ein-facher Gedanke bisher nicht als Binsenwahrheit indie Wissenschaft und in die Praxis Eingang gefun-den hat, daß sich bisher in 9 von 10 Fällen die Er-ziehung auf die Krankheit orientierte und nicht aufdie Gesundheit. "Zuerst ein Mensch und erst dannein besonderer Mensch, d. h., ein Blinder" - das istdie Losung der wissenschaftlichen Blindenpsycho-logie. Die Blindenpsychologie ist vor allem eine all-gemeine Psychologie des normalen Menschen und

"erst in zweiter Linie eine Psychologie des Blin-den" (5).

Man muß direkt sagen, daß die Blindheit (oderdie Gehörlosigkeit) als psychischer Fakt für denBlinden (oder den Gehörlosen) selbst überhauptnicht existiert. Die ganz falsche Vorstellung der Se-henden, daß die Blindheit ein ständiges Im-Dunkel-Sein oder die Gehörlosigkeit ein Untertauchen inStille und Schweigen sei, ist eine unzutreffende undnaive Meinung und ein ganz unangebrachter Ver-such der Sehenden, in die Psyche des Blinden ein-zudringen.

Wir möchten uns vorstellen, wie der Blinde seineBlindheit erlebt und vollziehen dazu gewissermaßeneine gedankliche Subtraktion von unserem gewöhn-lichen und normalen Selbstgefühl, wobei wir davonLicht und die visuelle Wahrnehmung der Welt ab-ziehen. Professor A. M. Stscherbina, selbst eineBlinde, hat überzeugend und anschaulich nachge-wiesen, daß diese gewöhnliche Vorstellung ganzfalsch ist, und völlig unrichtig unter psychologi-schem Aspekt ist das gewöhnliche Bild vom innerenLeben des blinden Kindes, das von Korolenko (6)gezeichnet wird.

Der Blinde empfindet die Dunkelheit nicht unmit-telbar und fühlt sich durch die Dunkelheit überhauptnicht belastet, es ist nicht so, daß "er sich abmüht,sich von dem dunklen Vorhang zu befreien", erempfindet seine Blindheit in keiner Weise. "Die un-faßbare Dunkelheit" ist den Blinden in der Erfahrungals unmittelbares Erleben überhaupt nicht gegeben,und der Zustand seiner Psyche empfindet keinerleiSchmerz darüber, daß seine Augen nicht sehen.Die Dunkelheit ist für den Blinden nicht nur keineunmittelbare Realität, sondern wird von ihm sogarnur "mit einer bestimmten Anstrengung bewußt er-faßt", wie A. M. Stscherbina bezeugt.

Die Blindheit als psychologischer Fakt ist keines-wegs ein Unglück. Sie wird erst als sozialer Fakt zueinem solchen. Der Blinde sieht die Umwelt nicht sowie sie der Sehende mit verbundenen Augen sieht,sondern "der Blinde sieht die Welt genau so nicht,wie der Sehende seine eigene Hand nicht sieht",wie das A. W. Birilew (7) in einem Vergleich treffendformuliert hat.

Darum irrt zutiefst, wer denkt, daß "das instinkti-ve, organische Hinwenden zum Licht" - nach denWorten Korolenkos - die Grundlage der Psyche desBlinden darstellt. Der Blinde möchte natürlich se-hen, aber diese Fähigkeit hat für ihn nicht die Be-

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deutung eines organischen, unstillbaren Bedürfnis-ses sondern "eine praktische und pragmatische Be-deutung". Die Psyche des Blinden entwickelt, wieProfessor A. M. Stscherbina diesen Gedanken voll-ständig richtig darstellt, ihre Spezifik "organisch, esentsteht gewissermaßen eine zweite Natur, undunter diesen Bedingungen, so bezeugt der Blinde,kann ich meinen physischen Mangel nicht unmittel-bar spüren".

Das ist das Entscheidende. Die Blindheit ist dernormale, nicht aber ein krankhafter Zustand für dasblinde Kind, und es spürt ihn nur mittelbar, sekun-där, als auf es selbst reflektiertes Ergebnis seinersozialen Erfahrung.

Wie erleben nun Blinde ihre Blindheit? Unter-schiedlich - je nachdem, in welchen sozialen For-men dieser Defekt seine Realisierung erfährt. Aufjeden Fall ist es so: Der Stein auf der Seele, dergewaltige, unerschöpfliche Kummer, dieses nichtauszudrückende Leiden, das nach unserer Ansichtuns zwingt, den Blinden zu bedauern und mitSchaudern an sein Leben zu denken - alles dasverdankt seine Entstehung den sekundären, densozialen, nicht aber den biologischen Momenten.

Darum entbehren die Vorstellungen des Blindenvon der Welt keineswegs der "gegenständlichenRealität"; die Welt eröffnet sich dem Blinden nichtdurch einen Nebel oder einen Vorhang. Wir berück-sichtigen dabei gar nicht, wie organisch und natür-lich Blinde die fast wunderbaren Möglichkeiten desTastens entwickeln "Es schickt sich nicht für mich,zu sagen, ob wir mit dem Auge oder mit der Handbesser sehen", bemerkt die berühmte TaubblindeHelen Keller. "Das Tastgefühl gibt dem Blinden ei-nige süße Wahrheiten, ohne die unsere glückliche-ren Brüder leben müssen, weil bei ihnen diesesGefühl nicht so vollkommen ausgebildet ist."

Der sogenannte sechste Sinn des Blinden (dieWärmeempfindung) gestattet es ihnen, Gegenstän-de auf eine Entfernung wahrzunehmen, und dersiebente Sinn der Gehörlosen (die Vibrationsemp-findung) gestattet es ihnen, Bewegungen, Musikusw. wahrzunehmen. Sie sind natürlich nichts spe-zifisch Neues für die normale Psyche. Es sind nurdie bis zur höchsten Vollendung gebrachten, auchbei normalen Menschen vorhandenen Empfindun-gen.

Wir können uns jedoch nicht vorstellen, welcheswesentliche Moment in den Erkenntnisprozessendiese Gefühle sein können. Es versteht sich: Uns

scheint die Ankündigung einer Gehörlosen grausig,die ein Stück gehört hat, das auf dem Klavier ge-spielt wurde: "O, wie schön! Ich habe es mit denFüßen gespürt".. (10) Aber die Tatsache als solcheist sehr wichtig: Für die Gehörlosen existieren dieMusik, ein Gewitter, das Brausen des Meeres, wieauch Helen Keller bezeugt. Für die Blinden gibt esTag und Nacht, eine Entfernung der Gegenstände,diese haben eine Größe, eine Form usw. (10)

Das bedauerliche Unglück der Blinden rührt nichtvon der physischen Blindheit an sieh her. Die Blind-heit selbst ist noch keine Tragödie. "Wehklagen und Jammern", sagt A. M. Stscherbina, "begleiten den Blinden während seines ganzen Lebens; sovollzieht sich langsam, aber sicher das gewaltigezerstörerische Werk."

Derselbe Autor berichtet über einen Fall, in demin einer Blindenanstalt "der Betreuer einen achtjäh-rigen Jungen mit dem Löffel füttern mußte, einfachweil man es im Elternhaus nicht für möglich gehal-ten hatte, daß dieser es selbst lernen könne".

Darum ist die pädagogische Hygiene vollauf be-rechtigt, die vorschreibt, mit dem blinden Kind ge-nauso umzugehen, als ob es sehen könnte: es imgleichen Alter gehen zu lehren, wie alle anderenKinder auch, es zu lehren, sich selbst zu bedienen,es zu veranlassen, mit sehenden Kindern zu spielen("lasset es so viel als möglich mit sehenden Kindernspielen"), in seiner Gegenwart niemals über seineBlindheit zu klagen usw.

Die Blindheit wird dann vom Blinden selbst als"eine Reihe von kleinen Unannehmlichkeiten" er-lebt, wie das A. M. Stscherbina formuliert. Und vieleBlinde werden ihre Äußerung unterschreiben: "... bei alledem ist mein Leben für mich eine eigenartigeLust, auf die zu verzichten ich um keinerlei persönli-che Güter willens wäre."

In einer Teilfrage, in einer zutiefst lehrreichenFrage, weist A. W. Birilew, selbst ein Blinder, nach,welche grundsätzlich wichtigen pädagogischenSchlußfolgerungen und Erkenntnisse aus dieserpsychologischen Behauptung gezogen werdenmüssen. (11) Muß der Blinde das Licht kennen? Ja.Aber nicht als Annäherung an die Antwort auf sein"instinktives, organisches Streben zum Licht", nichtum die Welt der Farben in die Sprache der Töneusw. umzusetzen. "Das Licht ist die Bedingung fürdie Tätigkeit aller anderen Personen, der praktischeUmstand, dessen Einfluß man sich deutlich vorstel-len muß, um die von ihm abhängigen fremden und

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eigenen Verfahren, Handgriffe und Verhaltensregelnverstehen zu können."

Der Blinde muß wissen, daß man ihn durch dieGardine am Fenster von der Straße her sehenkann, daß, wenn im Zimmer Licht brennt und dieFenster nicht verhängt sind, ihn jeder sehen kannusw. Es ist für ihn von Bedeutung, daß er die wich-tigsten Kenntnisse von der Welt besitzt, die einMensch mit Hilfe seiner Augen erwirbt. Die Welt istvon sehenden Menschen hauptsächlich als sichtba-res Phänomen aufgebaut, und auf das Leben indieser allen gemeinsamen Welt müssen wir dasblinde Kind vorbereiten. Folglich muß es das Lichtkennen.

In der allerwichtigsten Frage der Bildung und Er-ziehung der Blinden legt uns der einzig richtigereale Standpunkt diesen Ausweg nahe. Sogar dasProblem des Lichts in der Bildung und Erziehungder Blinden erfährt seine richtige Lösung, weil esnicht als biologisches Problem, sondern als sozialesProblem betrachtet und angepackt wird. In diesemSpezialfall, so meinen wir, erfährt die Hauptlinie derhier entwickelten Gedanken ihren weitestgehendenAusdruck.

So bedeutet unter psychologischem Aspekt einphysischer Defekt eine Störung der sozialen Ver-haltensformen. Wenn das Verhalten eines lebendenOrganismus seine Wechselwirkung mit der Umwelt,ein System von Anpassungsreaktionen an die Um-welt darstellt, dann wirken sich Veränderungen die-ses Systems zuallererst auf die Umstrukturierungund Verschiebung der sozialen Verbindungen, Be-ziehungen und Bedingungen aus, unter denen sichder normale Verhaltensprozeß vollzieht und ver-wirklicht. Alle eindeutig psychologischen Besonder-heiten des defektiven Kindes sind ihrer Grundlagenach nicht biologischer, sondern sozialer Natur.

Die Bildung und Erziehung eines defektiven Kin-des (eines blinden, eines gehörlosen Kindes) ist ge-nauso ein Prozeß der Entwicklung neuer Verhal-tensformen, der Bildung von bedingten Reaktionenwie beim normalen Kind. Die Probleme der Erzie-hung defektiver Kinder können folglich nur als Pro-blem der Sozialpädagogik gelöst werden.

Die Sozialerziehung des defektiven Kindes, dieauf den Methoden der sozialen Kompensation sei-nes angeborenen Mangels beruht, ist der einzigwissenschaftlich begründete und ideologisch richti-ge Weg. Die spezielle Erziehung muß der sozialenErziehung untergeordnet sein, muß mit ihr verknüpft

werden - und sogar noch mehr - muß mit ihr orga-nisch verschmelzen, muß zu ihrem Bestandteil wer-den. Die medikamentöse Versorgung des defekti-ven Kindes darf seine normale allgemeine. Ernäh-rung nicht beeinträchtigen.

Das ist ein schlechter Arzt, der einen Krankenohne die normale Nahrung läßt und seine Hoffnungnur auf Mixturen und Pillen setzt. Genauso handeltunsere Sonderschule, in der die Heilpädagogik dienormale Pädagogik, die sonderpädagogische Erzie-hung die Sozialerziehung verschlungen hat. DieNotwendigkeit einer sonderschulischen Bildung undErziehung für die defektiven Kinder wird von unsnicht geleugnet. Im Gegenteil. Wir behaupten, daßdie Ausbildung der Blinden im Lesen oder der Ge-hörlosen im Artikulieren eine sonderpädagogischeTechnik verlangen, besondere Methoden und Ver-fahren erfordern. Und nur eine hohe wissenschaftli-che Kenntnis dieser Technik kann den wahren Päd-agogen auf diesem Gebiet schaffen. Aber danebendürfen wir auch nicht vergessen, daß man nicht ei-nen Blinden, sondern vor allem ein Kind zu erziehenhat.

Nicht nur für den Blinden selbst ist die Blindheitein sozialer Faktor, sondern auch ganze Epochenund Länder werden gezwungen, ein bestimmtesSystem der Bildung und Erziehung der Blinden undeine bestimmte Einstellung zu ihnen als sozial un-ausweichliche Aufgabe zu schaffen. Die Sonder-schule von ihrer Verstrickung zu befreien, in der Sieden physischen Defekt angebetet hat, indem sie ihnnährte, aber nicht heilte; sie von jeder Spur philan-thropisch-religiöser Erziehung zu befreien; sie aufdie gesunde Basis einer realen und sozialen Päd-agogik zu stellen; das Kind von der unangemesse-nen und sinnlosen Bürde des Drills der alten Son-derschule freizumachen - das sind Aufgaben, vordenen unsere Schule steht und die von der wissen-schaftlichen Auffassung vom Gegenstand sowie vonden Forderungen der revolutionären Wirklichkeit er-hoben werden.

Wovon die Menschheit stets geträumt, was sieaber stets als ein religiöses Wunder angesehen hat,daß die Blinden zu sehen und die Tauben zu spre-chen beginnen, das zu verwirklichen ist die So-zialerziehung berufen, die in der größten Epocheder endgültigen Umgestaltung der Menschheit inAngriff genommen wird.

Vermutlich wird die Menschheit früher oder spä-ter sowohl die Blindheit als auch die Gehörlosigkeit

Page 8: Wygotski - Zur Psychologie Und Pädagogik Der Kindlichen Defektivität

Die Sonderschule, Jg. 1975, H.2, Berlin (Volk und Wissen), S. 65-72. Seite 72

und den Schwachsinn besiegen. Aber wesentlichfrüher wird sie sie sozial und pädagogisch als medi-zinisch und biologisch besiegen. Möglicherweise istdie Zeit nicht mehr fern, da die Pädagogik es alspeinlich empfinden wird, von einem defektiven Kindzu sprechen, weil das ein Hinweis darauf sein kön-ne, es handele sich um einen unüberwindbarenMangel seiner Natur.

Der sprechende Gehörlose, der arbeitende Blin-de - sie nehmen am allgemeinen Leben in seinerganzen Fülle teil - werden selbst ihren Mangel garnicht mehr spüren, und sie werden dazu anderenMenschen auch keinen Anlaß mehr geben. In unse-ren Händen liegt es, so zu handeln, daß das ge-hörlose, das blinde und das schwachsinnige Kindnicht defektiv sind. Dann wird auch das Wort selbstverschwinden, das wahrhafte Zeichen für unsereneigenen Defekt.

Dank den eugenischen Maßnahmen, dank derveränderten Gesellschaftsordnung gelangt dieMenschheit zu anderen, gesünderen Lebensbedin-gungen. Die Anzahl der Blinden und Gehörlosennimmt ungeheuer ab. Vielleicht werden Blindheitund Gehörlosigkeit sogar endgültig verschwinden.Aber lange vorher werden sie sozial besiegt wer-den.

Blindheit und Gehörlosigkeit wird es noch langeauf der Erde geben. Der Blinde bleibt blind und derGehörlose gehörlos, aber sie hören auf, defektiv zusein, weil die Defektivität ein sozialer Begriff ist undder Defekt ein Auswuchs der Blindheit, der Taub-heit, der Stummheit ist. Die Blindheit an sich machtdas Kind noch nicht defektiv. Sie bedeutet selbstnoch keine Defektivität, d.h. keinen Mangel, keineMinderwertigkeit, keine Krankheit.

Sie ist ein Zeichen für den Unterschied zwischenseinem Verhalten und dem Verhalten der anderen.Die soziale Erziehung wird über die Defektivität sie-gen. Dann wird man uns wahrscheinlich nicht ver-stehen, wenn wir von einem blinden Kind sagen,daß es defektiv ist, sondern von einem blinden Kindwird man als von einem blinden Kind, von einemgehörlosen Kind als von einem gehörlosen Kindsprechen und nichts weiter.

Enger heran an die Sehenden. Tiefer ins Leben.Umfassende Kommunikation mit der Welt, die nichtauf dem passiven Studieren, sondern auf der akti-ven und handelnden Teilnahme am Leben beruht.Umfassende gesellschaftspolitische Erziehung, dieden Blinden aus dem engen Kreis herausführt, den

ihm sein Defekt läßt, Teilnahme an der Kinder- undJugendbewegung - das sind die bedeutendsten He-bel der Sozialerziehung, mit deren Hilfe es möglichsein wird, gewaltige erzieherische Kräfte frei zu ma-chen und wirksam werden zu lassen.

Literatur

(1) Birilew, A. W.: Über das Tasten der Blinden. Kasan 1901.(2) Lagowski, N.: Der Unterricht Gehörloser in der Lautspra-che. Kapitel II. Sankt Petersburg 1911.(3) Pawlow, I. P.: 20 Jahre Versuche zur objektiven Untersu-chung der höheren Nerventätigkeit der Tiere.Bechterew, W. M.: Allgemeine Grundlagen der Reflexologiedes Menschen.(4) Troschin. G.: Vergleichende Psychologie der normalen undder anomalen Kinder, Band 1.(5) Gerhardt, F. V.: Materialien zur Blindenpsychologie.Bürklen, K.: Blindenpsychologie. 1924.(6) Korolenko: Der blinde Musiker. Moskau 1916.(7) Siehe den Beitrag in diesem Sammelband!(8) Helen Keller: Meine Welt. Geschichte meines Lebens.(9) Decker, T.: Biologie der Sinnesorgane.(10) Krogus, S. A.: Die Blinden und ihr sechster Sinn. DerWahrnehmungsprozeß bei Blinden. Sammelband. 1909.(11) Siehe den Artikel in diesem Sammelband!