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„Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland.“

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Page 1: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

„Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland.“

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Themenübersicht• In diesem Seminar wird auf folgende zentrale

Fragen eingegangen: • Was bedeutet Lebensführung?• Welcher Zusammenhang besteht zwischen

„Alltag“ und „Lebensführung“?• Wie lässt sich die Lebensführung im Sozialismus

und im Postsozialismus beschreiben?• Welche Merkmale sind für die heutige

Lebensführung in Russland charakteristisch?

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Themenübersicht

•  Sitzung 08.09.2008: Einführungsveranstaltung• Sitzung 15.09.2008: Zum Begriff der Lebensführung.

Abgrenzung zu den Konzepten Lebensweise, Lebensstil und Lebenswelt

• Sitzung 22.09.2008: Lebensführung, Alltag und Milieu• Sitzung 29.09.2008: Lebensführung, sozialistische

Lebensweise und sozialistischer Alltag• Sitzung 06.10.2008: Lebensführung und sozialistische

Arbeitswelt• Sitzung 13.10.2008: Lebensführung in der „Perestroika“

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Themenübersicht

• Sitzung 27.10.2008: Lebensführung und Gender • Sitzung 03.11.2008: Lebensführung und Wohnen im

Sozialismus• Sitzung 10.11. 2008: Lebensführung und Armut• Sitzung 17.11.2008: Lebensführung, Kirche,

Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion und Russland

• Sitzung 24.11. 2008: Lebensführung und Armut

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Themenübersicht

• Sitzung 01.12. 2008: Lebensführung und Familie in der Sowjetunion und Russland

• Sitzung 08.12.2008: Lebensführung und Devianz: Alkoholkonsum, Pornographie, Prostitution und AIDS

• Sitzung 15.12. 2008: Lebensführung und Devianz: Körperbehinderungen, psychische Problem, Krimninalität, Drogenabhängigkeit

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Theorie der Lebensführung

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Zur Geschichte der Lebensführungsforschung

• Für Karl Marx lag die Form der "Lebensweise“ verbindlich fest: Über die Ausprägungen des persönlichen Lebens bestimmten die materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion, das Ergebnis - die kapitalistische Lebensweise - verlangte nach einer Veränderung der Verhältnisse

Page 8: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Lebensführung bei Weber

• Webers Grundidee ist, dass „jeder Augenblick des Lebens und die individuelle Lebensspanne insgesamt effektiv zu nutzen sei, das Leben also – jenseits aller religiösen Bestimmungen – ein knappes Gut darstelle, mit dem bedachtsam und haushalterisch umgegangen werden müsse“ (Kudera 2000:79)

• Seine Grundannahme bestimmte diese religiös fundierte Lebensführung als spezifischen Typus der „Moderne“, einer selbstbestimmten Lebensführung

• Aktive, planvolle Gestaltung des Lebens des Einzelnen gemäß kulturspezifischer normativer Vorstellungen

Page 9: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Entwicklung und Eckpunkte des theoretischen Konzepts „Alltäglicher Lebensführung“

• Konzept wurde in Anlehnung an Max Webers Begriff der Lebensführung von Bolte, Kudera und Voß elaboriert

• Aber: im Gegensatz zu Weber wird Lebensführung nicht als ein „Geschäftsbetrieb“ aufgefasst

• Weber leitete den Lebensführungsbegriff als Kern der protestantischen Ethik und einer religiös fundierten Lebensführung her,

• Hier: Lebensführung wird als Balance von widersprüchlichen Anforderungen und Ansprüchen verstanden.

Page 10: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Lebensführung• Brückenfunktion zwischen Individuum und

Gesellschaft, da sie wesentlich an der Gestaltung der Art und Weise der Integration des Individuums in die Gesellschaft beteiligt ist (vgl. Bolte 2000:27)

• Hieraus geht hervor, dass gesellschaftliche Strukturen und das menschliche Verhalten nicht unabhängig voneinander analysiert werden sollen, sondern die Wechselwirkungen zwischen aktiver und passiver Vergesellschaftung herausgestellt werden müssen

• Lebensführung wird zum individuellen und gesellschaftlichen Ordnungsfaktor, sie umfasst die Ordnung des alltäglichen Lebens

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• Mit dem Konzept der Lebensführung sollen drei zentrale Fragen beantwortet werden (vgl. Bolte 1995:17; Dietmaier 2004:138).

1.) Welche Aussagen lassen sich zur Betroffenheit und Prägung von Individuen durch gesellschaftliche Strukturen treffen?

2.) Zu welchen Aktionen und Reaktionen von Individuen kommt es in und gegenüber diesen Strukturen?

3.) Wie wirkt sich schließlich diese Beeinflussung auf die Strukturen aus?

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Lebensführung

Nach Kudera (1995) werden Lebensführungen klassifiziert nach:

• dem Grad ihrer Ausdifferenzierung (einfach-komplex)

• dem Grad ihrer Elastizität (offen-geschlossen, starr-flexibel)

• ihrer Stabilität (robust-fragil)• ihrer Verarbeitungskapazität von Widersprüchen• ihrer Regulierung und• den verfügbaren Ressourcen

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Lebensführung als alltäglicher Tätigkeitszusammenhang

• „Als Lebensführung wird die Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag von Personen angesehen, die das Leben eines Menschen ausmachen. Obwohl Sinnstrukturen und Deutungen ohne Zweifel eine wichtige regulative Funktion für die Entstehung und Stabilisierung dieses Zusammenhangs erfüllen, wird Lebensführung nicht (zumindest nicht primär)als Sinnkonstruktion wie etwa im phänomenologischen Konzept der Lebenswelt oder des Alltags (vgl. z.B. Grathoff 1989, Welter 1986) und auch nicht als Rahmen der individual-kulturellen Stilisierung mit dem Ziel sozialer Distinktion (wie in einem engeren Verständnis von Lebensstil) definiert, sondern primär als Praxis.“ (Voß 1995:30; Hervorhebungen im Original)

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Kernpunkte des Konzepts der „Alltäglichen Lebensführung“ nach

Weihrich 1998• Lebensführung bezieht sich auf den alltäglichen

Zusammenhang des praktischen Lebens. Es geht nicht darum zu ergründen, was die Person tut, sondern wie sie es tut.

• Lebensführung ist eine aktive Konstruktionsleistung der Person, die die unterschiedlichen Tätigkeiten, Anforderungen und Erwartungen zu einem Arrangement binden muss.

• Lebensführung ist keine von den gesellschaftlichen Strukturen determinierte Größe, sondern ihre Form und Logik hängen von der historischen Situation ab.

• Lebensführung meint eine Kategorie zwischen Subjekt und gesellschaftlichen Strukturen.

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Theorie: Lebensstile,

lifestyle, modus vivendi

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Lebensstil

• Weber: typische, eine soziale Gruppe prägende Verhaltensformen und Werte

• Weber: Kritik an nur einseitig ökonomisch ausgerichteter Gesellschafts- und Klassenanalyse

• Betonung der Bedeutung kultureller Faktoren innerhalb der Gesellschaft

• Gesellschaft und Kultur sind fokussiert um den Faktor „Leben“

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Lebensstil

• Personengruppen mit demselben oder ähnlichen Lebensstil

• Lebensstil bezeichnet ein System von Handlungen

• Mode de vie, lifestyle, conduct• Lebensstil eines Menschen erkennt man an

seinen ästhetischen Präferenzen und daraus resultierenden Handlungen

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Unterscheidung von Alltagsästhetik und Alltagsethik

• Letztere meint ein System von Sollensvorstellungen, das auf alltägliche Handlungen angewandt wird

• Ethik meint das Reich der Werte und subjektiver Normen

• Ästhetik bezieht sich auf habitualisierte individuelle Vorstellungen von Schönheit und Angemessenheit

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Habitus

• Allgemeines System stabiler Handlungsdispositionen

• Vom sozialen Umfeld abhängig• Steuert die Reaktion des Menschen auf neue

Situationen in späteren Lebensphasen• Anhand der Habitustheorie von Bourdieu (1982,

1997) gehen wir davon aus, „dass soziale Milieus durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen sozialer Klassen und Klassenfraktionen zustande kommen“

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Habitus• Es geht um diese spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und

Bewertungsmuster, die einerseits spezifische Handlungen hervorbringen und andererseits die Möglichkeiten des alltäglichen Handelns begrenzen

• „new business men“: „demonstrativer Konsum“, der gekennzeichnet ist durch ein hohes Bedürfnis nach Selbstentfaltung und Selbstdarstellung nach außen

• bei „Arbeitern“ andere Muster der Lebensführung wie „harte Notwendigkeiten“, „Nützlichkeitsdenken“ bzw. eine „Kultur des Mangels“ (Bourdieu 1998, 2000)

• Legen die „Arbeiter“ eher eine Strategie des „Sich-Einrichtens“ (auf die gegebenen Verhältnisse) an den Tag, vermuten wir bei den „new businessmen“ neben dem Tendieren zum „demonstrativen Konsum“ Strategien des beruflichen und sozialen Aufstiegs.

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Lebensführung und Alltag

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Alltag

• Berufstätigkeit• Wohnen• Konsum• Hausarbeit• Familienleben• Freizeit

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Alltag• Materieller Lebensstandard in der SU unter dem

westlicher Gesellschaften, aber gesichert• 14,6 m2 Wohnfläche• 20 Prozent teilen sich den Wohnraum, haben

nur 2 Zimmer• Riesige Wohnbauten sind entstanden• Auf dem Land meist eingeschossige

Eigentumshäuser, zumeist bessere Wohnqualität

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Alltag• Akutes Wohnungsproblem?• Kommunalka mit 4-6 Personen in einer

Gemeinschaftswohnung• Forcierter Wohnungsbau seit den 1960er Jahren• „mit zu vielen Zimmern, wusste man nichts

anzufangen“• Neue Generation in den 1980er Jahren erhob

Anspruch auf eine „angemessene“ Wohnung

Page 25: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Alltag• Konsumtion: Vergleich der Tabelle, S. 55• Nahrung in den SU-Teilrepubliken• Intergenerationale Unterschiede• Neue Erziehungspraktiken seit den 1970er Jahren• Ausgaben fuer Kinder stiegen deutlich an• Ungenuegendes Angebot von Waren und

Dienstleistungen• Konsumgueterindustrie fehlt Flexibilitaet

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Alltag• Problem: „Schlange stehen“• Schwarzmarkt und Schattenhandel• Einkommen der Sowjetbuerger: pro

Familie ca. 407 Rubel• Woechentliche Arbeitszeit: 40 h ;

Bergbau, 33 h,

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Lebensführung und soziale Exklusion

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Soziale Inklusion

• David Lockwood: Begründer der Unterscheidung zwischen Sozialintegration und Systemintegration

• brachte Perspektiven des strukturorientierten Funktionalismus mit der akteursorientierten Perspektive der Konflikttheorie in Zusammenhang

• „Whereas the problem of social integration focuses attention upon the orderly or conflictful relationships between actors, the problem of system integration focuses on the orderly or conflictful relationships between parts of a social system.“ (Lockwood 1964:245)

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Habermas• Einen anderen Ansatz wählt Jürgen Habermas, der in seiner

„Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) Gesellschaften als „(…) systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge ‚sozial integrierter‘ Gruppen“ beschreibt

• „Von sozialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Institutionensysteme, in denen sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftet sind; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt einer ‚Lebenswelt‘, die symbolisch strukturiert ist. Von Systemintegration sprechen wir im Hinblick auf die spezifischen Steuerungsleistungen eines selbstgeregelten ‚Systems‘; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt der Fähigkeit, ihre Grenzen und ihren Bestand durch Bewältigung der Komplexität einer unsteten Umwelt zu erhalten.“ (Habermas 1973:14) [Hervorhebungen im Original]

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Habermas• moderne Gesellschaft differenziert sich in die Bereiche

„Funktionssysteme“ und „Lebenswelt“, die sich als zwei grundsätzlich gegensätzliche gesellschaftliche Bereiche gegenüberstehen

• unterscheidet zwischen der sozialen Partizipation (Teilhabe an der Gesellschaft), bezogen auf den lebensweltlichen Kontext (Integration/Desintegration), und dem systemischen Bereich, in dem sich Inklusionen und Exklusionen ergeben können

• bezeichnet Integration/Desintegration die soziale(n) (Nicht)-Teilhabe(n) an den Lebenswelten, so bezieht sich Inklusion/Exklusion auf die die soziale(n) (Nicht-)Teilhabe an den Funktionssystemen (vgl. Kleve 2005:10).

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Inklusion/Exklusion in der „älteren“ soziologischen Systemtheorie

• soziologische Systemtheorie ging lange Zeit vom Postulat der „Vollinklusion“ aus (vgl. Esser 1999)

• erster Richtungswandel setzte mit dem Aufsatz „Jenseits von Barbarei“ des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann (1995a) ein, in dem er auf die bis dahin „unverhoffte Entdeckung“ hinwies, dass es „leibhaftige Menschen anscheinend außerhalb jeder Gesellschaft“ (Esser 1999:6) gäbe

• Für Luhmann stellt Exklusion kein Problem dar, das schnell gelöst werden kann, da Exklusionszonen bestehen, die durch die differenzierten Funktionssysteme moderner Gesellschaften geradezu produziert werden

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Inklusion/Exklusion in der „älteren“ soziologischen Systemtheorie

• Unter Inklusion versteht Luhmann eine relativ einfache und einsichtige Sache, bei der Individuen in einer Gesellschaft bestimmte „Plätze“ und „Rollen“ übernehmen (z.B. Staatsbürger, Wähler, Produzenten, Konsumenten, Arbeitnehmer), die in den einzelnen gesellschaftlichen Funktionssystemen als mehr oder weniger offene Positionen bestehen (Luhmann 1995a)

• Inklusion meint die rollenhafte, partielle bzw. sequentielle Partizipation von Individuen und/oder Gruppen an bestimmten Funktionssystemen der Gesellschaft, die materielle und immaterielle Ressourcen vermitteln.

• Aber: Luhmanns Exklusionsbegriff legt nur geringes Gewicht auf die soziale „Integration des Persönlichkeitssystems als struktureller Bedingung des Bestandes sozialer Systeme“ (Nassehi 1999:112)

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Inklusion/Exklusion in der „neueren“ soziologischen Systemtheorie 

• Grundannahme ist, dass sich Individuen und Gruppen in einer modernen Gesellschaft Inklusionsmöglichkeiten in den einzelnen Funktionssystemen (wie z.B. Bildung, Wirtschaft, Recht, Politik, Ökonomie etc.) nur dann sichern können, wenn sie über notwendige Kommunikationsmedien (wie z.B. Wissen, Recht, Macht, Geld etc.) verfügen

• nicht über Integration in lebensweltliche Zusammenhänge, sondern über Inklusionen in Funktionssysteme werden in der modernen Gesellschaft lebensnotwendige Ressourcen und Kapazitäten vermittelt (vgl. Esser 1999:31).

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Inklusion/Exklusion in der „neueren“ soziologischen Systemtheorie 

• Gerade weil Individuen in modernen Gesellschaften mehrere Rollen parallel ausfüllen müssen, aber auch andere Rollen nicht ausfüllen können, ergeben sich Inklusionen und Exklusionen

• Exklusionen bleiben von den Funktionssystemen unbeachtet und können revidierbar sein

• Von besonderer Relevanz sind gesellschaftliche Organisationen, die „darauf spezialisiert sind, Personen mit früheren Exklusionskarrieren in ihren Einflussbereich“ (Stichweh 2005:191) zu ziehen.

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Partielle Inklusionen/ Exklusion • Inklusion und Exklusion sind idealtypisch zwei entgegengesetzte, aber

logischerweise eng miteinander im Zusammenhang stehende „Pole“• Am äußeren Ende dieser „Pole“ stehen die „Vollinklusion“ und

„Vollexklusion“ der Gesellschaftsmitglieder.• Vollinklusion und Vollexklusion sind innerhalb einer modernen,

ausdifferenzierten Gesellschaft nur schwer bzw. gar nicht zu erreichen (vgl. Stichweh 2005:182)

• Mit Inklusion und Exklusion sind mehrdimensionale Phänomene der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit gemeint

• Partielle Inklusionen und Exklusionen bedeuten, dass Akteure nur sehr selten vollständig in alle Subsysteme eines sozialen Systems integriert sind (Vollinklusion). Weiterhin ist es auch kaum möglich, Akteure vollends von den gesellschaftlichen Subsystemen zu exkludieren und ihnen somit die Mitgliedschaft zu entziehen (Vollexklusion).

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Selbstexklusion“ als spezifische Form der Exklusion 

• Eingrenzung (Inklusion) und Ausgrenzung (Exklusion) können sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdzuordnung von Individuen oder Gruppen im Hinblick auf unterschiedliche, z.B. ethnische Merkmale geschehen, d.h. durch Selbst- und Fremdethnisierung

• Exklusion und spezifischer Selbstexklusion sind demnach auch Resultate erfahrener Diskriminierungen, feindlicher Übergriffen, Marginalisierungen und rassistischer Aktionen, die ethnische Minoritäten in ihrem Alltag erfahren

• Sowohl die Integrationsbereitschaft als auch die Absicht zur Selbstexklusion hängt von den jeweiligen ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Verfügbarkeiten in einem sozialen System ab

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„Selbstexklusion“ als spezifische Form der Exklusion 

• Selbstexklusion tritt dort auf, wo Minderheitenakteure spezifische Ressourcen und Ziele als nicht erreicht betrachten, sich von ihnen ausgeschlossen fühlen oder sie aber bestimmte Ressourcen bewusst nicht anstreben, da sie die persönliche Situation nicht verbessern würden

• Weiterhin kann Selbstexklusion auch dazu führen, Handlungsspielräume, Chancen und Potentiale aufrechtzuerhalten, die durch Befolgung inklusiver Strategien nicht möglich wären.

Page 38: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Milieu und Lebensführung

Page 39: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Milieu• Wir sprechen von „sozialen Milieus“ bei Menschen, die

in ähnlichen Umständen leben, denken und handeln und das Verhalten der Einzelnen in ähnlicher Weise prägen (vgl. Hradil 2006)

• In Verbindung mit der Bourdieuschen Unterscheidung der Kapitalsorten interessieren uns einerseits Unterschiede der Milieus hinsichtlich der Kapitalsorten und der Habitus der Akteure

• Ansatz, dass soziale Milieus „nur teilweise unabhängig, ein gutes Stück aber doch abhängig von der Berufs-, Einkommens- und Bildungshierarchie bestehen und nur dementsprechende Erklärungen des alltäglichen Verhaltens der Menschen leisten können“ (Hradil 2006)

Page 40: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Milieu• In diesem Kontext werden die berufliche Stellung, den Bildungsgrad,

die Haushaltszusammensetzung, das Einkommen und die persönlichen Netzwerkbeziehungen als wesentliche Prägefaktoren für das Alltagsleben der Menschen in den spezifischen Milieus betrachtet

• weiterhin geht es hinsichtlich der zu untersuchenden biographischen Aspekte darum, ähnliche Werthaltungen, Motivationen, Mentalitäten sowie Prinzipien und Strategien der Lebensgestaltung milieuspezifisch zu erforschen (vgl. Hradil 2006).

• Anhand der Habitustheorie von Bourdieu (1982, 1997) geht man davon aus, „dass soziale Milieus durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen sozialer Klassen und Klassenfraktionen zustande kommen“ (vgl. Hradil 2006)

• Für Milieus scheint es relevant zu untersuchen, welche Auswirkungen die Verfügbarkeit von ökonomischem Kapital, Bildungskapital und sozialem Kapital für die Lebensführung besitzt

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Lebensführung als Erlebnis?

Page 42: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Konzept der Erlebnisgesellschaft

• Günter Schulze indiziert durch sein Konzept der Erlebnisgesellschaft ebenfalls ein markantes Symptom für den gesellschaftlichen Wandel, allerdings hier beschränkt auf die Bundesrepublik Deutschland

• befasst sich mit den Veränderungen des Alltagslebens, die weit über Güter und Dienstleistungen hinausreichen, die das Leben schlechthin zum Erlebnisprojekt stilisieren

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Konzept der Erlebnisgesellschaft

• Fünf Milieus kritisiert Schulze aufgrund seiner Befragung einer repräsentativen Stichprobe in der Stadt Nürnberg

• Niveau• Harmonie• Integration• Selbstverwirklichung• Unterhaltung

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Konzept der Erlebnisgesellschaft

• Zwar ermöglicht die Erlebnisgesellschaft erstmals Fülle und Vielfalt von Geschmacks Kulturen und Milieus nebeneinander, aber sie separieren sich zunehmend, beziehen sich in ihren kulturellen Praxen nicht mehr aufeinander, es kommt zu einer Entkollektivierung von Wirklichkeitsmodellen

• In dieses Vakuum stößt er ständig wachsende, sich intensivieren der Erlebnismarkt; international ausgerichtet, routiniert, hoch professionell und lukrativ bündelt eher enorme Mengen an Produktivitätskapazität, Nachfragepotenzial, politische Energie, gedankliche Aktivität und Lebenszeit

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Gender und Lebensführung

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Die russische Frau

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Stalinismus und Frauenunterdrückung• Verpflichtung zur vollständigen Befreiung der

Frauen• Abschaffung der Ungleichheiten der Frauen auf

der Ebene der politischen, gesetzlichen oder bürgerlichen Rechte

• ab Dezember 1917 wurde die zivile Registration der Eheschließung und eine einfache, freie Scheidung gewährt

• Abtreibung 1920 legalisiert und in den sowjetischen Krankenhäusern frei zugänglich gemacht

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Stalinismus und Frauenunterdrückung

• Periode der "Neuen Ökonomischen Politik" eingeführt, als deren Auswirkung eine Massenarbeitslosigkeit, unter der die Frauen am meisten litten, entstand

• staatliche und gesellschaftliche Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben eine Domäne der Männer

• Rolle der Frauen blieben weiterhin die, dem Staat und der Gesellschaft durch Hausarbeit, kombiniert mit anderer Arbeit, falls für das Regime notwendig, zu dienen

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Gesellschaftlicher Aufbruch seit Perestroika und Glasnost'

• Erstmals im Licht von Perestrojka und Glasnost‚ konnte die Klage von Frauen offiziell geäußert werden, sie würden wie "Bürger zweiter Klasse" behandelt

• Frauen verdienten durchschnittlich fast ein Drittel weniger als Männer

• Frauen nur zu einem geringen Prozentteil in der Führungsebene vertreten, obwohl mehr Frauen als Männer eine Hochschulqualifikation besäßen

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Typen von Lebensgestaltung der Russinnen

• Studie, die dem vorliegenden Bericht zugrunde lag, wurde im Januar 2005 in zwölf Großregionen der Russischen Föderation (RF) durchgeführt, sowie in Moskau und Sankt Petersburg

• Gesamtumfang der zweistufigen Stichprobe betrug 1406 Personen, wobei in den fünf Altersgruppen (17-20 Jahre, 21-25 Jahre, 26-30 Jahre, 31-40 Jahre und 41-50 Jahre) die Frauen jeweils in gleicher Anzahl vertreten waren

Page 51: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Studie• Bemühen, allgemeine Charakteristika wie auch

Besonderheiten der verschiedenen Gruppen unter den russischen Frauen herauszufinden, bestimmte die Auswahl der Themenfelder der vorliegenden Studie. Dazu gehörten:

• grundlegende Lebensziele; • Probleme des Alltagslebens; • der Grad der Zufriedenheit mit den Lebens- und

Arbeitsbedingungen; • bevorzugte Familienmodelle und Familienbeziehungen; • Rolle und Ort von Kindern im Leben der Russinnen; • Probleme familiärer und außerfamiliärer Gewalt; • wichtigste Formen der Diskriminierung; • der Grad der Einbeziehung in den politischen Prozess und die

Tätigkeit von Frauenorganisationen.

Page 52: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Tabelle 1: Was konnten die Frauen in ihrem Leben erreichen und was nicht (in Prozent)

Bereiche, in denen Erfolge erzielt wurden

Erfolge wurden bereits erreicht

Wurde noch nicht erreicht, dies wird aber für möglich

gehalten

Würden dies gern erreichen, halten dies aber kaum

für möglich

Dies war nicht Teil des

Lebensplanes

Eine gute Aus-bildung bekommen

31,8 27,8 30,4 9,2

Einen prestigeträchtigenArbeitsplatz bekommen

11,5 35,1 43,0 9,4

Eine glückliche Familie gründen

40,0 39,3 16,3 3,6

Ein eigenesUnternehmen haben

4,6 14,4 27,7 52,2

Karriere machen (beruflich, politisch,gesellschaftlich)

5,5 25,7 23,5 44,0

Den eigenen Lieblings-beschäftigungen nachgehen

30,3 38,7 26,5 3,6

Die wahre Liebe finden

50,1 27,2 17,0 4,5

Verschiedene Länderder Welt bereisen

4,3 20,8 56,5 17,3

Eine eigene Wohnung haben

42,2 23,9 30,9 2,2

Eine guteKindererziehung

28,9 60,6 5,8 3,6

Nicht schlechterals andere leben

26,2 50,4 18,4 4,0

Gute Freunde haben

70,5 19,6 7,2 1,6

Sein Leben ehrlich leben

48,4 38,6 7,6 3,4

Einer interessanten Arbeit nachgehen

29,6 43,3 23,2 3,0

In den Kreisbestimmter Leute gelangen

18,1 23,8 13,2 43,2

Den Respekt der Umgebung gewinnen

57,0 30,6 4,1 6,8

Page 53: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

vier grundlegende Typen von Russinnen

• „Hausfrauen", „Berufstätige", „Karrieristinnen" und „Enttäuschte„ Typen nicht durch entgegengesetzte Lebensziele, sondern durch mehr oder weniger vielfältige Ziele charakterisiert

• „Hausfrau„: auf eine gute Kindererziehung konzentriert und orientiert sich an der Existenz guter Freunde, einem ehrlichen Leben und der Achtung des Umfelds

• „Berufstätige„: an Kindern und an einer interessanten und prestigeträchtigen Arbeit interessiert sowie an der Möglichkeit, Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen und an einer guten Ausbildung

• „Karrieristinnen» haben das breiteste Spektrum an Lebenszielen. Dieser Typ umfasst Frauen, die zusätzlich zu den Lebenszielen der vorherigen Typen ein eigenes Unternehmen haben wollen,

• „Enttäuschte« umfasst Frauen, die ihren Zielen zufolge den „Hausfrauen" sehr nahe stehen, aber der Ansicht sind, dass sie die für diese Gruppe charakteristischen Lebensziele in ihrem Leben nicht werden erreichen können, insbesondere die Ziele Gründung einer glücklichen Familie und eine gute Kindererziehung usw.

Page 54: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Tabelle 2: Verhältnis zwischen den Typen russischer Frauen der vier Gruppen und ihren verschiedenen Ausbildungsniveaus (in Prozent)

Frauen-typen

Ausbildung

Nicht ab-geschlossene

mittlere

Mittlere Mittlere Fachaus-bildung

Nicht ab-geschlossene

höhere

Höhere Wissen-schaftlicher

Grad

Karrieristinnen

8,1 11,3 12,1 40,3 21,5 57,9

Berufstätige 10,8 30,1 36,2 41,0 56,3 31,6

Hausfrauen 54,1 46,4 44,2 15,8 18,4 10,5

Enttäuschte 27,0 12,2 7,5 2,9 3,8 -

Page 55: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

KENNZEICHEN DES ALLTAGSLEBENS

• Untersuchung zeigt, dass die Einschätzung ihrer Lebensumstände durch die russischen Frauen insgesamt eher optimistisch als pessimistisch ausfällt

• Nach Ansicht von 25,5 % der Befragten sind ihre Lebensumstände "gut" und für 62,9 % "zufriedenstellend„

• Nur 11,6 % der befragten Frauen äußerten die Meinung, dass ihre Lebensumstände "schlecht" sind

Page 56: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Tabelle 3: Einschätzung ihrer Lebensbedingungen durch die Frauen (in Prozent)

Gut Zufrieden-stellend

Schlecht

Materielle Absicherung 9,7 55,8 34,5

Ernährung 29,7 59,1 11,2

Kleidung 15,6 61,4 23,0

Gesundheitszustand 26,2 60,2 13,6

Wohnbedingungen 28,0 49,4 22,6

Familienbeziehungen 53,8 39,3 6,9

Möglichkeitender Freizeitgestaltung

20,1 47,5 32,4

Erholungsmöglichkeitwährend des Urlaubs

15,4 36,2 48,4

Gesprächsmöglichkeit mit Freunden

50,4 41,5 8,2

Möglichkeit, sichberuflich zu verwirklichen

24,2 48,6 27,2

Möglichkeit, die nötige Bildung und Ausbildung zu bekommen

20,0 44,1 35,9

Gesellschaftliche Lage und Status

23,5 62,9 13,6

DAS LEBEN INSGESAMT 25,5 62,9 11,6

Page 57: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Wichtigste Eigenschaften des idealen Mannes nach Ansicht der Russinnen (in Prozent)

• Frau mit höherer Bildung will hohes intellektuelles Niveau des Mannes • 30,1 % der Frauen mit mittlerer Bildung nannten Intelligenz als eine der

wichtigsten Eigenschaften des idealen Mannes, 32,7 % derjenigen mit mittlerer Fachausbildung und 49,1 % der Frauen mit höherer Bildung

• Mit steigendem Einkommen der Frauen geben sie dem "materiellen Faktor" weniger Bedeutung (die Fähigkeit, ein materielles Auskommen zu garantieren, nannten 37,8 % der Frauen aus den ärmsten Schichten, 36 % aus den Schichten mit niedrigem Einkommen, 34 % mit mittlerem und 28,1 % der Frauen mit hohem Einkommen als wichtige Eigenschaft des idealen Mannes)

• Insgesamt ist das Bild des idealen Mannes, insbesondere im Bereich der wichtigsten Eigenschaften, die ihn charakterisieren sollen, wie Intelligenz, Gesundheit und die Fähigkeit, ein materielles Auskommen zu garantieren, in den verschiedensten Gruppen von Frauen (unterschieden nach Alter, sozioökonomisch usw.) relativ stabil und spiegelt ihre Anforderungen an ihn nicht nur als Sexualpartner, sondern auch als Lebenspartner und "starke Schulter", an die man sich anlehnen kann, um von den Alltagssorgen auszuruhen

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Anzahl der Kinder, die sich Russinnen wünschen (in Prozent)

• 45,8 % planen, zwei Kinder zu bekommen (während sich dies 54,7 % eigentlich wünschen). Drei oder mehr planen nur 6,3 % (bei 21 %, die sich dies wünschen)

• Zum Verzicht auf ihre "Geburtsansprüche" werden die Frauen in erster Linie durch materielle Schwierigkeiten gezwungen

• Gesamtgesellschaftlich gesehen gebietet ihnen aber auch noch eine andere Tendenz Einhalt: Mit steigendem Einkommensniveau orientieren sich die Frauen in höherem Maße darauf, nur ein Kind großzuziehen

• Tendenz einer sinkenden Kinderzahl bei steigendem Einkommen

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Tabelle: Vorhandene Kinder bei Frauen mit unterschiedlichem Einkommensniveau (in Prozent)

Anzahl und Alter der Kinder

Arme Mit geringem Einkommen

Mit durch schnittlichem Einkommen

Mit hohem Einkommen

Haben keine Kinder

17,3 31,0 38,6 38,8

Haben minderjährige Kinder: - eins - zwei oder mehr

39,7 26,9

33,5 23,3

34,3 10,5

34,5 10,1

Haben minderjährige und erwachsene Kinder

9,0 1,8 4,8 1,4

Haben erwachsene Kinder

7,1 10,4 11,9 15,1

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Wer leistet den Hauptbeitrag zum Familienbudget (in Prozent)?

Hauptbeitrag zum Familienbudget Einschätzung ihrer Familie

Haben bereits eine glückliche

Familie

Haben noch keine, halten dies aber für möglich

Halten dies kaum für möglich

Ist kein Lebensziel

Mein eigener 14,6 25,3 51,5 36,0

Der des Ehemannes

56,5 12,8 17,0 12,0

Der eines anderen Familie-nmitglieds der Frau

0,9 13,7 5,2 16,0

Der einesanderen Familien-mitglieds des Mannes

2,0 19,7 6,6 8,0

Beide leisteneinen gleichenBeitrag

26,1 28,4 19,7 28,0

Page 61: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Meinung der Frauen darüber, was in der Familie zu Konflikten führt (in Prozent)

Häufigste innerfamiliäre Konfliktursachen

Verheiratete Geschiedene Ohne Trauschein Zusammenlebende

Unverheiratete mit festem Partnerv

Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Erziehung und Ausbildung der Kinder

28,0 15,6 15,2 2,6

Charakterliche Unvereinbarkeiten

13,1 15,6 13,4 24,7

Materielle Schwierigkeiten 43,3 33,3 33,9 22,1

Probleme in den Beziehungen mit den Eltern des Mannes oder des Mannes mit seinen Eltern

17,9 8,9 21,4 2,6

Der Mann widmet der Familie wenig Zeit

15,8 7,4 16,1 5,2

Untreue, Eifersucht 4,3 11,1 8,0 7,8

Meinungsverschiedenheiten über nötige Ausgaben

12,2 4,4 12,5 9,1

Probleme in der sexuellen Beziehung mit dem Mann

3,7 4,4 6,3 1,3

Trunkenheit, Drogensucht 15,8 14,1 21,4 7,8

Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Freizeitgestaltung

10,6 2,2 8,9 14,3

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Tabelle 14: Einschätzung der Ursachen familiärer Konflikte unter den Frauen, die Gewalt von Seiten nahestehender Personen erlebt haben

(in Prozent) Konfliktursachen Anteil derjenigen, die Konflikte in der Familie angaben

Trunkenheit, Drogensucht 12,8

Ärger eines der Partner darüber, dass der andere im Leben mehr erreicht hat (z.B. die Frau deutlich mehr verdient als der Mann)

12,0

Unterschiede im intellektuellen und kulturellen Niveau der Partner 11,4

Untreue, Eifersucht 10,4

Probleme in der sexuellen Beziehung zum Mann 7,3

Materielle Schwierigkeiten 5,5

Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Kindererziehung und –ausbildung

5,4

Der Mann widmet der Familie wenig Zeit 5,3

Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Verteilung der familiären Pflichten

4,7

Charakterliche Unvereinbarkeiten 4,5

Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Freizeitgestaltung 2,5

Probleme im Verhältnis zu den Eltern des Mannes oder seines Verhältnisses zu den Eltern der Frau

2,3

Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Verwendung des verfügbaren Geldes

2,0

Meinungsverschiedenheiten über die Auswahl der Gesprächsthemen

0,9

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Armut und Lebensführung

Page 64: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Armut in Russland• Als eines der vorrangigen Ziele russischer Politik wird die

Bekämpfung der Armut angegeben• Diese Losung wurde von allen parlamentarischen politischen

Kräften aufgegriff en und wird in der Regel eng mit der• Zielsetzung einer erheblichen Steigerung der Wirtschaftsleistung

des Landes verbunden.• Weniger deutlich ist jedoch – vor allem für Außenstehende – auf

was sich diese Losung eigentlich bezieht• Daten zum Ausmaß der Armut in Russland, zur materiellen Lage der

armen Bevölkerungsschicht,• ihrer soziodemographischen Zusammensetzung und typischen

Einkommensquellen, ihrem Bildungsstand und politischen Orientierung

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Die materielle Lage der Armen• Was die Höhe des Einkommens pro Familienmitglied angeht, so verfügt ungefähr die

Hälfte der Gruppe, die die Umfrage als Arme identifi ziert, über ein monatliches Einkommen von bis zu 1.500 Rubeln, pro Familienmitglied (das entspricht ca. 50 $).

• finanzielle Lage der Armen in Russland führt häufig in die Schuldenfalle: Sie müssen sich oft schon, um grundlegende Bedürfnisse befriedigen zu können, verschulden – ein Drittel der Armen (und damit doppelt so viele wie im Bevölkerungsdurchschnitt) teilte mit, dass sie sich regelmäßig verschulden müssten

• Beständige (und wachsende) Geldschulden bestehen bei knapp 39% der armen Familien

• Ein Viertel der Armen hat Mietschulden (dies bezieht sich im Falle von Wohneigentum allein auf die Nebenkosten)

• Dagegen haben nur 7,1% der Armen überhaupt irgendwelche Ersparnisse (im Unterschied zu einem Viertel der Gesamtbevölkerung und 80,9% der im obigen Sinne „Reichen“)

• Die Hälfte der Armen gibt an, sich schlecht zu ernähren (in der Gruppe der weniger Versorgten waren dies 15,4%, in der Mittelschicht nur 1%).

• jeder zweite Arme kann praktisch keine bezahlten Dienstleistungen in Anspruch nehmen (die den übrigen Bevölkerungsschichten durchaus zugänglich sind)

• So können sie sich etwa medizinische Dienstleistungen, auch wenn sie dringend erforderlich sind, nicht leisten.

• Über 70% der Armen haben keinerlei Möglichkeit, ihre Freizeit angenehm zu gestalten oder sich zu erholen (bei der Bevölkerung insgesamt ist dies ein Drittel)

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Soziodemographische Besonderheiten derArmen

• Die hier beschriebene Armut tritt in Russland verstärkt in bestimmten Bevölkerungsgruppen auf.

• So sind beispielsweise Arme insgesamt älter als der Bevölkerungsdurchschnitt.

• Alter eines durchschnittlichen russischen Armen liegt bei 47 Jahren, während das Durchschnittsalter der Reichen bei 33 Jahren liegt

• Ursache ist der niedrige Lebensstandard der Rentner• Alter erhöht in Russland das Armutsrisiko• deutliche Tendenz zur geographischen Verbindung von Armut

und kleinen Städten bzw. Dörfern beobachten• Liegt der Anteil der Armen an der Bevölkerung im

Landesdurchschnitt bei 23,4%, so sind dies in den Dörfern 30,6%, in kleineren Städten 24,2%, in den größeren Städten jedoch bloß 18–19%

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Armut in Russland• Besonders hoch ist der Anteil der Armen im Wolgagebiet und im fernen Osten,

während er in Moskau nur halb so groß ist wie im Landesdurchschnitt• Die Armen der IKSI-Umfrage lassen sich in zwei Untergruppen einteilen.• Dies sind einerseits diejenigen, die man als „einfach Arme“ bezeichnen kann und

„Elende“• den Daten zufolge zeichnet sich diese Gruppe der „Elenden“ dadurch aus, dass

ihre Vertreter stark verschuldet sind und ihnen Haushaltsgeräte wie Staubsauger, Möbelgarnitur oder Farbfernseher besonders häufig fehlen

• Von den Vertretern dieser Gruppe wohnen zudem im Vergleich zur Gruppe der „einfachen Armut“ doppelt so viele (ungefähr zwei Drittel) in Wohnheimen, zur bloßen Miete oder in einer sog. „kommunalka“ (d.h. sie bewohnen zusammen mit einer oder mehreren anderen Parteien eine Wohnung, wobei sie sich Küche, WC und Bad teilen müssen)

• Hinzu kommen das Unvermögen, teure Dienstleistungen zu bezahlen, und häufig problematische Beziehungen innerhalb der Familien

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Die Einkommensquellen der Armen• Arm sind in Russland bei weitem nicht nur Rentner, Invalide oder andere

Empfänger sozialer Transfers• der Anteil der Empfänger von Sozialtransfers ist unter den Armen zwar größer

als im Bevölkerungsdurchschnitt, ihre Haupteinkommensquelle besteht aber dennoch in lohnabhängiger Beschäftigung.

• Diese Arbeit erspart ihnen in keiner Weise die Zugehörigkeit zur Gruppe der Armen. Sie sind sogenannte „working poor”. Und dies oft auch dann, wenn sie auf mehreren Stellen gleichzeitig arbeiten, was in Russland, eine in allen Einkommensgruppen weit verbreitete Praxis ist

• Arbeit selbst ist bei den „working poor” häufig schwer, schmutzig, schlecht bezahlt und uninteressant: 33,6% gaben an, dass ihre Arbeit physisch schwer sei, Schmutz nannten 22,2%.

• meistgenannte negative Merkmal der Arbeit war der Lohn – fast 70% der Armen beklagten das niedrige Niveau und die Unregelmäßigkeit der Auszahlung der Löhne

• inhaltlich gestaltet sich die Arbeit der Armen wesentlich weniger interessant als die der Reichen. besonders häufig wurden zudem mangelnde Karrieregelegenheiten genannt – 42,8% der Armen gaben an, ihre Arbeit sei perspektivlos.

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Obdachlose und Bettler in Russland

• Obdachlosigkeit und Bettlerei sind soziale Phänomene, die in der russischen Öffentlichkeit kaum beachtet

• werden. Sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Debatte um soziale Probleme und Armut in

• Russland beschäftigt sich vorrangig mit der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme. Dieser Beitrag hingegen

• versucht einen Überblick zu geben über die Lage von Menschen, die vom sozialen Sicherungssystem

• überhaupt nicht mehr erreicht werden. Gleichzeitig wird auch der gesellschaftliche Umgang mit diesen

• Menschen thematisiert.

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Obdachlosigkeit ist in Russland kein ausschließlichpost-sowjetisches Phänomen

• Auch in der Sowjetunion gab es Obdachlose.• Allerdings wurde das Problem der Obdachlosigkeit in der Sowjetzeit völlig

aus der öffentlichen Diskussion verbannt und kriminalisiert• Fehlen einer offiziellen Anmeldung am Wohnort, die mit einem Stempel

(„Propiska“) im Personalausweis verbunden war, stellte einen Straftatbestand dar

• Auch öff entliches Betteln war in der Sowjetunion verboten (Sowjetische Strafgesetzbuch, Artikel 198: Verstoß gegen die Meldepfl icht und Artikel 209: systematische Landstreicherei und Bettlerei)

• Erst mit dem Ende der Kriminalisierung im Jahre 1991 wurde eine offene Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit und Bettelei sowie die Gründung von Hilfsorganisationen möglich

• Defintion: Obdachlose sind Menschen, die keine Wohnung besitzen oder nicht das Recht haben, Wohnraum zum Leben oder Aufenthalt zu benutzen und die nicht am Wohn- oder Aufenthaltsort gemeldet sind. Es sind Menschen, die, da sie keine Wohnung haben, gezwungen sind, in nicht dafür vorgesehenen Räumen – Dachböden, Kellern, Treppenhäusern – oder auf der Straße zu wohnen

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„bomzh“• In der Alltagssprache hat das Wort „bomzh“ eine ganze Reihe von negativen

Konnotationen: ungepflegtes und schmutziges Aussehen, unangenehmer Geruch, alte und dreckige Kleidung, die nicht der Jahreszeit entspricht, ständig bei sich geführte große Taschen oder Tüten

• Dem „bomzh“ wird in der herkömmlichen Vorstellung auch zugeschrieben, dass er Mülltonnen durchwühlt, dass er bettelt, trinkt und keine Arbeit und damit keine Beschäftigung und kein Einkommen hat

• Diese Lebensweise wird von der Gesellschaft verurteilt und wird auf eine moralische Pathologie der betreffenden Person zurückgeführt.

• Verwendung der Abkürzung „bomzh“ in der Alltagssprache ist eine Sprachpraxis, die soziale Distanz zwischen Obdachlosen und der Gesellschaft herstellt, indem sie Verachtung für die Obdachlosen demonstriert.

• In der russischen Gesellschaft haben Obdachlose aber de facto unterschiedlichen sozialen Status. Es

• sind ehemalige Strafgefangene, die ihre Wohnung nach russischem Recht verloren haben, ehemalige Bewohnern von Kinderheimen, Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge, Menschen, die ihre Wohnung durch betrügerische Machenschaften verloren haben oder die ihre Wohnung freiwillig verkauft haben, aber keine neue Wohnung gefunden haben, Menschen, die wegen familiärer Konflikte auf die Straße geraten sind

Page 79: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Soziales Profil der Obdachlosen• Es gibt in Russland keine zuverlässige Statistik zur Zahl und

zu sozialen und demografischen Merkmalen von Obdachlosen

• Es gibt nur einzelne Daten von regionalen staatlichen und sozialen Organisationen, die Obdachlosen Hilfe leisten.

• Ausgehend von Daten aus Moskau und Nowosibirsk, die durch Befragungen gewonnen wurden, kann aber ein Profil der russischen Obdachlosen erstellt werden

• Es dominieren geschiedene Männer im Alter von 30 bis 50 Jahren

• Mehrheit der Obdachlosen besitzt einen Schulabschluss, fast ein Viertel auch eine weiterführende Bildung

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Bettler• Viele der Bettler, die heute auf den Straßen St. Petersburgs um Almosen

bitten, sind „gewöhnliche Menschen“, die Bettelei nutzen, um das Familienbudget aufzubessern

• Dazu gehören etliche Menschen, die in der vorherigen sowjetischen Gesellschaft zu Mittelklasse gehört hatten

• Etwa Personen mit Hochschulabschluss (meist in Pädagogik oder Philosophie), die nicht ihre Wohnung, ihre Verbindung zur Gesellschaft oder zur Familie verloren haben

• So bezahlte eine Respondentin mit ihrer Bettelei den Musikrepetitor für ihre Enkelin, die auf eine angesehene Musikschule ging

• Gleichzeitig gibt es Bettler, die auf der städtischen Müllhalde leben und alles verloren haben – Arbeit, Wohnung, Familie.

• Ebenso unterschiedlich sind die Einkünfte, die durch Straßenbettelei erzielt werden: Die einen sammeln Kopeken „für eine Flasche“ oder für ein karges Abendessen, die anderen tauschen die erhaltenen Almosen in ausländische Valuta um und geben sie zur Aufbewahrung in sichere Hände

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Bettlertypen• Klassische Bettlertypen sind vor allem- „Rentner“- „Mütter mit Kind“- „obdachlose Kinder“- „Invaliden“- „Veteranen“,- „Migranten/Flüchtlinge“

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Lebensführung und Religion

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Lebensführung und Religion in Russland

Welche Rolle spielt Religion im Alltag?

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1. Religionsbegriff (substantiell – funktional)

2. Funktionen von Religion (Bedeutung der Religion in der und für die Gesellschaft)

3. Karl Marx (Religion ist das Opium des Volkes)

4. Max Weber (Säkularisierungsthese)

5. Emile Durkheim (Integrationsthese)

Page 89: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Religionsbegriff

„substantiell“ = religiöse Erfahrungen des Heiligen und Göttlichen („was Religion ist“)

„funktional“ = „was Religion leistet“, die „Bedeutung“ von Religion für den einzelnen Menschen (existenzielle Fragen) und für die Gesellschaft, auch trotz Wandels in der Sozialgestalt (z.B. der institutionellen Form) der Religion

Page 90: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Die substantielle Definition von Religion

• Bestimmung der Religion von ihrem Wesen (Substanz) und ihrer Eigenheit her

• Bezug auf das „Heilige“ und nicht erfassbare (Transzendenz)

• Spezielle Erfahrungen und spezifische Rituale

• Bezug auf das „Nicht-Alltägliche“ im Gegensatz zum „Profanen“ bzw. „Alltäglichen“ (z.B. Glaube an „Götter“)

• Verständnis nach traditionell vorgegebenen Inhalten, z.B. Abgrenzung gegenüber Magie

Page 91: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Die funktionale Definition von Religion

• Bestimmung der Religion von ihrer gesellschaftlichen Leistung und Problemlösungskapazität her

• Gesellschaftliche Bedeutung von Religion im Zentrum

• Es wird gefragt, was für Funktionen Religion in einer Gesellschaft erfüllen müssen und erfüllen (z.B. Integration)

• Nicht verengter, sondern weiter Religionsbegriff

Page 92: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Was ist Religion – soziologisch gesehen?

• Fasst man die Klassiker zusammen, so kann man vier Elemente der soziologischen Religionsdefinition ausmachen:

1) Individuelle Überzeugungen (Glaube an Gott)

2) Soziale Praktiken (Ritual, Zeremonien, Gottesdienst)

3) Moralische Gemeinschaft (Verpflichtungen, Normen)

4) Institutionelle Ausprägung (Kirche)

• Anmerkung: Religion wird dabei als Teil der Kultur angesehen, welche vielfältig in die Gesellschaft eingebunden ist.

Page 93: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Probleme der Definition von Religion

1) ein uneinheitliches Phänomen, da es verschiedene Religionen gibt Problem der gemeinsamen Gestalt

2) ein umfassendes Phänomen, welches nicht vollständig trennscharf zu anderen sozialen Phänomenen abzugrenzen ist Abgrenzungsproblem

3) bewegt sich im Transzendenten, was es einer empirischen Erfassung und Erfahrung teilweise entzieht Problem der Gegenwärtigkeit

4) Religiosität ist subjektiv und damit dem Forscher nicht direkt zugängig Zugängigkeitsproblem

5) Religion ist nicht in allen seinen Ausprägungen (direkt) mess- und erfassbar Messbarkeitsproblem

Page 94: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Warum das Interesse der Soziologie an der Religion?

(Noch) relativ hohe gesellschaftliche Bedeutung in verschiedenen historischen Perioden für den Alltag der Menschen

Bezugnahme in öffentliche Debatten mit politischen Aussagen und Positionen

Zentraler Faktor des Erkenntnisbereichs Kultur

Hauptsächlich durch kollektive Prozesse geprägt, was das Zielinteresse der Soziologie darstellt

Hohe Bedeutung von Religion und Kirche für die Integration und damit die Konstitution der Gesellschaft (politisch, sozial, moralisch, normativ)

Page 95: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Konkrete Fragen der Religionssoziologie Wie entstehen religiöse Organisationen und was erhält sie?

Wie haltbar sind religiöse soziale Institutionen?

Warum werden oder bleiben Menschen religiös?

Warum gehen Menschen in die Kirche?

Sind bestimmte soziale Gruppen religiöser als andere und warum sind sie dies?

Was bewirkt Religiosität/Kirchlichkeit in der Gesellschaft?(Wahlverhalten, soziales Vertrauen, Sicherheit, Toleranz)

Was wirkt auf Religiosität/Kirchlichkeit ein?(soziale Lage, Ideologien, soziale Krisen, Bedürfnisse)

Page 96: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Neue Fragen der Religionssoziologie

1) Wie ist das Verhältnis zwischen Religion oder Religionen und Politik? Schafft Religion Frieden oder eher Auseinandersetzungen? Sind Kirchen für politisches Handeln ohne Bedeutung? Gibt es so etwas wie eine Zivilreligion?

2) Besitzt Religion für die Gesellschaft noch eine Bedeutung? Säkularisierung oder Individualisierung? Ebnet die Globalisierung sie ein? Spielt Religion noch eine öffentliche Rolle?

3) Wie ist die aktuelle Entwicklung von Religion? Verschwindet sie oder taucht sie ab ins Private? Finden sich kulturspezifisch differente Entwicklungen? Hängt sie von gesellschaftlichen Faktoren ab?

Page 97: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Karl Marx – Religion ist das Opium des Volkes• "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden

interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.“• entwickelt in seinem berühmten Text nicht nur die These von

der Religion als Opium des Volkes• Für ihn ist die Religion Ausdruck des gesellschaftlichen Elends

und zugleich auch Protest gegen dieses Elend

Page 98: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Max Weber

• Wirtschafsethik der Weltreligionen

• Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

(Protestantismus – Kapitalismus – These)

Ausgangspunkt ist seine Erkenntnis, dass immer und überall religiöse Mächte und die an sie gebundenen Pflichtvorstellungen »zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung« gehörten.

Prozess der Rationalisierung – dass die Menschen sich ihres Handelns als menschlichem „bewusst“ werden.

Entzauberung der Welt - magische Überzeugungen von der Heilsgewinnung werden durch rationalisierte und ethische Maximen ersetzt.

Page 99: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Emile Durkheim (1858-1917)

definiert religiöse Phänomene als „verpflichtende Glaubensformen, welche mit definierten Handlungsweisen verbunden sind, die sich auf die in den Glaubensvorstellungen gegebenen Objekte beziehen“.

-Religion ist deswegen ein genuin sozialer Tatbestand, ein „fait sociale“

- Ursprung der Religion liegt nicht in individuellen Gefühlen, sondern in kollektiven Anschauungen

- Religion hat konstitutiven Charakter für Gesellschaft, weil sie den Bezugsrahmen für alles soziale Handeln bildet, indem sie ein System notwendiger Normen und Denkweisen bereit stellt

Page 100: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Säkularisierung - Das langfristige Verschwinden von

Religion aus der Gesellschaft?

- Religion verliert in den sich modernisierenden Gesellschaften ihre soziale Bedeutung

• Lösung der Menschen von der Religion und die Ausrichtung des Lebenswandels nach den Grundsätzen der menschlichen Vernunft

• Entscheidend ist das Spannungsverhältnis zwischen sich in Moderne ausbreitender Rationalisierung sowie funktionaler Differenzierung und Religion

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Säkularisierungsverständnisse Religiöse Symbole, Doktrinen und Institutionen verlieren an Bedeutung

(sozialer Bedeutungsverlust)

Verdrängung der Religion in private Arenen der Gesellschaft (Privatisierung von Religion)

Rational-kausale Erklärungen ersetzen religiöse Deutung (Desakralisierung der Welt)

Bewegung von einer traditional-religiösen zu einer modern-säkularen Gesellschaft (Wertewandel)

Hinwendung zum Alltagsleben und Abwendung von einer religiösen Lebensführung (Lebensstilwandel)

Ersatz von religiösen Überzeugungen durch nicht-religiöse Überzeugungen (Umformung des Wissens)

Page 102: Zur Soziologie des Alltags: Lebensführung in der Sowjetunion und im heutigen Russland

Aber: mögliche Gegenprozesse

„Cultural Defense“ = Verbindung von Nationalismus mit Religion als Reaktion auf durch die Individuen wahrgenommene Bedrohungen ihrer Kultur

„Cultural Transition“ = Religion wird bedeutsame Ressource für Minoritäten zum Erhalt und/oder zur Schaffung einer eigenen Identität in einer dominanten Mehrheitskultur(auch Schulterschluss zwischen Kirchen und Gläubigen)

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