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Kung Fu:
Mehr als nur dynamische Bewegungen
Paragrana Internationale Zeitschrift fr historis che Anthroplogie
Band 19, 2010, Heft 1
(http://bit.ly/1cmcDhS)
Ansgar Gerstner
Die meisten Menschen im Westen denken bei dem Begriff Kung Fu wohl vorrangig
an dynamische, spektakulre Bewegungen, hohe Futritte und Sprnge. In der Tat
gibt es Stile, deren Bewegungen durch Dynamik und zum Teil akrobatische Elemente
gekennzeichnet sind. Es sind dies zum einen so genannte traditionelle Stile, also
Stile, die zwischen zwei- und vierhundert Jahre alt sind, zum anderen das moderne
Wushu, in dem Bewegungen aus unterschiedlichen chinesischen Kampfkunststilen
zu einem vereinfachten, sich auf die sportlichen Aspekte konzentrierenden
bungssystem zusammengefasst und standardisiert worden sind. Wushu entstand in
den fnfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Volksrepublik China und hat auch
weite Verbreitung im Westen gefunden (Yu Shuiqing, S. 162-177).
Kampknste gibt es in China schon seit vorchristlicher Zeit. Die heute bekannten
traditionellen Stile und davon gibt es nicht wenige lassen sich historisch
nachweisbar jedoch allenfalls bis ins 17. Jahrhundert zurckverfolgen und sind
ihrerseits wiederum vielfach in unterschiedliche Abstammungslinien unterteilt.
Manche Stile enthalten spektakulre Bewegungen, andere wirken auf den ersten
Blick recht unbeeindruckend, basieren aber auf komplexen theoretischen
Grundlagen, auf die ich spter eingehen werde. Die wohl bekanntesten
Stilrichtungen sind die Shaolin-Stile (), Taiji Quan (), Xingyi Quan (
), Bagua Quan (), Hong Quan (), Baji Quan (), Chang Quan (
Langfaust), Tongbei Quan (), Tanglang Quan ( Gottesanbeter),
Hua Quan (), Cailifo ( Choy Lee Fut), Yongchun Quan ( Wing
Chun) und diverse Tier-Stile. Natrlich gibt es noch viele weitere Stile, Abspaltungen
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von bekannten Stilen, Mischformen und Stile, die nur im kleinen Kreis vermittelt
werden.
Zunchst noch eine grundlegende Erluterung zum Begriff Kung Fu (): Im
Westen wird der Begriff Kung Fu, der gem der offiziellen Lautumschrift der
Volksrepublik China heutzutage als Gongfu geschrieben wird, immer automatisch
mit den chinesischen Kampfknsten verknpft und ist in der Tat ein Oberbegriff dafr.
Eigentlich bezeichnet er jedoch allgemein groe Fertigkeit. Die Formulierung
er/sie hat echtes Gongfu kann deshalb fr viele Bereiche des Lebens verwendet
werden.
Bevor ich auf Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Stilrichtungen und
Schulen des Kung Fu eingehe und philosophische Gedanken vorstelle, die groen
Einfluss auf die chinesischen Kampfknste hatten und weiterhin haben, mchte ich
im Folgenden zunchst einen kurzen berblick ber unterschiedliche Richtungen in
den Kampfknsten in der Gegenwart geben. Dabei geht es mir vor allem darum zu
zeigen, dass es ungeachtet des Eindrucks, den manche Kampfkunstschulen
erwecken mgen, beim Kmpfen traditionellerweise um sehr viel mehr geht als um
das mglichst rasche Siegen in einer krperlichen Konfrontation.
Verschiedene Aspekte des Kmpfens
Ihre immer geringer werdende Rolle in militrischen Zusammenhngen hat zu einer
Neuorientierung der Kampfknste gefhrt. Vor allem im 20. und 21. Jahrhundert
leben viele der Menschen, die Kung Fu betreiben, nicht mehr in einem Umfeld, das
von ihnen stndige Kampfbereitschaft verlangt. Es gibt zwar auch heutzutage noch
viele Stile, in denen das Hauptgewicht auf den Kampfaspekt gelegt wird in diesem
Zusammenhang wird oft von ueren Stilen gesprochen. Es gibt jedoch auch
solche, bei denen die ursprngliche Kriegs- oder Kampfkunst-Herkunft nicht mehr
offensichtlich ist. Vor allem in berlieferungstraditionen, in denen philosophische,
medizinische und energetische Aspekte sowie auch Persnlichkeitsentwicklung
ursprnglich bereits eine wichtige Rolle spielten, ist der konkrete Kampfaspekt weiter
in den Hintergrund gerckt. Letztere werden hufig als innere Stile bezeichnet.
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Der Unterschied in der Gewichtung der Lehr- und Lerninhalte, welche der oben
genannten Aspekte also im Vordergrund stehen, ist meiner persnlichen Erfahrung
nach jedoch weniger vom Stil, den man praktiziert, abhngig als von der eigenen
Persnlichkeit, Bildung und Orientierung sowie der des Lehrers bzw. der Lehrerin.
Auch das Alter spielt eine bedeutende Rolle. Das Interesse an dynamischen,
manchmal auch spektakulren Bewegungen ist in jungen Jahren grer. Die
Beschftigung mit philosophischen und strategischen Aspekten, Gesundheit und
Persnlichkeitsentwicklung bekommt in mittleren und spteren Jahren ein greres
Gewicht.
Doch selbst bei Kampfkunstschulen, deren Augenmerk klar auf dem Aspekt des
Kmpfens liegt, gibt es groe Unterschiede. Ein breites Spektrum zwischen
Einfachheit und Komplexitt, Oberflchlichkeit und Tiefe ist seit alters her in den
Kampfknsten zu finden. Dies spiegelt sich in der Gegenwart wider. Am hufigsten
sind Richtungen, die technisch und taktisch orientiert sind. Weitaus komplexer,
jedoch weniger einfach zu finden, sind Schulen, in denen zwar Technik und
taktisches Agieren eine wichtige Rolle spielen, deren zentrales Augenmerk jedoch
auf der praktischen Umsetzung, also Anwendung energetischer Konzeptionen liegt.
Und schlielich gibt es auch die Schulen ich spreche hier bewusst nicht von Stilen
, in denen der Kampfaspekt in all seinen Facetten in einen Rahmen eingebunden ist,
in dem auch den gesundheitlichen, energetischen und spirituellen Aspekten
(Persnlichkeitsentwicklung) eine wichtige Bedeutung beigemessen wird ().
Die chinesischen Kampfknste kennen fr diesen Zusammenhang eine schne
Redewendung, die in Deutsch leider sehr viel profaner klingt als im Chinesischen:
Wenn man nur das Kmpfen bt, ohne gleichzeitig innere bungen zu praktizieren
(zu meditieren, Qigong zu ben und an der eigenen Persnlichkeit zu arbeiten), steht
man im Alter mit leeren Hnden da. () (Sun Dongyi, S.
58).
In vielen Kampfkunstschulen wird dem allerdings wenig Folge geleistet. Nicht nur
dass das Kmpfen im Vordergrund steht, es wird auch in einem engen Sinne vor
allem Wert auf Sparring gelegt. Das Kmpfen hat jedoch vor allem, wenn es
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tatschlich in einen buddhistischen oder daoistischen Kontext eingebettet ist eine
weitaus tiefere Bedeutung und eine klare Verwandtschaft zur chinesischen Medizin.
Hier geht es nicht um Machterwerb, Machterhalt und Zerstrung, sondern um
Heilung im weitesten Sinn, nmlich um die Regulierung einer Situation, die aus dem
Lot zu geraten droht oder bereits geraten ist. Das Augenmerk liegt auf Prvention
und der Auflsung explosiver Spannung und von Verspannungsmustern. Ziel ist der
Schutz, der Erhalt oder das Erlangen harmonischer sozialer Beziehungen.
Gewalt mit Gewalt zu begegnen, erzeugt meist mehr Gewalt, die Ausbung von
Gewalt wird zu einer gesellschaftlich anerkannten Form des Konfliktmanagements
um einen modernen Ausdruck zu verwenden. Im Idealfall aber werden explosive
Spannung und Aggression nicht von einem Ort an einen anderen gedrngt, sondern
schon im Vorfeld verhindert (Prvention), indem Situationen geschaffen werden, die
Gewaltausbrchen keinen Nhrboden bieten. Ist Gewalt bereits zu Tage getreten,
liegt bei tatschlich buddhistischer oder daoistischer Orientierung das Augenmerk
nicht darauf, wiederum gewaltsam dagegen anzugehen, sondern sie aufzulsen,
ohne weiteres Konfliktpotential zu schaffen. Von daher geht es in den chinesischen
Kampfknsten grundstzlich um Konfliktlsungsstrategien und damit um jenes
strategische Denken, das im alten China stark philosophisch verankert war und in
dem der Gedanke der Harmonie eine wichtige Rolle spielt.
Im Buch Laozi (ca. 4.-3. Jh. v. Chr.), das fr die Kampfknste von groer Bedeutung
war und auch weiterhin ist, liest man dazu folgendes:
Man erwidere Groll mit Gte. (, Kapitel 63, eigene bersetzung)
Kmpft man aus Frsorglichkeit, dann siegt man. (, Kapitel 67,
eigene bersetzung)
Ein guter militrischer Befehlshaber ist nicht kriegerisch. Ein guter Kmpfer ist
nicht jhzornig. Ein guter Gewinner wetteifert nicht. (
, Kapitel 68, eigene bersetzung)
In dem chinesischen Strategie-Buch schlechthin, Die Kriegskunst des Sunzi (= Sun
Tzu; ca. 4. Jh. v. Chr.), findet man das Konzept des Kmpfens ohne zu kmpfen,
das spter in sehr vielen Bereichen und auf sehr unterschiedlichem Niveau
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aufgegriffen wurde und weiterhin wird. Es war und ist auch fr die chinesischen
Kampfknste von groer Bedeutung. Hier zwei Zitate:
Aus allen Schlachten siegreich hervorzugehen, ist nicht die hchste Stufe. Nicht
zu kmpfen und dennoch die Armeen des Gegners zu unterwerfen, ist die hchste
Stufe. (, eigene
bersetzung, Sun Tzu, Kapitel 3)
Ein guter Armeefhrer unterwirft die Armeen des Gegners ohne zu kmpfen. (
, eigene bersetzung, Sun Tzu, Kapitel 3)
Fr die drei groen Geistesstrmungen Chinas Konfuzianismus, Daoismus und
Buddhismus ist das Arbeiten an der Reifung der eigenen Persnlichkeit die
Grundvoraussetzung dafr, im jeweiligen politischen oder sozialen Kontext
konstruktiv und wirksam ttig sein zu knnen. In diesem Sinne beginnt jedwede
Prvention von Gewalt bei der eigenen Person genauso wie jede bermige
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