existenzielleperspektiven in psychotherapieund beratung · 2014. 7. 2. · bcher 201 filme 206...

23
Noyon Heidenreich Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung

Upload: others

Post on 05-Feb-2021

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

  • Noyon • Heidenreich

    Existenzielle Perspektivenin Psychotherapie undBeratung

  • Noyon • Heidenreich

    Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung

  • Alexander Noyon • Thomas Heidenreich

    Existenzielle Perspektivenin Psychotherapie und Beratung

  • Anschrift der Autoren:

    Prof. Dr. Alexander NoyonHochschule MannheimFakultxt fwr SozialwesenPaul-Wittsack-Straße 1068163 MannheimE-Mail: [email protected]

    Prof. Dr. Thomas HeidenreichHochschule EsslingenFakultxt Soziale Arbeit, Gesundheit und PflegeFlandernstraße 10173732 EsslingenE-Mail: [email protected]

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhxltlich (ISBN 978-3-621-27931-4)

    DasWerk und seine Teile sind urheberrechtlich geschwtzt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlichzugelassenen Fxllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52aUrhG:Weder dasWerk noch seine Teile dwrfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in einNetzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch fwr Intranets von Schulen und sonstigen Bildungs-einrichtungen.

    Haftungshinweis: Trotz sorgfxltiger inhaltlicher Kontrolle wbernehmen wir keine Haftung fwr dieInhalte externer Links. Fwr den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiberverantwortlich.

    1. Auflage 2012, Beltz, Weinheim

    ! Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2012Programm PVU Psychologie Verlags Unionhttp://www.beltz.de

    Lektorat: Dr. Svenja WahlHerstellung: Uta EulerReihengestaltung: Federico Luci, OdenthalUmschlagbild: istockphotoSatz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

    E-Book

    ISBN 978-3-621-27961-1

  • Inhalts�bersicht

    Vorwort 11

    Einf�hrung 14

    Teil I Grundlagen

    1 Philosophische Grundlagen: die Existenzphilosophie 252 Die psychotherapeutische Tradition: existenzielle Psychotherapie 413 Integration existenzieller Ans�tze in Psychotherapie und Beratung 55

    Teil II Anwendung

    4 Sinnlosigkeit: Finden einer Lebensperspektive sowie Ziel- undWertkl�rung 71

    5 Schuldgef�hle 976 Ablehnung von Verantwortung 1137 Tod und Sterben 1258 Unver�nderbare Leidenszust�nde 1459 Isolation, Einsamkeit und Liebe 163

    10 Suizidalit�t 175

    Abschluss und Fazit 197

    Anhang

    Anhang 1: Empfehlungen zur Bibliotherapie 201

    Anhang 2: Muster Notfallplan bei Suizidalit�t 209

    Literaturverzeichnis 210

    Sachwortverzeichnis 215

    Inhalts�bersicht 5

  • Inhalt

    Vorwort 11

    Einf�hrung 14

    Teil I Grundlagen 23

    1 Philosophische Grundlagen: die Existenzphilosophie 251.1 Auswahl bedeutender Existenzphilosophen 251.2 Darstellung einzelner Existenzphilosophen 271.2.1 Søren Kierkegaard 281.2.2 Friedrich Nietzsche 301.2.3 Martin Buber 311.2.4 Karl Jaspers 321.2.5 Paul Tillich 331.2.6 Martin Heidegger 341.2.7 Jean-Paul Sartre 361.2.8 Albert Camus 371.2.9 Weitere Existenzphilosophen 381.3 Bedeutung der Existenzphilosophie f�r existenzielle Ans�tze

    in Psychotherapie und Beratung 39

    2 Die psychotherapeutische Tradition:existenzielle Psychotherapie 412.1 Einzelne Ans�tze der existenziellen Psychotherapie 412.1.1 Daseinsanalyse (Ludwig Binswanger; Medard Boss) 422.1.2 Logotherapie und Existenzanalyse (Viktor Frankl) 432.1.3 Britische Schule der Existenzanalyse (Emmy van Deurzen) 452.1.4 Amerikanischer existenziell-humanistischer Ansatz

    (Rollo May; Irving Yalom) 472.1.5 Weitere Vertreter existenzieller Psychotherapie 512.2 Dimensionen existenzieller Psychotherapie 52

    3 Integration existenzieller Ans�tze in Psychotherapieund Beratung 553.1 Existenzielle Ans�tze und ihr Bezug zu weiteren Psycho-

    therapieverfahren 553.1.1 Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psycho-

    therapie 56

    Inhalt 7

  • 3.1.2 Humanistische Ans�tze 573.1.3 (Kognitive) Verhaltenstherapie 583.1.4 Systemische Ans�tze 593.1.5 Allgemeine Psychotherapie 593.2 Existenzielle Ans�tze in der Beratung 603.2.1 Existenzielle Beratung im engeren Sinne 603.2.2 Potenziale existenzieller Ans�tze f�r die Beratung 613.3 Empirische Fundierung existenzieller Ans�tze 623.4 Ansatzpunkte existenzieller Ans�tze in Therapie und Beratung 633.4.1 Existenzielle Haltung in der therapeutischen Beziehung

    und Gespr�chsf�hrung 633.4.2 Anregungen f�r den Umgang mit existenziell bedeutsamen

    Inhalten 65

    Teil II Anwendung 67

    4 Sinnlosigkeit: Finden einer Lebensperspektivesowie Ziel- und Wertkl�rung 714.1 Zwei Perspektiven der Sinnfindung 724.2 Therapeutische Aspekte bei der Behandlung

    von Sinnproblemen 734.3 Sinnkonstruktivismus 764.3.1 Grundlagen 764.3.2 Therapeutische Arbeit im Kontext des Absurden 784.4 Sinnobjektivismus 834.4.1 Grundlagen 834.4.2 Therapeutische Arbeit im Kontext des objektiven Sinns 854.5 Das Sinnkonzept des Therapeuten 92

    5 Schuldgef�hle 975.1 Existenzielle Betrachtung der Schuld 985.1.1 Ist schuldfreies Leben mçglich? 995.1.2 Schuld vs. Verantwortlichkeit 1015.2 Therapeutischer Umgang mit Schuld 1025.2.1 Analyse des Verantwortlichkeitsanteils 1035.2.2 Analyse des Schuldanteils 1065.2.3 Behandlung von echter Schuld 1075.2.4 Umgang mit existenzieller Schuld 109

    6 Ablehnung von Verantwortung 1136.1 Existenzielle Betrachtung der Verantwortung 1146.1.1 Schicksal vs. Freiheit 1146.1.2 Existenzielle Dimension der Verantwortung 116

    Inhalt8

  • 6.2 Behandlung von Verantwortungsproblemen 1186.2.1 Angst als aufrechterhaltende Bedingung 1186.2.2 Ermunterung zur Entscheidung 1196.2.3 Das Treffen von Entscheidungen �ben 1206.2.4 Umgang mit Verzweiflung �ber nicht genutzte Chancen 122

    7 Tod und Sterben 1257.1 Existenzielle Betrachtungen zu Tod und Sterben 1267.1.1 Tod 1277.1.2 Isolation 1287.1.3 Freiheit 1307.1.4 Sinnlosigkeit 1317.2 Therapeutische Implikationen 1317.2.1 Therapeutische Grundhaltung 1317.2.2 Glaubenss�tze und Werte des Klienten 1347.2.3 Umgang mit Endlichkeit und Sinnverlust durch den Tod 1357.2.4 Zwischenmenschliche Bindung und Todesangst 1397.2.5 Bibliotherapie 1417.2.6 Umgang mit Angst vor dem Sterbeprozess 142

    8 Unver�nderbare Leidenszust�nde 1458.1 Existenzielle Betrachtung des Leidens 1468.1.1 Leiden als konstituierendes Merkmal der menschlichen Exis-

    tenz 1468.1.2 Leidenszust�nde als Chance f�r Reifung 1488.1.3 Einstellungswerte im Sinne Viktor Frankls 1498.1.4 Die therapeutische Haltung angesichts unab�nderlichen Leids 1518.2 Die Psychotherapie von Menschen mit Leidenszust�nden 1518.2.1 Phase 1: Unterscheidung 1528.2.2 Phase 2: Begraben der sinnlosen Hoffnung 1548.2.3 Phase 3: Neuorientierung 157

    9 Isolation, Einsamkeit und Liebe 1639.1 Existenzielle Isolation 1639.1.1 Der Mensch in seinem Getrenntsein von der Welt 1639.1.2 Therapeutischer Umgang mit der existenziellen Isolation 1659.2 Einsamkeit und Alleinsein 1679.2.1 Isoliertsein als Wesensmerkmal des Menschen 1679.2.2 Therapeutischer Umgang mit Einsamkeit und Alleinsein 1679.3 Liebe 1709.3.1 Liebe als menschliche Antwort auf Isolation 1709.3.2 Liebe als Thema in Therapie und Beratung 171

    Inhalt 9

  • 10 Suizidalit�t 17510.1 Existenzielle Betrachtung der Suizidalit�t 17610.2 Therapeutischer »Fahrplan« zur professionellen Reaktion

    in suizidalen Krisen 18110.2.1 Einsch�tzung der Suizidalit�t 18110.2.2 Entscheidungen und Maßnahmen bei Suizidalit�t 18610.3 Therapie bei Suizidalit�t 19210.4 Wenn sich ein Klient umgebracht hat 194

    Abschluss und Fazit 197

    Anhang 199

    Anhang 1: Empfehlungen zur Bibliotherapie 201B�cher 201Filme 206

    Anhang 2: Muster Notfallplan bei Suizidalit�t 209

    Literaturverzeichnis 210

    Sachwortverzeichnis 215

    Inhalt10

  • Vorwort

    In der Vielfalt psychotherapeutischer Ans�tze �bt das existenzielle Paradigma auf unsschon seit langem eine starke Anziehung aus: Alexander Noyon (A. N.) hat parallel zuseiner Verhaltenstherapie-Ausbildung bereits vor mehr als zehn Jahren eine Aus-bildung in Logotherapie und Existenzanalyse abgeschlossen, Thomas Heidenreich(T. H.) ist sp�testens seit seinem Kontakt zu einem existenziell orientierten ame-rikanischen Kollegen vor bereits 15 Jahren stark interessiert an existenziellen Ans�tzenin der Psychotherapie und gemeinsam haben wir uns im Laufe der letzten Jahre sehrintensiv mit der Thematik auseinandergesetzt. W�hrend diese Auseinandersetzungzun�chst im Rahmen langer abendlicher Gespr�che (h�ufig im Zusammenhang mitder Konfrontation mit existenziellen Themen in unserem eigenen Leben) stattfand,haben wir im Laufe der letzten Jahre das Thema gelegentlich auch in Publikationengestreift. Ein erster Aufsatz besch�ftigte sich mit der »Existenziellen Perspektive in derVerhaltenstherapie« (Noyon & Heidenreich, 2007). Bei der Abfassung unseres Bucheszu »Schwierigen Situationen in Therapie und Beratung« (Noyon & Heidenreich, 2009)stellten wir ebenfalls fest, dass einige der genannten Situationen von erheblicherexistenzieller Relevanz gepr�gt waren – ohne dass wir das zun�chst angestrebt hatten.Schließlich gaben wir im Sommer 2011 gemeinsam ein Sonderheft der Zeitschrift»Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis« zum Thema »Existenzielle Ans�tze«heraus. Das positive Echo auch von Kolleginnen und Kollegen, von deren Interesse indiesem Bereich wir bisher nichts wussten, hat uns ermuntert, das Thema Existenz undseine Bedeutung f�r Therapie und Beratung in einer eigenen Monografie zu thema-tisieren.

    Betrachtet man die im deutschsprachigen Raum verf�gbare Literatur zu existen-ziellen Themen im Allgemeinen sowie existenziell-psychotherapeutischen Fragestel-lungen im Besonderen, so ist zweifellos in erster Linie das umfangreiche Werk ViktorFrankls zu nennen, der großteils auf Deutsch publizierte. Daneben liegen die deutsche�bersetzung des Klassikers von Irving Yalom (»Existenzielle Psychotherapie«) sowieeinige weitere seiner B�cher vor. Aufbauend auf den �berlegungen Viktor Franklsentstanden eine Vielzahl praktischer B�cher, die teilweise von ihm selbst stammen(z. B. Frankl, 1946/1995) und teilweise von Nachfolgern (z. B. Lukas, 1989). Dar�berhinaus wurden viele philosophische existenzielle »Klassiker« in deutscher Sprachegeschrieben, als wichtige Vertreter sind neben Martin Heidegger u. a. auch KarlJaspers, Martin Buber, Edmund Husserl und Friedrich Nietzsche zu nennen.

    Was aus unserer Sicht im Bereich der psychotherapeutisch orientierten Literaturfehlt, ist eine f�r Psychotherapeuten und Berater greifbare Auseinandersetzung mit derVielzahl existenzieller Ans�tze, die neben einer philosophischen und therapietheore-tischen Fundierung auch Hinweise liefert, wie diese Ans�tze und Einsichten praktischund konkret in Therapien und Beratungen umgesetzt werden kçnnen. Es ist ein weiter

    Vorwort 11

  • Weg von Martin Heideggers fundamentaler Auseinandersetzung mit dem »Ruf desGewissens« (Heidegger, 1927/1993, S. 272 ff.) zur praktischen Besch�ftigung damit,was einem Menschen in einer realen Therapie wirklich wichtig ist und wie er das inseinem Leben umsetzen kann.

    Ein Buch wie das hier vorliegende setzt sich nat�rlich (bewusst!) einer Reihemçglicher Vorw�rfe aus: Auf der einen Seite mag das der Verdacht sein, dass hier»Existenz light« vermittelt wird – gerade angesichts der die praktischen Kapitelabschließenden Hinweise (»Dos« und »Don’ts«) kçnnten Leser den Eindruck gewin-nen, dass wir hier einem kochbuchartigen Umgang mit einem sehr wichtigen Themadas Wort reden. Auf der anderen Seite werden aber auch jene, die auf in typisch-verhaltenstherapeutischer Manual-Manier aufbereitete Lçsungsvorschl�ge zum algo-rithmischen Umgang mit existenziellen Themen hoffen, entt�uscht sein. Bezweifeltwerden kann weiterhin, ob die Existenz, die ja per definitionem etwas Ganzes,Komplettes, Unteilbares ist, in verschiedene Themenfelder aufgeteilt werden kann –und schließlich ist die Frage gerechtfertigt, ob in existenziellen Dingen die jeweiligenHinweise f�r alle Patienten/Klienten und Therapeuten/Berater gelten kçnnen. Es istsomit je nach persçnlicher Ausrichtung auf unterschiedliche Weise mçglich, vondiesem Buch entt�uscht zu sein.

    Deshalb mçchten wir hier noch einmal klarstellen, dass aus unserer Sicht diezentrale Dimension des existenziellen Ansatzes seine Grundhaltung dem Menschenund dem Leben gegen�ber ist. Wir mçchten trotz all der genannten mçglichenEinw�nde ein praktisch einsetzbares Buch vorlegen und versuchen, auf der einen Seitean der philosophischen und therapeutischen Tradition existenzieller Ans�tze anzu-kn�pfen und die genannte Grundhaltung zu illustrieren und andererseits praktischanwendbare Inhalte anschaulich zu vermitteln. Das Format hat sich bereits im»Schwierige Situationen«-Buch bew�hrt: Einzelne zentrale Themen, die in keinerhierarchischen Beziehung zueinander stehen, sondern hochgradig vernetzt sind,werden anhand eines einheitlichen Schemas vorgestellt. Nach einem kurzen einleiten-den Fallbeispiel folgen eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema unddaran anschließend Hinweise und �berlegungen zum therapeutischen und berateri-schen Umgang mit dieser Thematik. Die einzelnen Abschnitte schließen mit »Dos undDon’ts«, in denen wir die wichtigsten Inhalte knapp zusammenfassen.

    Eine Herausforderung in diesem Buch betrifft die gender- und berufsgruppen-gerechte Schreibweise: Das vorliegende Buch wurde sowohl f�r Beraterinnen undBerater als auch f�r Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten konzipiert; diesearbeiten mit Klienten und Klientinnen, mit Patienten und Patientinnen – die darausresultierende vollst�ndig gender- und berufsgruppengerechte Sprachregelung w�rdedeshalb zu nicht zumutbaren Schachtels�tzen f�hren. Wir haben uns deshalb daf�rentschieden, im Laufe der Kapitel sowohl das Geschlecht als auch das jeweiligeSetting (Beratung vs. Therapie) zu permutieren und bitten die geneigte Leserin bzw.den geneigten Leser, sowohl auf der Seite der Behandlerinnen und Behandler alsauch auf der Seite der Klientinnen und Klienten jeweils beide Geschlechter »mit-zudenken«.

    Vorwort12

  • Die �bersetzungen der zitierten Originalliteratur wurden, wenn nicht anders ver-merkt, von den Autoren vorgenommen. Kapitel 7 ist eine modifizierte Version vonNoyon und Heidenreich (2011; mit freundlicher Genehmigung des DGVT-Verlages).Wir danken Frau Prof. Dr. Annette Riedel f�r wertvolle Hinweise zu diesem Kapitel.F�r wichtige Hinweise zum Abschnitt zu humanistischen Ans�tzen in Kapitel 2 dankenwir Frau Dipl.-Psych. Karin Bundschuh-M�ller. Ein besonderer Dank gilt auch FrauDr. Svenja Wahl, deren engagiertem Lektorat dieser Text sehr viel zu verdanken hat.

    Unser Dank gilt all denjenigen Menschen, die uns in unserer Existenz seit vielenJahren begleiten: In chronologischer Folge sind dies unsere Eltern und Geschwister,Freunde, Ehefrauen, Kinder sowie Neffen und Nichten. Danken mçchten wir uns(untypischerweise) auch gegenseitig – f�r eine mittlerweile auch viele Jahre w�hrendeFreundschaft, in der wir teils gemeinsam, teils in Begleitung anderer Menschen dieUntiefen der Existenz befahren haben.

    Mannheim und Esslingen,im Sommer 2012

    Alexander Noyon und Thomas Heidenreich

    Vorwort 13

  • Einf�hrung

    Was sind existenzielle Ans�tze und wie lassen sie sich von »nicht-existenziellen«Ans�tzen abgrenzen? Welche Bedeutung haben existenzielle Ans�tze in der Philoso-phie und welche in der Psychotherapie? Wie sind existenzielle Ans�tze in der Psycho-therapieforschung repr�sentiert? Welche Impulse kçnnen von der existenziellenPerspektive f�r die angewandte Psychotherapie ausgehen? So zentral diese und andereFragen f�r das vorliegende Buch sein mçgen, so schwer ist es auch, sie zumindest kurzzu beantworten. Nimmt man als Bestimmungsst�ck die Besch�ftigung mit existen-ziellen Themen (also Grunderfahrungen des menschlichen Lebens wie Endlichkeit undVerantwortung, vgl. unten) d�rfte es schwierig sein, einen in diesem umfassendenSinne nicht-existenziellen Denker zu finden. In der westlichen Welt sp�testensbeginnend mit den Vorsokratikern und dann Sokrates, in der çstlichen Welt begin-nend mit den vedischen Religionen, Buddha sowie Laotse haben sich praktisch allegroßen Denker der Menschheit mit existenziellen Themen im weiteren Sinne befasst.Dies betrifft nicht ausschließlich philosophische Ans�tze, auch s�mtliche Religionender Menschheit lassen sich als Versuche verstehen, eine Antwort auf die Frage dermenschlichen Grundverfassung zu geben. Irving Yalom dr�ckt diesen Sachverhaltfolgendermaßen aus: »Offensichtlich ist die existenzialistische Tradition zeitlos.Welcher große Denker hat nicht an irgendeiner Stelle, sowohl in seinem Werk alsauch in seinem Leben, seine Aufmerksamkeit den Fragen von Leben und Todzugewandt?« (Yalom, 1989, S. 26). Wir werden angesichts dieser reichhaltigen Tradi-tion zun�chst die Grundlagen unserer Auswahl an Existenzphilosophen, existenziellenPsychotherapeuten und zentralen existenziellen Themen begr�nden. Wir begreifenexistenzielle Ans�tze in Philosophie und Psychotherapie weniger im Sinne systemati-sierter Theoriegeb�ude bzw. Schulen, sondern als eine anregende und vielgestaltigeAnsammlung unterschiedlich abstrakter Anregungen f�r den Umgang mit der »Con-ditio humana« – es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass manche spannen-den Anregungen erst dann sp�rbar werden, wenn die sprachliche akademische Patinaetwas abgekratzt wird.

    Existenzielle Ans�tze in der PhilosophiePhilosophiegeschichtlich wird die »Existenzphilosophie« als eine Denkrichtung ver-standen, deren Beginn typischerweise im 19. Jahrhundert verortet wird und der sicheine Vielzahl von Denkern mehr oder weniger klar zuordnen lassen. Hannah Arendtnimmt in ihrem erstmals 1948 auf Deutsch erschienenen Werk »Was ist Existenz-philosophie?« folgende historische Verortung vor:

    Existenzphilosophie hat eine mindestens hundertj�hrige Geschichte. Sie begann mitdem sp�ten Schelling und mit Kierkegaard, sie entwickelte sich in einer großen Zahl bisheute nicht erschçpfter Mçglichkeiten in Nietzsche, sie bestimmte das Wesentliche des

    Einf�hrung14

  • Bergson’schen Denkens und der sogenannten Lebensphilosophie, bis sie schließlich imNachkriegsdeutschland mit Scheler, Heidegger und Jaspers zu einem bisher nicht�bertroffenen Bewusstsein dessen kam, worum es moderner Philosophie eigentlich geht.

    (Arendt, 1948/1990, S. 5)

    Andere Autoren nehmen bereits das Werk Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) alsAusgangspunkt (vgl. Sonntag, 2011). Wir streben hier keine systematische philoso-phiegeschichtliche Analyse an, sondern werden in Kapitel 1 unter den Existenzphi-losophen diejenigen vorstellen, die uns f�r den Kontext der Psychotherapie besondersbedeutsam erscheinen. Interessant scheint uns in diesem Zusammenhang eine Bemer-kung von Precht (2007, S. 371), der in seinem Bestseller »Wer bin ich und wenn ja wieviele?« konstatiert: »Allerdings lehnen es viele Philosophen heute ab, sich ernsthaft mit[dem Sinn des Lebens] zu befassen. F�r sie verkn�pft sich dieses Thema mitpopulistischen Ratgebern oder falscher Esoterik. Die Sinnfrage, ehemals so etwas wieE-Musik, ist heute U-Musik geworden.« Es ist sicherlich verf�hrerisch, sich �hnlich wiedie von Precht zitierten modernen Philosophen in dieser Sache f�r nicht zust�ndig zuerkl�ren – aber dies d�rfte im Rahmen von Beratung und Therapie daran scheitern,dass ohne die Konstruktion oder die Wiederentdeckung von Sinn keine Form derBehandlung Aussicht auf Erfolg hat. Neben der Auseinandersetzung mit der Sinnfragefinden sich in Ans�tzen der Existenzphilosophie auch wichtige weitere Themen wie derUmgang mit der Endlichkeit des Lebens oder die Frage nach Schuld und Verantwort-lichkeit von Menschen, die in Psychotherapien und Beratungen ebenfalls h�ufig einewesentliche Rolle spielen. Wir werden deshalb aus unserer Sicht bedeutsame Existenz-philosophen vorstellen, wobei wir neben einem kurzen �berblick zu Leben und Werkvor allem deren Bedeutung f�r Vertreter der existenziellen Psychotherapie heraus-arbeiten werden.

    Existenzielle Ans�tze in der Psychotherapie und BeratungPsychotherapiegeschichtlich findet sich seit dem fr�hen 20. Jahrhundert eine Reihe vonAns�tzen, die sich explizit als »Existenzielle Psychotherapie« verstehen und benennen.Die meisten dieser fr�hen Ans�tze wurden im deutschsprachigen Raum entwickelt(z. B. von Viktor Frankl, Ludwig Binswanger, Medard Boss), aktuell sind die popu-l�rsten Vertreter existenzieller Ans�tze im angloamerikanischen Raum zu finden (z. B.Rollo May, Irving Yalom, Emmy van Deurzen). Angesichts der verwirrenden Vielfaltund Unterschiedlichkeit der einzelnen existenziellen Ans�tze w�re es an dieser Stellenaheliegend, eine »operationale« Definition existenzieller Ans�tze (egal ob in derPhilosophie oder in der Psychotherapie) vorzunehmen: »Existenzielle Therapie ist das,was sich selbst als existenzielle Therapie bezeichnet.« Auf der einen Seite haben solcheDefinitionen den Vorteil, dass sie keine unzul�ssige Einschr�nkungen der in Fragekommenden Auswahl an relevanten Philosophen vornehmen, auf der anderen Seite istjedoch ihre Aussagekraft gering, weil weder konstituierende Merkmale f�r das Konzept»Existenzielle Ans�tze« noch Unterscheidungskriterien zu Ans�tzen anderer Traditio-nen herausgearbeitet werden. Wir werden deshalb im Folgenden den Versuch unter-nehmen, einen gemeinsamen Nenner existenzieller Therapie zu finden. Wir werden

    Einf�hrung 15

  • dabei wichtige Vertreter existenzieller Ans�tze zu Wort kommen lassen, um dieUnterschiede (aber auch Gemeinsamkeiten) der jeweiligen Betrachtungsweisen zuverdeutlichen.

    Viktor Frankl hat mit seiner Logotherapie ein Verfahren begr�ndet, das mit seinerFokussierung auf die menschliche Sinnsuche eines der Existenzialien sehr pointiert inden Vordergrund stellt. Wie viele andere Entwickler von Therapieschulen auch hat erseinen Ansatz in expliziter Abgrenzung von Freud konzeptualisiert und erkl�rt, dassder Mensch weder wie von diesem betont zentral vom »Willen zur Lust«, noch wie vonAdler – dem er inhaltlich allerdings n�her stand – behauptet vom »Willen zur Macht«,sondern stattdessen in seinem Wesen vom »Willen zum Sinn« motiviert sei (Frankl,1981/1994). Frankl grenzt die beiden Begriffe »Existenzanalyse« und »Logotherapie«klar voneinander ab: Die Existenzanalyse stellt eine Analyse des Lebens des Klienten»auf Sinn hin« dar (dient also sozusagen diagnostischen Zwecken), w�hrend dieLogotherapie danach strebt, den Menschen wieder mit Sinnmçglichkeiten seinesLebens in Kontakt zu bringen und somit eine Therapie »vom Sinn her« ist. Somitbaut die logotherapeutische Behandlung auf dem existenzanalytischen Verstehen desKlienten bzw. der Klientin auf.

    Irving Yalom als ein anderer wichtiger Vertreter existenziell orientierter Psycho-therapie sieht sich stark der psychodynamischen Tradition verpflichtet: »ExistenziellePsychotherapie ist ein dynamischer Zugang zur Therapie, der sich auf die Gegeben-heiten konzentriert, welche in der Existenz des Individuums verwurzelt sind« (Yalom,1989, S. 15). Yalom betont, dass aus seiner Sicht Therapeuten unterschiedlichsterTraditionen »viele der existenziellen Einsichten verwenden« (a. a. O.) und nennt alsBeispiel die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens. Yalom stellt derFreud’schen Psychodynamik und der Neo-Freudianischen (interpersonellen) Psycho-dynamik ein Modell gegen�ber, das er »existenzielle Psychodynamik« nennt: Erbeschreibt damit »einen Konflikt, der aus der Konfrontation des Individuums mitden Gegebenheiten der Existenz hervorgeht« (a. a. O., S. 18) und f�hrt fort: »Und ichmeine mit ›Gegebenheiten‹ der Existenz bestimmte letzte Dinge, bestimmte intrinsi-sche Eigenschaften, die ein Teil, und zwar ein unausweichlicher Teil der Existenz desmenschlichen Wesens in der Welt sind« (a. a. O., S. 18). Es sind diese »Gegebenheiten«der Existenz, mit denen wir uns in diesem Buch zentral besch�ftigen wollen.

    Mick Cooper, der als Professor f�r Beratung an der University of Strathclyde inGlasgow arbeitet, beantwortet die Frage »Was ist Existenzielle Therapie?« mit denWorten:

    Als existenzieller Therapeut und Trainer ist das eine der Fragen, die mir am h�ufigstengestellt wurden. Es war auch eine der Fragen, die ich am schwierigsten beantwortenkonnte. ›Hmh …, es geht …, hmh, darum, der Realit�t der Existenz ins Auge zu blicken‹,habe ich manchmal gemurmelt oder ich habe gleich eine vorgefertigte Antwort gegebenwie etwa, ›Das ist �hnlich wie personzentrierte Therapie, nur leidvoller‹. Im Laufe derJahre ist mir allerdings klargeworden, warum es mir so schwer fiel, diese Frage zubeantworten: weil der Begriff ›Existenzielle Therapie‹ f�r so viele unterschiedlichetherapeutische Vorgehensweisen verwendet wurde.

    (Cooper, 2003, S. 1, �bers. der Autoren)

    Einf�hrung16

  • Cooper lieferte in seinem Buch »Existential Therapies« eine entsprechend weit gefasste�bersicht zu verschiedenen existenziellen Ans�tzen, die auch z. B. Ronald D. LaingsArbeit umfasst.

    Emmy van Deurzen (2010, S. 1), die der ph�nomenologischen Tradition derbritischen Existenzanalyse angehçrt, fasst den Begriff des »existenziellen Denkens«noch weiter: »Existenzielles Denken besteht in dem unersch�tterlichen […] Bestreben,�ber die allt�gliche menschliche Realit�t zu reflektieren, um ihr Sinn abzugewinnen.«In diesem Zitat klingen zwei wesentliche Elemente existenzieller Therapieans�tze an:W�hrend es auf der einen Seite um Reflexion und die Herstellung von Sinn geht, stehtim Zentrum stets das allt�gliche Leben. Nicht von ungef�hr tr�gt das Hauptwerk vanDeurzens den Titel »Everyday Mysteries« und erst der Untertitel lautet: »A Handbookof Existential Psychotherapy«. Pragmatisch werden wir f�r dieses Buch eine relativbreite Fassung des Begriffs »existenzielle Ans�tze« w�hlen: Wir werden nicht dasSystem eines zentralen Theoretikers in G�nze vorstellen, stattdessen wollen wirunterschiedliche Vertreter zu Wort kommen lassen. Was alle Ans�tze eint, ist dieAuseinandersetzung mit existenziellen Grunderfahrungen des Menschen (»Existen-zialien«, »Grenzerfahrungen« oder im englischen Sprachraum »givens«). Diese Grund-erfahrungen begleiten jeden einzelnen Menschen sein Leben lang, sie lassen sich nicht»lçsen« oder »bew�ltigen«, sondern es kann ausschließlich darum gehen, mit diesenGrunderfahrungen zu leben und eine Haltung zu ihnen zu finden. Ein vollst�ndiger,im Idealfall nach DIN EN ISO 9000 zertifizierter Katalog wesentlicher Begriffe dieserGrunderfahrungen liegt nicht vor: Wie nicht anders zu erwarten, setzen einzelneAutoren individuelle Schwerpunkte und betonen andere Grunderfahrungen weniger.Im Zentrum existenziellen Denkens stehen jedoch stets Themen wie die Tatsache derEndlichkeit des Lebens, die Frage nach der Verantwortung des Menschen und dieFrage nach dem Sinn des Lebens.Existenzielle Ans�tze in der Beratung. Wir gehen davon aus, dass in Abh�ngigkeit vomjeweiligen Behandlungssetting analog der Psychotherapie auch Beratung, Coachingund Supervision regelhaft existenzielle Themen zum Gegenstand haben. Dies kçnnenbeispielsweise der Bereich der Lebensberatung (»Wie soll ich mein Leben gestalten?«)oder auch spezifische T�tigkeitsfelder sein. Als Beispiel sei eine Sozialp�dagogingenannt, die im Sozialdienst einer neurochirurgischen Station einer Universit�tsklinikarbeitet: Im Rahmen ihrer T�tigkeit, die z. B. die sozialrechtliche Beratung der Klientenund ihrer Angehçrigen umfasst, wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-lichkeit mit mindestens ebenso vielen existenziell gef�rbten Leidenssituationen kon-frontiert sein wie eine Psychotherapeutin. Im Hinblick auf die Beziehungsgestaltungfinden sich demnach aus unserer Sicht bezogen auf den Umgang mit existenziellenGrundtatsachen des Lebens kaum Unterschiede zwischen Beratung und Therapie –zweifellos besteht auch f�r den Bereich der Beratung ein erheblicher Informations-bedarf bezogen auf existenzielle Themen.

    Einf�hrung 17

  • Voraussetzungen, Indikationen und Kontraindikationen existenziell orientiertenArbeitensWie alle therapeutischen Ans�tze hat auch existenziell orientiertes Arbeiten Voraus-setzungen auf Seiten des Therapeuten und im Hinblick auf die Verfassung desKlienten lassen sich auch bereits erste Indikationen und Kontraindikationen formu-lieren. Aufgrund der Datenlage sind empirisch fundierte Aussagen zur Indikationund Kontraindikation nur schwer mçglich.Vorkenntnisse und Erfahrung auf Seiten des Beraters oder Therapeuten. Wir gehen imweiteren Verlauf davon aus, dass der Leser �ber zumindest grundlegende Erfahrungenin seinem jeweiligen Gebiet der Beratung und Therapie verf�gt. Beispielsweise gehçrthierzu f�r die therapeutische Arbeit mit Menschen, die unter schwerer Depressionleiden, die F�higkeit, Suizidalit�t zu erkennen und einzusch�tzen (vgl. Kap. 10).Ebenso gehçren hierzu f�r den Beratungsbereich wesentliche inhaltliche Kenntnisse,z. B. rechtliche Grundlagen des jeweiligen Beratungsfeldes.Indikation f�r existenziell orientiertes Arbeiten. Existenzielle Ans�tze stellen ausunserer Sicht immer dann eine wichtige Bereicherung beraterischer und therapeuti-scher Arbeit dar, wenn die Konfrontation mit den grunds�tzlichen Gegebenheiten desmenschlichen Seins im Rahmen des Leidens eines Klienten bedeutsam ist. Dies wird inder Regel dann der Fall sein, wenn Menschen – z. B. durch den Verlust eines geliebtenMenschen oder durch eine Bedrohung durch schwere Krankheit – in ihrem Weltbildersch�ttert sind. Eine Indikation f�r existenziell orientiertes Arbeiten sehen wir auchimmer dann gegeben, wenn Menschen auf der Suche nach einem tieferen Sinn inihrem Leben sind.Kontraindikationen f�r existenziell orientierte Ans�tze. Aus unserer Sicht stellen akutekrisenhafte Zuspitzungen (insbesondere mit Suizidalit�t, s. Kap. 10) in der Regel keineg�nstigen Zeitpunkte f�r existenziell orientierte Interventionen dar. So ist beispiels-weise davon auszugehen, dass ein Großteil der in diesem Buch beschriebenentherapeutischen Strategien im Umgang mit Menschen, die sich aktuell in einerschweren depressiven Episode befinden, zun�chst nicht indiziert ist. Mit einem schwerdepressiven Menschen �ber den (Un)Sinn des Lebens zu diskutieren, d�rfte ergeb-nislos sein. Stattdessen d�rfte es in diesem Fall zun�chst hilfreicher sein, im Sinne einerPsychoedukation die Situation zu erl�utern:

    »Sie leiden derzeit unter einer schweren depressiven Episode. Ein Teil dieserdepressiven Symptomatik ist, dass Sie Ihr Leben aktuell als sinnlos empfinden.Aus meiner Erfahrung ist es nicht hilfreich, wenn wir jetzt die Sinnhaftigkeit desLebens diskutieren, da Ihr Denken im Moment durch die Depression erheblicheingef�rbt ist. Ich verspreche Ihnen jedoch, dass wir uns nach einer Verbesserungder depressiven Symptome sehr ausf�hrlich �ber diese Dinge unterhalten kçn-nen.«

    Einf�hrung18

  • Wichtig ist dabei, dass der Behandler dieses (mçglicherweise schwierige) Gespr�chnicht auf den »Sankt-Nimmerleins-Tag« verschiebt, sondern zum gegebenen Zeit-punkt darauf zur�ckkommt.

    Eine analoge Situation sehen wir bei Menschen in akuten psychotischen Krisen,schweren Stçrungen der Impulskontrolle sowie akuten Intoxikationszust�nden.

    Grunds�tzlich raten wir auch zur Vorsicht im Umgang mit existenziellen Themen,wenn diese vom Klienten gar nicht explizit angesprochen werden bzw. es in dieseRichtung keinen Behandlungsauftrag gibt. Existenziell orientierte Fragen gehçrennicht in das automatische Standardrepertoire von Fragen, die zum Therapiebeginnzu stellen sind. Um es salopp zu formulieren: »Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie einesTages sterben werden?!«, ist keine Intervention, die wir unseren Klienten ohne Anlasszumuten. Es ist vorab nicht ohne weiteres einzusch�tzen, mit welcher Wucht existen-zielle Fragen bei einem Klienten ankommen werden; deshalb sollten diese im Interesseder Nicht-Sch�digung unserer Klienten nur dann eingesetzt werden, wenn es dazueinen expliziten Auftrag oder eine fachlich begr�ndbare Notwendigkeit gibt. Wer einunreflektiertes, aber zufriedenes Leben lebt und vom Therapeuten nur Abhilfe beieinem spezifischen Problem bençtigt, der soll dieses auch weiterf�hren kçnnen; unssteht hier kein wertungsbasiertes Eingreifen in das Leben anderer Menschen zu (imSinne von: »So kann man doch nicht leben, ich muss ihm die Augen çffnen!«). H�ufigist die Grenze zwischen »fachlich begr�ndetem therapeutischem Eingriff« und »po-tentiell sch�digendem �bergriff in Folge unangemessenen Sendungsbewusstseins«sicherlich fließend, und leider kçnnen wir dem Leser keine scharfen Kriterien daf�rnennen, wie das eine vom anderen zu unterscheiden ist. Wir mçchten lediglich daf�rsensibilisieren, welche Potenz existenziell orientiertem Arbeiten innewohnen kann,und darauf hinweisen, dass auch diese Vorgehensweise getreu dem Prinzip derminimalen Intervention nur dann eingesetzt werden soll, wenn sie wirklich nçtig ist.Bildungsniveau des Klienten. Ein weiterer Bereich, der aus unserer Sicht bedeutsam ist,ist die Frage nach dem f�r existenzielle Ans�tze notwendigen Bildungsniveau. Auchwenn teilweise der Eindruck entstehen kann, dass es sich bei der Besch�ftigung mitexistenziellen Themen um »Luxusprobleme« handelt, mçchten wir betonen, dass dieseThemen f�r Menschen jeden Alters und jeden Bildungsgrades relevant sind. So magsich die Verarbeitung des Todes eines Elternteils f�r einen Menschen mit geistigerBehinderung anders gestalten als f�r einen akademisch gebildeten Menschen: Ausunserer Sicht erfordern jedoch beide F�lle auf Seiten des Therapeuten oder derBeraterin ein hohes Maß an Fingerspitzengef�hl.

    Eine andere interessante Betrachtung betrifft die Verwurzelung »existenzieller«Themen in Medien der Popul�rkultur. Als Beispiel sei ein St�ck des amerikanischenCountrys�ngers Tim McGrath mit dem Titel »Live like you were dying« genannt, inwelchem bereits der Titel wie eine existenziell-therapeutische Botschaft klingt. Oderman betrachte die existenzielle Abgr�ndigkeit des Titels »Mad World« von Tears forFears, aktuell bekannter in der Coverversion von Michael Andrews und Gary Jules(eine Textzeile der Lyrics lautet: »The dreams in which I’m dying are the best I’ve everhad«). Die Liste von Musikst�cken, die sich existenziellen Fragen und Betrachtungen

    Einf�hrung 19

  • widmen, ließe sich unendlich fortsetzen, und die Beliebtheit, der sich dergleichenSt�cke in der Masse erfreuen, macht klar, dass existenzielle Fragen kein Privileg einerwie auch immer gearteten Elite sind. Wie Precht in seinem eingangs angef�hrten Zitatbemerkte: U-Musik statt E-Musik – hier im wçrtlichen Sinne! Ganz in diesem Sinnewerden wir in diesem Buch neben philosophischen und psychotherapeutischenKlassikern auch vereinzelt Vertreter der Popkultur zu Wort kommen lassen, da wirdavon ausgehen, dass sie deshalb so popul�r geworden sind, weil es ihnen gelungen ist,ein Bed�rfnis zu befriedigen und etwas sehr Wichtigem eine gute Form zu geben.

    Der Aufbau des BuchesDas vorliegende Buch ist in zwei Teile gegliedert: Teil I liefert einige wesentlichephilosophische und psychotherapeutische Grundlagen f�r das Verst�ndnis existen-zieller Ans�tze: Kapitel 1 ist den philosophischen Grundlagen gewidmet, w�hrendKapitel 2 die bedeutsamsten existenziellen Therapieans�tze vorstellt. Kapitel 3 thema-tisiert die Frage des Verh�ltnisses existenzieller Ans�tze zu etablierten Ans�tzen inPsychotherapie und Beratung. In Teil II (der den Hauptteil des Buches ausmacht)findet sich eine Darstellung der aus existenzieller Sicht wichtigsten Themen. Wir habenuns dabei an den Schwerpunktsetzungen der aus unserer Sicht einflussreichstenVertreter existenzieller Ans�tze orientiert, sind uns jedoch bewusst, dass eine solcheDarstellung nie Anspruch auf Vollst�ndigkeit erheben kann. Die von uns heraus-gegriffenen existenziellen Themenfelder sind:" Sinnlosigkeit, Lebensperspektive, Wertkl�rung" Schuldgef�hle" Ablehnung von Verantwortung" Tod und Sterben" Unver�nderliche Leidenszust�nde" Isolation, Einsamkeit, Liebe" Suizidalit�tObwohl die Darstellung in einem Buch notwendigerweise linear sein muss (ein Kapitelnach dem anderen), sind diese Schwerpunktsetzungen parallel zu sehen: Mit hoherWahrscheinlichkeit wird f�r jeden Klienten mindestens eines der genannten Themenrelevant sein. Bei einigen Klienten sind sicher auch mehrere Inhalte relevant (beispiels-weise wird die Arbeit mit einem Mann, dessen Ehefrau bei einem von ihm verursach-ten Autounfall ums Leben kam und der seit dem Unfall eine Querschnittsl�hmungaufweist, von den genannten Inhalten mindestens »Umgang mit Sterben und Tod«,»Schuld« sowie »unab�nderliche Leidenszust�nde« umfassen). Dementsprechend sinddie Inhalte auch hochgradig vernetzt, was sich in h�ufigen Querverweisen zwischenden Kapiteln widerspiegelt. Verschiedene Inhalte und Themen wurden dabei voneinzelnen Existenzphilosophen und existenziellen Psychotherapeuten jeweils beson-ders betont. Beispielsweise findet sich im Werk von Albert Camus eine ausf�hrlicheAuseinandersetzung mit der Frage des Suizids (»Es gibt nur ein wirklich ernstesphilosophisches Problem: den Selbstmord«; Camus, 1942/1995, S. 9); der Suizidwird dagegen bei anderen Autoren selten explizit thematisiert. Abbildung 1 stellt die

    Einf�hrung20

  • in diesem Buch behandelten Existenzphilosophen, existenziellen Psychotherapeutensowie die von ihnen bearbeiteten existenziellen Themen dar. Diese drei Bereicheumfassen das, was wir im Titel des Buches mit »existenziellen Perspektiven« bezeich-nen.

    Existenzphilosophie

    (Kap. 1)

    Søren KierkegaardFriedrich Nietzsche

    Martin BuberKarl JaspersPaul Tillich

    Martin HeideggerJean-Paul SartreAlbert Camus

    Maurice Merleau-PontyMax Scheler

    Edmund HusserlEdith Stein

    Hanna ArendtSimone de Beauvoir

    Existenzielle Psychotherapie

    (Kap. 2)

    Ludwig BinswangerMedard BossViktor Frankl

    Emmy van DeurzenRollo May

    Irving Yalom

    Existenzielle Themen

    Sinnlosigkeit (Kap. 4)

    Suizidalität(Kap. 10)

    Schuldgefühle(Kap. 5)

    Isolation,Einsamkeit

    (Kap. 9)

    Ablehnung von Verantwortung

    (Kap. 6)

    Leidenszustände(Kap. 8)

    Tod und Sterben(Kap. 7)

    Abbildung 1 Aufbau des Buches

    Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte des Grund-lagen- sowie des Anwendungsteils und es werden Perspektiven f�r die weitereBesch�ftigung mit existenziellen Ans�tzen im Rahmen von Beratung und Psycho-therapie formuliert.

    Einf�hrung 21