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82 Lebendige Seelsorge 66. Jahrgang 2/2015 (S. 82–87) E s ist zunächst einmal wichtig zu sehen, dass der Begriff „Gender“ nicht erst durch „Gen- der“-Theorien kreiert wurde. Vielmehr unter- schied man in Geschlechtertheorien grundsätz- lich zwischen den Begriffen „sex“ und „gender“: mit „sex“ wurde die natürliche Geschlechtsiden- tität in ihrer binären Differenzierung von „Mann“ und „Frau“ bezeichnet, mit „gender“ die Rollen- identität, also unter dem Label „männlich“ und „weiblich“ konstruierte Rollenmuster. Diese kul- turell und sozial bedingten Konstruktionen von „gender“ im Sinne von vorgegebenen Rollen- identitäten wurden dann vor allem zum Gegen- stand der Kritik der Feministischen Theorien und der Frauenforschung sowie Feld der Gleichstel- lungspolitik unter dem Maßstab von Geschlech- tergerechtigkeit. Dabei machte man auch auf die normierende Macht von Rollenmustern und „gender“-Konstruktionen und auf deren Rück- wirkung auf Vorstellungen von Geschlechts- identitäten (sex) aufmerksam, ohne jedoch die Gegebenheit der sexuellen Differenz und damit die natürliche Geschlechtsidentität grundsätzlich in Frage zu stellen. „GENDER-TROUBLE“ ODER: VON DER MACHT DER GESCHLECHTERNORMEN Diese These wurde nun in doppelter Hinsicht ra- dikalisiert: zum einen wurde die einseitige Kon- zentration auf Frauen aufgesprengt; es wurde anerkannt, dass das Thema „Geschlechtsiden- tität“, „Geschlechtskonstruktion“ und „Ge- schlechtergerechtigkeit“ nicht nur Frauen be- trifft, sondern auch Männer, denn auch diese sind ja von der normierenden Macht von „gen- der“-Konstruktionen betroffen. So entstand eine Erweiterung der Perspektive und zugleich eine Verschiebung weg vom „Feminismus“ alten Typs Gendersensible Theologie – Ein hölzernes Eisen? Taucht in kirchlichen Zusammenhängen gegenwärtig der Begriff „Gender“ auf, führt dies häufig zu heftigen Kontroversen; „Gender“ ist ins Arsenal kulturkämpferischer Vokabeln aufgenommen und mit der Funktion eines Platzanweisers für kirchen- wie gesellschaftspolitische „Gesäßgeographien“ in Dienst genommen worden. Es gilt jedoch, ideologisch abzurüsten und die Debatte wieder zu versach- lichen – durch Begriffsklärung, durch Differenzierung zwischen unterschiedlichen Theorien, durch Aus- lotung von Möglichkeiten wie Markierung von Grenzen der theologischen Rezeption. Saskia Wendel geb. 1964, Dr. phil., 1996–2002 Wissenschaftliche Assistentin und Hochschuldozentin an der Univer- sität Münster, 2003–2006 Univ.-Professorin für Systematische Philosophie und Fundamentaltheo- logie an der Universität Tilburg/NL, 2007–2008 Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Er- furt, seit 2008 Univ.-Professorin für Systematische Theologie an der Universität zu Köln; Forschungs- schwerpunkt u.a. „Religion und Gender“. Saskia Wendel THEMA Gender Gendersensible Theologie – Ein hölzernes Eisen?

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LS 02 2015 Saskia Wendel, Gendersensible Theologie Ein Hölzernes Eisen

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82 Lebendige Seelsorge 66. Jahrgang 2/2015 (S. 82–87)

Es ist zunächst einmal wichtig zu sehen, dassder Begriff „Gender“ nicht erst durch „Gen-

der“-Theorien kreiert wurde. Vielmehr unter-schied man in Geschlechtertheorien grundsätz-lich zwischen den Begriffen „sex“ und „gender“:mit „sex“ wurde die natürliche Geschlechtsiden-tität in ihrer binären Differenzierung von „Mann“und „Frau“ bezeichnet, mit „gender“ die Rollen -identität, also unter dem Label „männlich“ und„weiblich“ konstruierte Rollenmuster. Diese kul-turell und sozial bedingten Konstruktionen von„gender“ im Sinne von vorgegebenen Rollen -identitäten wurden dann vor allem zum Gegen-stand der Kritik der Feministischen Theorien undder Frauenforschung sowie Feld der Gleichstel-lungspolitik unter dem Maßstab von Geschlech-tergerechtigkeit. Dabei machte man auch auf dienormierende Macht von Rollenmustern und„gender“-Konstruktionen und auf deren Rück-wirkung auf Vorstellungen von Geschlechts -identitäten (sex) aufmerksam, ohne jedoch dieGegebenheit der sexuellen Differenz und damitdie natürliche Geschlechtsidentität grundsätzlichin Frage zu stellen.

„GENDER-TROUBLE“ ODER: VON DER MACHTDER GESCHLECHTERNORMEN

Diese These wurde nun in doppelter Hinsicht ra-dikalisiert: zum einen wurde die einseitige Kon-zentration auf Frauen aufgesprengt; es wurdeanerkannt, dass das Thema „Geschlechtsiden-tität“, „Geschlechtskonstruktion“ und „Ge-schlechtergerechtigkeit“ nicht nur Frauen be-trifft, sondern auch Männer, denn auch diesesind ja von der normierenden Macht von „gen-der“-Konstruktionen betroffen. So entstand eineErweiterung der Perspektive und zugleich eineVerschiebung weg vom „Feminismus“ alten Typs

Gendersensible Theologie – Ein hölzernes Eisen?Taucht in kirchlichen Zusammenhängen gegenwärtig der Begriff „Gender“ auf, führt dies häufig zuheftigen Kontroversen; „Gender“ ist ins Arsenal kulturkämpferischer Vokabeln aufgenommen und mitder Funktion eines Platzanweisers für kirchen- wie gesellschaftspolitische „Gesäßgeographien“ inDienst genommen worden. Es gilt jedoch, ideologisch abzurüsten und die Debatte wieder zu versach-lichen – durch Begriffsklärung, durch Differenzierung zwischen unterschiedlichen Theorien, durch Aus-lotung von Möglichkeiten wie Markierung von Grenzen der theologischen Rezeption. Saskia Wendel

geb. 1964, Dr. phil., 1996–2002 WissenschaftlicheAssistentin und Hochschuldozentin an der Univer-sität Münster, 2003–2006 Univ.-Professorin fürSystematische Philosophie und Fundamentaltheo-logie an der Universität Tilburg/NL, 2007–2008Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Er-furt, seit 2008 Univ.-Professorin für SystematischeTheologie an der Universität zu Köln; Forschungs-schwerpunkt u.a. „Religion und Gender“.

Saskia Wendel

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und einer damit verknüpften Identitäts- undInteressenpolitik hin zu „Gender-Mainstrea-ming“ und entsprechenden politischen Agenden.Mit Letzterem ist also noch gar keine „Gender“-Theorie im engeren Sinn verknüpft, sondern eineunter dem Maßstab der Geschlechtergerechtig-keit stehende Politik, in deren Fokus Frauen undMänner gleichermaßen stehen. Die Ebene von„sex“ und die damit verbundenen Problemati-sierungen der natürlichen Geschlechtsidentitätwird also im Anliegen des „Gender-Mainstrea-mings“ anders als in manchen Kritiken von Gen-der-Theorien vermutet noch gar nicht berührt.Entsprechendes ist hinsichtlich der „gender stu-dies“ zu sagen. Hier geht es zunächst einmal umbesagte Erweiterung der Perspektive und um dieAufsprengung der Gleichsetzung „Geschlechter-theorie = Frauenthema (= Spielwiese)“ und diedamit verknüpfte Konstruktion, dass „Ge-schlecht“ ein „weibliches“ Sonderthema ist.Zum anderen erfolgte in radikal konstruktivis-tisch ausgerichteten Gendertheorien wie derje-nigen der US-amerikanischen Philosophin Ju-dith Butler eine Radikalisierung der o. g. Thesebzgl. der normierenden Macht von „gender“-Konstruktionen. Im Anschluss an entsprechen-de Überlegungen des französischen PhilosophenMichel Foucault geht Butler davon aus, dass dasIch nicht einfach in Diskursen situiert, sonderndurch deren Vorgängigkeit konstituiert und kon-struiert ist. Ebenso verhält es sich laut Butler mitdem Verständnis von „Geschlecht“: auch „Ge-schlecht“ sei Effekt diskursiver Praxen, und wasals natürlich gegeben erscheine, wie etwa derKörper in seiner geschlechtlichen Differenzie-rung, sei allein Ergebnis kulturell und gesell-schaftlich bedingter Benennungspraxen. Diskur-sive Praktiken sind Sprachhandlungen, die nichtetwa darin bestehen, eine der Sprache vorgän-

gige Wirklichkeit zu benennen, sondern quaSprach- und Benennungspraxis Wirklichkeitallererst zu setzen, zu erzeugen (performativeAkte). Demzufolge gebe es keine natürliche Ge-schlechtsidentität (sex) im Unterschied zum kul-turell bedingten Geschlecht (gender). So verbie-tet sich denn auch Butler zufolge jede Form vonIdentitätspolitik, die vom „Frausein“ oder einer„weiblichen“ Identität ausgeht.

DAS ICH ALS SPIELBALL DES DISKURSES?

Es wurde Butler oft vorgeworfen, dass sie denKörper bzw. materiell Gegebenes leugne. Das istjedoch nicht der Fall. Butler hat unmissver-ständlich klargestellt, dass sie keineswegs dieWirklichkeit des Körpers in Frage stellt; sie leug-net nicht die Gegebenheit bestimmter Anatomienoder biologischer Prozesse, etwa die zur Fort-pflanzung notwendige Verschmelzung von Sper-ma und Ei. Allein will sie darauf aufmerksammachen, dass wir in Bezug auf diese Vorgängegemäß einer binären Logik Körperbilder kon-struieren und so auch eine bestimmte Körper-praxis konstituieren. Und diese Kritik ist inso-fern berechtigt, als sie darauf aufmerksam macht,dass in unseren Annahmen über „sex“ mehr„gender“ steckt als vielfach vermutet. Das Pro-blem von Butlers Theorie liegt daher eher in ei-nem anderen Punkt, nämlich ihrer These von derVorgängigkeit des Diskurses. Denn wenn das Ichnicht mehr als dem Diskurs vorgängig verstan-den wird, ja nicht mehr als Akteur bestimmterPraxen, sondern es umgekehrt einer „Allmacht“des Diskurses unterworfen ist, dann fällt eingrundlegendes Prinzip einer – von Butler selbstverfochtenen – Philosophie der Freiheit als auchein Prinzip einer Praxis der Anerkennung als

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Personen. Damit aber wird das Ich zu einem blo-ßen Spielball des Diskurses und seiner Macht,kann sich selbst aber weder zum Diskurs ver-halten noch „Gegenmacht“ erzeugen, weil esselbst über keine eigene schöpferische Kraft undMacht verfügt. Diskurse fallen nicht vom Him-mel, ebenso wenig soziale Normen. Sie sind viel-mehr das Resultat der Kultur setzenden, schöp-ferischen, kreativen Praxis des Bewusstseins. Alssolche sind sie auch veränderbar und nicht qua-si natürlich gegeben. Ein zweiter problematischer Punkt in ButlersTheorie ist ihre Gleichsetzung von Leib und Kör-per, was dann in letzter Konsequenz auch diegänzliche Auflösung von „sex“ in „gender“ zurFolge hat. Doch gerade die Phänomenologie hatdarauf aufmerksam gemacht, dass zwischen Leibund Körper zu unterscheiden ist, weil dem Leibeine Doppelstruktur eignet: auf der einen Seiteist er Ding unter Dingen und damit Objekt derWahrnehmung, auf der anderen Seite aber der-jenige, der Dinge berührt und sieht und somitselbst kein Ding. Als Ding unter Dingen ist derLeib objektivierter, verdinglichter Körper. DenKörper kann ich benennen, definieren, sezieren,analysieren. Der Körper ist somit derjenige, derin diskursive Praxen eingelassen und durch die-se bestimmt wird; die kulturell bedingte Ge-schlechtsidentität macht sich somit am Körperfest. Aber der Leib ist mehr als nur Körper, er istvielmehr vom Dasein und seinem Bewusstseinuntrennbar. Ist dem Körper die „gender“-Di-mension zuzuordnen, so dem Leib die Dimen-sion von „sex“. Diese Differenzierung von Leibund Körper und die ihr entsprechende Differenzvon „sex“ und „gender“ wird jedoch von Butlernegiert. In „Reinform“ eignet sich daher dieseVariante einer Gender-Theorie meiner Ansichtnach nicht zur theologischen Rezeption. Wenn

man sie aber modifiziert, dann ist sie durchausauch theologisch anschlussfähig.

DIE MÖGLICHKEIT GENDERSENSIBLER THEOLOGIE

Diese Möglichkeit einer theologischen Rezeptionvon Gender-Theorien ist durch anthropologischeÜberlegungen zur Bestimmung der Kategorie„Geschlecht“ auszuweisen, die wiederum auf be-wusstseinstheoretischen Reflexionen zur Be-stimmung bewussten Daseins basieren – dennBewusstsein ist ja ein zentrales Kennzeichenmenschlicher Existenz. Bewusstes Dasein voll-zieht sich nun unter der Doppelstruktur von Sub-jekt und Person: Subjektivität bezeichnet die Ein-maligkeit des je einzelnen Daseins, die mit einer„ich“-Perspektive einhergeht, Personalität diekonkrete Relation zu Anderem und Anderen. AlsPerson hat das Dasein an diskursiven Praxen teilund übt sie selbst aus. Der gesamte Bereich desDiskursiven kommt also erst auf der Ebene derPerson zum Tragen, kann aber auch erst deshalbüberhaupt auftreten, weil das Dasein über einedem Diskurs vorgängige Subjektperspektive ver-fügt, die es ihm ermöglicht, diskursive Praxen zuentwickeln und auszuüben. Auf der Personebe-ne jedoch entfaltet sich das gesamte Feld an per-formativen, Wirklichkeit setzenden Akten undsozialen Konstruktionen, die Butler so beste-chend analysiert, dabei aber vergisst, dass dieseAkte einer Möglichkeitsbedingung bedürfen, dieselbst nicht wiederum diskursiv erzeugt seinkann, da das zu Begründende auf diese Weisedurch sich selbst erklärt werden würde. Der Doppelstruktur von Subjekt und Person aufder Ebene des Bewusstseins entspricht auf derEbene der Leiblichkeit die schon genannte Dif-

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ferenzierung von Leib und Körper. Durch denLeib ist das einzelne Dasein „zur Welt“, im Leibist die „ich“-Perspektive vermittelt, in und durchden Leib ist das Dasein einmalig und unvertret-bar. Somit sind Subjektperspektive und Leib-lichkeit untrennbar miteinander verknüpft. Dochnicht nur die Subjektperspektive, sondern auchdie Personperspektive kommt im Leib zum Aus-druck. Denn der Leib ist ein Vermögen, durchdas Dasein sich auf Anderes hin zu öffnen undsich auf es zu beziehen; der Leib ermöglicht Re-lation. Subjekt- und Personperspektive sind alsogleichermaßen mit der Leiblichkeit verbunden.Körper ist der Leib nun aber dann und insofern,als er als Ausdruck der Personperspektive ist. DerLeib wird zum Körper, wenn er zum Objekt vonSprachhandlungen, von performativen Aktenwird. Als Teil diskursiver Praxen ist der Leibschon Körper und so sämtlichen Bedingungenund Bedingtheiten des „In-der-Welt-seins“unterworfen, folglich auch der Macht diskursi-ver Praxen und den Konstruktionsmechanismen,die mit ihnen verbunden sind. Das Dasein bildetso eine personale Identität aus und entfaltet sichin eben jenem Vollzug performativer Akte.

DAS BEGEHREN

Die Leiblichkeit wurde unter anderem als einVermögen der Offenheit zum Anderen bezeich-net, somit als Vermögen der Relation, das in derSubjektperspektive ermöglicht, jedoch in der Per-sonperspektive und damit auch durch den Kör-per allererst realisiert ist. Das impliziert nun aucheinen Aspekt, der bislang noch nicht zur Spra-che gekommen ist, nämlich den Aspekt des Be-gehrens. Das Begehren ist zwar immer Begehrenvon etwas oder jemandem, doch es basiert auf

einem Vermögen, das selbst noch nicht auf Ob-jekte bezogen und so noch nicht inhaltlich be-stimmt ist: das Begehrungsvermögen, welchesals Vermögen, nicht als Verwirklichung, mit derLeiblichkeit verbunden ist. Dem Leib ist eineStruktur des Begehrens eingeschrieben, welchedas leiblich verfasste Dasein immer auch zu ei-nem begehrenden Dasein macht. Das Daseinkann vieles begehren: Dinge, Güter, ja das Erle-ben bestimmter Ereignisse oder von Gefühlen. Eskann aber auch andere Personen begehren, zudenen es in Beziehung steht. Diese Beziehung er-hält dann eine erotische Dimension, wenn esauch um das Begehren des Leibes der anderenPerson geht. Jenes Begehren anderer Personenin der Dimension des Leibes kann nun auch als„sexuelles Begehren“ bezeichnet werden, daszum Vollzug der Existenz des bewussten Daseinsin seiner Leiblichkeit hinzugehört. Erst durch die-ses Begehren kann mir in der Welt überhaupteine andere Person als erotisch anziehend er-scheinen. Andere Personen werden sozusagenerst dadurch sexualisiert, dass das Dasein selbstschon über das Vermögen des Begehrens ver-fügt, das in der Leiblichkeit wurzelt. Dement-sprechend lässt sich das sexuelle Begehren nichtallein bzw. in erster Linie dem objektivierten Kör-per zuzuordnen, sondern dem Leib, insofern dieLeiblichkeit mehr bedeutet als „einen benennba-ren Körper haben“. Dieses Begehren lässt sichnun auch mit dem Begriff „Geschlecht“ (sex) be-zeichnen, und „sex“, die Geschlechtsidentität, istdann zunächst einmal noch nicht an den objek-tivierten, gedeuteten Körper gebunden, sondernan den Leib und dessen Begehrungsvermögen.„Geschlecht“ im Sinne von „sex“ ist dement-sprechend weder einfach mit der sexuellen Dif-ferenz identisch noch ein Gattungsbegriff zurUnterscheidung besonderer Exemplare der

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menschlichen Spezies in Männer und Frauen.Das funktioniert auch deshalb nicht, weil sprach-liche Bezeichnungen wie etwa „männlich“ und„weiblich“ nicht mehr nur als Repräsentanten ei-ner ihnen vorgängigen Wirklichkeit zu verste-hen sind. „Sex“, sexuelles Begehren und die da-mit verknüpfte Geschlechtsidentität konkretisiertsich folglich allererst im personalen Verhältniszwischen begehrendem Ich und begehrtem An-derem. „Sex“ gehört demnach nicht allein derSubjektperspektive zu – als Begehrungsvermö-gen, sondern auch der Personperspektive – alskonkretes Begehren, das in der Beziehung zu An-deren empfunden und gelebt wird. „Sex“ gehörtdem Dasein also nicht nur als Subjekt zu, son-dern auch als Person. Doch genau hier kommterneut die Differenz von Leib und Körper zumTragen, denn in der Beziehung zu Anderen istder Leib schon Körper mit all den bekannten Dis-kurspraxen und Konstruktionsmechanismen, diedamit verbunden sind. Sprachhandlungen kon-stituieren das Verständnis des Körpers, den Blickauf den eigenen Körper und den Körper der An-deren. Körper werden bezeichnet und solcherartbestimmt. Und genau hier beginnt denn auch dieVerschiebung von „sex“ in „gender“, der Trans-formation des Leibes als Körper entsprechend.Die „gender“-Ebene nun gilt es zu analysierenund dabei auf bestimmte Deutungen etwa von„männlich“ und „weiblich“ hinzuweisen, die so-zialisationstheoretisch und handlungstheoretischzu erklären sind.Bewusstes Dasein wird somit zwar (als Person)durchaus durch die Macht des Diskurses be-stimmt, doch es kann sich (als Subjekt) zu die-ser Macht zumindest verhalten oder gar eine dis-kursverändernde Gegenmacht entwickeln, unddies im performativen Akt der Identitätskonsti-tution, von der auch „Geschlecht“ betroffen ist.

„Sex“ wird also nicht einfach in „gender“ auf-gelöst, sondern geht diesem etwa im Sinne desBegehrensvermögens voraus, realisiert sich je-doch quasi als „gender“ und damit auch unterden Bedingungen diskursiver Praxen und derennormierender Macht.Diese anthropologischen Reflexionen lassen sichinsofern theologisch fruchtbar machen, als be-wusstes Dasein in eben jener Doppelstruktur vonSubjekt/Person und Leib/Körper sich als ein letzt-lich Gott Verdankendes und darin als Bild Got-tes verstanden werden kann. Diese Gottbildlich-keit kommt im Vollzug des Bewusstseins zumAusdruck, und dafür ist die Unterscheidung von„männlich“ und „weiblich“ zunächst einmalgänzlich unerheblich, denn ein jedes bewussteDasein ist Bild Gottes, unabhängig von allen Dif-ferenzen, die in der konkreten Existenz des Da-seins zum Tragen kommen können. BewusstesDasein ist mit „sex“ begabt, also als geschlecht-liches Wesen bestimmt, das Andere zu begehrenvermag und von Anderen begehrt werden kann,und ihm ist die Fähigkeit verliehen, seine Exis-tenz performativ – auch im Rückgriff auf „gen-der“-Bestimmungen – zu gestalten. Wie es dasletztlich in Gott gründende bewusste Leben unddamit auch die Dimension von „Geschlecht“konkret realisiert, welche Rollen es dabei entwi-ckelt und verändert, ist unbeschadet gesell-schaftlicher Prägungen, denen es unterworfenist, in seine Verantwortung gestellt.Da nun bekanntlich jede Theologie auf Anthro-pologie basiert, lassen sich auch andere Felderchristlicher Theologie unter Voraussetzung jener„gendersensiblen“ Anthropologie reflektieren.Diese theologische Rezeption von Gender-Theorien sollte zukünftig frei von Ideologie- bzw.Häresieverdacht und entsprechender Vorverur-teilungen, ggf. auch Sanktionierungen, erarbei-

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tet und zur Diskussion gestellt werden können.Katholikinnen und Katholiken kennen die fata-len Folgen einer im 19. Jhd. konstruierten Häre-sie namens „Modernismus“ – man sollte dasGanze im 21. Jhd. nicht nochmals unter ande-rem Label wiederholen. �

L I T E R A T U R

Ammicht-Quinn, Regina, Körper – Religion – Sexualität. TheologischeReflexionen zur Ethik der Geschlechter, Mainz 1999.Concilium – Internationale Zeitschrift für Theologie, Themenheft 4(2012) zu „Gender und Theologie“.Heimbach-Steins, Marianne, „...nicht mehr Mann und Frau“. Soziale-thische Studien zu Geschlechterverhältnis und Geschlechtergerechtig-keit, Regensburg 2009.Wendel, Saskia, Sexualethik und Genderperspektive, in: Hilpert, Kon-rad (Hg.), Zukunftshorizonte Katholischer Sexualethik, Freiburg i. Br.2011, 36–56.Dies., „Als Mann und Frau schuf er sie“. Auf dem Weg zu einer gender-bewussten theologischen Anthropologie, in: Herder Korrespondenz 63(2009), 135–140.

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