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Erinnerung/en teilen
Das Attentat von Sarajevo und seine ProtagonistInnen im Lichte aktueller
künstlerischer und kultureller Verarbeitungen
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
einer Magistra der Philosophie
an der Karl-Franzens-Universität Graz
vorgelegt von
Judith Enzenhofer
am Institut für Slawistik
Begutachterin: Univ.-Prof. Dr.phil. Renate Hansen-Kokoruš
Graz, 2020
Inhalt
1. Einleitung ........................................................................................................................... 1
2. Relevanz und Verortung des Themas in der Gegenwart ................................................ 4
3. Relevante Theorien und Konzepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisfor-
schung ................................................................................................................................. 6
3.1. Kollektives, kulturelles und kommunikatives Gedächtnis ....................................... 6
3.2. Kollektives Erinnern und kollektives Vergessen ...................................................... 9
3.3. Kollektive Erinnerung und die Konstruktion kollektiver Identität ......................10
3.4. Medien des kollektiven Gedächtnisses ....................................................................12
3.5. Kollektive Erinnerung, Diskurs und Macht ...........................................................12
3.6. Kollektive Erinnerung, Mythos und Held ..............................................................15
3.7. Zusammenfassung ....................................................................................................19
4. Historische Kontextualisierung des Attentats von Sarajevo .........................................21
5. Vergangene Erinnerungen – eine 100-jährige Geschichte der Wertebildung ............24
5.1. Das Attentat in der Erinnerung von 1914 bis 2014 ................................................25
5.2. Das Attentat in der Erinnerung im Jubiläumsjahr 2014 ........................................31
5.2.1. Gedenkveranstaltungen in Sarajevo ................................................................32
5.2.2. Gegen-Gedenkveranstaltungen in Višegrad ...................................................36
5.3. Zusammenfassung ....................................................................................................39
6. Forschungsstand und Forschungsfragen ........................................................................41
6.1. Forschungsstand .......................................................................................................41
6.2. Forschungsfragen .....................................................................................................45
7. Das Attentat und seine ProtagonistInnen in aktuellen künstlerischen und kulturellen
Verarbeitungen ................................................................................................................46
7.1. Erinnerung im öffentlichen Raum ..........................................................................47
7.1.1. Erinnerung im öffentlichen Raum und kollektives Gedächtnis ....................47
7.1.2. Denkmal für Gavrilo Princip ...........................................................................49
7.1.3. Aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes ................. 62
7.1.4. Das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ ................................................................. 68
Exkurs: Die Ausstellung ‚Sarajevo 1914–2014‘ in der Vijećnica................................... 77
7.1.5. Thematische Stadtführung zum Attentat von Sarajevo ................................ 79
7.1.6. Souvenirs .......................................................................................................... 84
7.2. Literatur ................................................................................................................... 87
7.2.1. Literatur und kollektives Gedächtnis ............................................................. 87
7.2.2. Nezemaljski izraz njegovih ruku von Miljenko Jergović .................................. 89
7.2.3. Mali mi je ovaj grob von Biljana Srbljanović .................................................. 102
7.3. Film ......................................................................................................................... 115
7.3.1. Film und kollektives Gedächtnis ................................................................... 115
7.3.2. Smrt u Sarajevu von Danis Tanović ............................................................... 116
8. Resümee......................................................................................................................... 125
9. Sažetak ........................................................................................................................... 135
10. Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 138
10.1. Printmedien ........................................................................................................ 138
10.2. Internetquellen ................................................................................................... 143
10.3. Filmographie ...................................................................................................... 148
11. Abbildungsverzeichnis.................................................................................................. 149
12. Anhang .......................................................................................................................... 150
1
1. Einleitung
Der Titel dieser Arbeit – Erinnerung/en teilen – trägt eine Doppeldeutigkeit in sich: Erinne-
rungen können mit anderen geteilt werden; sie können aber auch teilen – nämlich dann,
wenn Uneinigkeit über sie herrscht und diese Uneinigkeit zu Konflikten zwischen den kon-
kurrierenden Erinnerungsträgern führt. Vor allem in den Nachfolgestaaten des ehemaligen
Jugoslawiens finden sich unzählige solcher teilenden Erinnerungen. Der Kampf der 1990er
Jahre um die ethnischen Grenzen wurde inzwischen von der militärischen auf die kulturelle
Ebene verlagert. Unter dieser Gegebenheit entwickelte sich Geschichte zu einer regelrech-
ten Kampfarena. Einzelne ethnonationale Eliten versuchen, durch bewusste und beliebige
Verzerrung der Vergangenheit Geschichte für ihre eigenen gegenwärtigen Zwecke, Bedürf-
nisse und Interessen zu instrumentalisieren.
Gavrilo Princip und das von ihm verübte Attentat auf den österreichisch-ungarischen
Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie in Sarajevo, das gemeinhin als Aus-
löser des Ersten Weltkriegs gilt, stellen bis heute ein hochgradig konfliktbehaftetes Thema
dar – nicht nur in den Geschichtswissenschaften und verwandten Disziplinen, sondern auch
in der öffentlichen Debatte. Gerade anlässlich des Zentenariums des Beginns des Ersten
Weltkriegs im Jahr 2014 rückten das Attentat und seine ProtagonistInnen erneut ins Licht
der Aufmerksamkeit und wurden im Rahmen wissenschaftlicher Veranstaltungen sowie
künstlerischer und kultureller Projekte kontrovers diskutiert. Das Interesse an diesem his-
torischen Ereignis ist seither nicht abgeflacht; auch in den Jahren danach war und ist es noch
oft Thema in Kunst und Kultur. Gegenwärtige Deutungen des Attentats von Sarajevo ent-
hüllen es als ein Prisma, in dem sich nicht nur viele verschiedene Interpretationen der Ver-
gangenheit überschneiden, sondern auch ideologisch völlig gegensätzliche Lesarten der Ge-
genwart aufeinandertreffen. Von der Aktualität der damit in Verbindung stehenden Debatte
motiviert, soll die Untersuchung der kollektiven Erinnerung(en) an das Attentat und seine
ProtagonistInnen und die damit zusammenhängende Bewertung des historischen Ereignis-
ses seitens verschiedener Erinnerungskreise in Bosnien-Herzegowina im Mittelpunkt dieser
Diplomarbeit stehen.
Künstlerische und kulturelle Arbeiten, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen,
können als Trägermedien kollektiver Erinnerungen verstanden werden. Als solche können
sie Geschichte sowohl für bestimmte gesellschaftspolitische Zwecke instrumentalisieren als
auch kritische Reflexionen ihr gegenüber anregen und bestärken. Die vorliegende Arbeit
2
wird daher der Frage nachgehen, wie dem Attentat von Sarajevo und seinen ProtagonistIn-
nen in aktuellen künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen gedacht wird. Präsentatio-
nen der Vergangenheit aus Kunst und Kultur dürfen jedoch nicht als bloße Trägermedien
kollektiver Erinnerungen verstanden werden, sondern sie wirken vielmehr auch selbst als
Transformatoren des kollektiven Gedächtnisses und spielen sodann eine zentrale Rolle bei
dessen Formierung und Konstruktion. Mit anderen Worten, die Vergangenheitsdarstellun-
gen, die sie zu transportieren scheinen, werden vielmals erst durch sie erzeugt.
Von zentralem Interesse sind also bestimmte Kollektive und die Frage, wie sie mit der
gemeinsamen Erinnerung an das Attentat und seine ProtagonistInnen umgehen. Zur Klä-
rung dieser Frage bedient sich diese Arbeit der Theorien der kulturwissenschaftlichen Ge-
dächtnisforschung (vgl. Kap. 3). Diese geht davon aus, dass Gedächtnis und Erinnerung es-
senziell für das Verstehen moderner Gesellschaften sind, da die Art und Weise, wie eine
Gemeinschaft Vergangenes interpretiert, deutet und wertet, mehr über aktuelle Bedürf-
nisse, Werte und Ziele der sozialen Gruppe aussagt als über das tatsächliche historische Er-
eignis. Bei kollektiver Erinnerung handelt es sich demnach nicht um eine objektive Darstel-
lung der Vergangenheit, sondern um eine Reflexion dominierender, aktueller politischer
und gesellschaftlicher Gegebenheiten. Untersucht man kollektive Erinnerungsakte – zu de-
nen auch künstlerische und kulturelle Verarbeitungen von Vergangenheit zählen –, können
signifikante Rückschlüsse auf die Selbstverortung der einzelnen Erinnerungsgemeinschaf-
ten und ihre Positionierung gegenüber anderen gezogen werden.
Bei der Zuordnung der für die Untersuchung dieser Arbeit ausgewählten Primärquel-
len wurde eine Dreiteilung in Erinnerung im öffentlichen Raum (vgl. Kap. 7.1), Literatur (vgl.
Kap. 7.2) und Film (vgl. Kap. 7.3) vorgenommen. Das erste der drei genannten Kapitel stellt
sogleich das umfangreichste dar: Untersucht werden das 2014 errichtete Denkmal für Ga-
vrilo Princip, die aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes, das Mu-
seum ‚Sarajevo 1878–1918‘ mit einem Exkurs zur Ausstellung ‚Sarajevo 1914–2014‘ in der
Vijećnica, eine thematische Stadtführung zum Attentat sowie das Souvenirangebot der Stadt
Sarajevo in Bezug auf das historische Ereignis. Das zweite Kapitel widmet sich dem
literarischen Text als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Analysiert werden Miljenko
Jergovićs jüngst erschienener Roman Nezemaljski izraz njegovih ruku (‚Der nicht von dieser
Welt stammende Ausdruck seiner Hände‘)1 und Biljana Srbljanovićs Dramentext Mali mi je
ovaj grob (dt. Titel ‚Dieses Grab ist mir zu klein‘). Im letzten Kapitel soll der Film Smrt u
1 Übersetzungen hier und in weiterer Folge (falls nicht anders angegeben) von J.E.
3
Sarajevu (dt. Titel ‚Tod in Sarajevo‘) von Danis Tanović Gegenstand einer ausführlichen
Diskussion sein.
Für die Untersuchung der künstlerischen und kulturellen Aufarbeitungen des Attetats
bedient sich diese Arbeit jedoch nicht nur der aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
forschung gewonnenen Erkenntnisse. Gerade beim Nachdenken und Forschen über Erinne-
rung im öffentlichen Raum drängen sich darüber hinaus zwei weitere Forschungsebenen auf:
Das, was erinnert, und das, was vergessen wird, ist in erster Linie keine Frage der Wahr-
heitsfindung. Vielmehr ist es eine Frage der Macht, wer in der Lage ist, am öffentlichen
Diskurs über Vergangenheit teilzunehmen und somit darüber zu entscheiden, welche Erin-
nerungen bewahrt bzw. wachgehalten und welche vergessen bzw. verdrängt werden. Daher
wird die Untersuchung ausgewählter künstlerischer und kultureller Verarbeitungen des At-
tentats um eine abgeschwächte Form der Diskursanalyse, die sich auf die Online-Medienbe-
richterstattung beschränken wird, ergänzt werden. Da es sich bei im öffentlichen Raum vi-
sualisierten Erinnerungen nicht nur um hegemoniale Botschaften künstlerischer und kultu-
reller Objektivationen handelt, sondern auch um Orte, an denen vielschichtige gesellschaft-
liche Auseinandersetzungen und soziale Praktiken stattfinden, scheint darüber hinaus eine
Erforschung vor Ort als äußerst fruchtbar. Dafür wird der von Karl Schlögel (2003) einge-
führte Begriff der Augenarbeit verwendet werden, der es ermöglichen soll, die künstlerischen
und kulturellen Artefakte im öffentlichen Raum vor allem hinsichtlich ihrer emotionalen
und physischen Wirkungsmacht zu untersuchen. Eine solche empirische Forschung vor Ort
wird die im Theorieteil herausgearbeiteten Methoden der kulturwissenschaftlichen Ge-
dächtnisforschung und der diskursanalytischen Untersuchung um viele wertvolle Beobach-
tungen ergänzen können.
In der aktuellen Forschung fehlen bislang wissenschaftliche Beiträge, die die Unter-
suchung der Verarbeitungen des Attentats und seiner ProtagonistInnen in Kunst und Kul-
tur explizit in einen vergleichenden und medienübergreifenden Kontext stellen. Die vorlie-
gende Arbeit wird diese Forschungslücke keineswegs schließen können, soll aber als erster
Versuch, die aktuelle Erinnerungslandschaft in Bosnien-Herzegowina in Bezug auf das At-
tentat in diesem breiter angelegten Kontext zu untersuchen, verstanden werden.
4
2. Relevanz und Verortung des Themas in der Gegen-
wart
Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum das Attentat von Sarajevo nach über 100 Jahren
immer noch relevant und wert ist, untersucht zu werden. Um auf diese Frage eine angemes-
sene Antwort geben zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden. Denn möchte man
sich mit der Erinnerungslandschaft rund um das Attentat und seinen ProtagonistInnen in
Bosnien-Herzegowina beschäftigen, ist ein Blick auf die gegenwärtige Situation im Land
unumgänglich. Bosnien ist durchzogen von inneren ethnischen Spannungen. Das 1995 aus-
gehandelte Friedensabkommen von Dayton, welches heute noch als Verfassung dient, wirkt
diesen nicht entgegen, sondern verfestigt sie im Gegenteil noch. Der Vertrag führte eine
Dreiteilung des Machtsystems ein und erkennt die drei konstitutiven Völker (BosniakInnen,
bosnische KroatInnen und bosnische SerbInnen) und die zwei Entitäten (Federacija und Republika
Srpska) an.2 Das ist insofern von Belang, als demzufolge ethnische Zugehörigkeit ins Zent-
rum des politischen Systems gestellt wird. (vgl. Sajn 2018: 14)
Jede/r BürgerIn Bosnien-Herzegowinas besitzt zwar eine bosnisch-herzegowinische
Staatsbürgerschaft, diese sagt jedoch häufig nichts darüber aus, welcher Nationalität sich
der/die Einzelne zurechnet und zugehörig fühlt. (vgl. Komsic 2011: 1) Statt einer staatstra-
genden Nation ist die bosnische Bevölkerung in drei Nationen – die der BosniakInnen, der
bosnischen KroatInnen und der bosnischen SerbInnen – geteilt. Nationale Zugehörigkeit basiert
in Bosnien größtenteils auf ethnischen Unterscheidungen. Somit fühlt sich ein Großteil der
Bevölkerung einer der drei ethnischen Gruppen zugehörig. Das nationale Zugehörigkeits-
gefühl ist bei allen drei Völkern äußerst stark ausgeprägt, was dazu führt, dass die Völker
mit aller Macht versuchen, sich voneinander abzugrenzen. Wichtigstes Unterscheidungs-
merkmal der drei Nationen stellt die Religionszugehörigkeit dar.3 (ebd. 2) Die Verwendung
der Begriffe der BosniakInnen, bosnischen KroatInnen und bosnischen SerbInnen anstelle des
2 Während in der Föderation die BosniakInnen, gefolgt von den bosnischen KroatInnen die überwiegende Bevöl-kerungsmehrheit stellen, ist die Republika Srpska heute größtenteils von bosnischen SerbInnen bewohnt. 3 Aufgrund besonderer gesellschaftspolitischer Voraussetzungen konnten sich aus den konfessionellen Kultu-ren allmählich nationale Kulturen entwickeln. Somit fallen im heutigen Bosnien nationale und konfessionelle Zugehörigkeit zusammen. Die Bevölkerung mit katholischer Konfession wird in der Regel den bosnischen Kro-atInnen, jene mit muslimischer Konfession den BosniakInnen bzw. bosnischen MuslimInnen und jene mit ortho-doxer Konfession den bosnischen SerbInnen zugeordnet.
5
neutraleren Begriffs der BosnierInnen widerstrebt eigentlich einer objektiven und nicht wer-
tenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung, da sie sich vornehmlich auf die Religions-
zugehörigkeit zur Bezeichnung einer Nation beziehen. Dennoch können diese Termini in
dieser Arbeit nicht umgangen werden, da die Konfession ein distinktives Merkmal der drei
Nationen in Bosnien-Herzegowina darstellt. Gerade weil diese ethnischen Bezeichnungen
eine so wichtige Rolle einnehmen und von keiner, den gesamten Staat umfassenden bosni-
schen Identität gesprochen werden kann, ist das Land von ethnischen Spannungen durch-
setzt. Da diese Arbeit davon ausgeht, dass auch der Konflikt um die Erinnerung an das At-
tentat von 1914 zumindest teilweise auf die ethnisch gespaltene Bevölkerung im Land zu-
rückzuführen ist, kann nicht umgangen werden, mit eben diesen Begriffen zu arbeiten.
Bosnien-Herzegowina befindet sich, um es mit den Worten Vedran Džihićs (2018:
495) auszudrücken, „im Würgegriff der ethnonationalen politischen und ökonomischen Eli-
ten, denen die eigenen Interessen längst wichtiger sind als die Interessen der Menschen
[…].“ Durch den Friedensvertrag von Dayton und der durch ihn eingeführten Dreiteilung
des Machtsystems, wurde ein im Grunde dysfunktionales Staatsgebilde geschaffen, das die
Mehrheit der Bevölkerung mit einer tristen ökonomischen und sozialen Lage konfrontiert.
(ebd.) Geschichte wurde zur Kampfarena. Der militärische Kampf um die ethnischen Gren-
zen der 1990er Jahre hat sich auf die kulturelle Ebene verlagert und ist heute ein Kampf um
Erinnerung. (ebd. 495) Durch bewusste und beliebige Verzerrung der Vergangenheit ver-
suchen einzelne ethnonationale politische Eliten Geschichte – wie beispielsweise das histo-
rische Ereignis des Attentats von Sarajevo – für ihre eigenen, gegenwärtigen Zwecke, Be-
dürfnisse und Interessen zu nutzen. Untersucht man die konkurrierenden Erinnerungsdis-
kurse rund um das Attentat, können dadurch, wie bereits einleitend erwähnt, Rückschlüsse
auf die Selbstverortung, Werte und Ziele der einzelnen Erinnerungsgemeinschaften gezo-
gen werden.
6
3. Relevante Theorien und Konzepte der kulturwis-
senschaftlichen Gedächtnisforschung
Gedächtnis und Erinnerung wurden in den letzten Jahren zu zentralen Begriffen verschie-
denster Wissenschaften – so auch der Kulturwissenschaften. Die Konjunktur des Gedächt-
nisthemas gründet u.a. in der technischen Veränderung elektronischer Speichermedien, in
einer generellen Neigung zur Reflexion von Erinnerung und vor allem im Schwinden der
ZeitzeugInnen, die den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg persönlich erlebt haben. (vgl.
Assmann, J. 1992: 11; Erll 20112: 3; Kohlstruck 2004: 174)
Von zentralem Interesse dieser Arbeit sind bestimmte Kollektive und die Frage, wie
sie mit der gemeinsamen Erinnerung an die historische Gestalt Gavrilo Princip und das von
ihm verübte Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie umge-
hen. Damit kann diese Arbeit der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungs-
forschung zugerechnet werden. Dafür wird in diesem Kapitel zunächst ein notwendiger
Überblick über zentrale Begriffe und Konzepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
und Erinnerungsforschung gegeben. Diese werden sodann als Untersuchungsinstrumenta-
rium der künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen dienen.
3.1. Kollektives, kulturelles und kommunikatives Gedächt-
nis
„In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und andere.“
Diese zentrale These stellt Jan Assmann (1988: 16) in seinem richtungsweisenden Aufsatz
Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität auf. Die Vergangenheit, die in der jeweiligen
kulturellen Überlieferung dargestellt wird, gibt uns Hinweise darauf, was die Gesellschaft ist
und worauf sie hinauswill. (ebd. 16) Mit anderen Worten, die Art und Weise wie eine so-
ziale Gruppe mit der Erinnerung an Vergangenes umgeht, sagt mehr über aktuelle Bedürf-
nisse, Prioritätensetzungen und Wünsche der Gemeinschaft aus als über die tatsächlichen
historischen Ereignisse. (vgl. Petrović-Ziemer 2016: 600) Dieser Theorie liegt die Annahme
7
zugrunde, „dass Erinnern und Vergessen kognitive Tätigkeiten sind, die nicht nur Indivi-
duen, sondern auch Kollektiven wie Gruppen, Gesellschaften und Staaten zuzurechnen
sind.“ (Assmann, A. 2013: 16) Man spricht also vom „kollektiven Gedächtnis“ bzw. von der
„kollektiven Erinnerung“.
Der Terminus des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Soziologen
Maurice Halbwachs zurück und wurde später von Jan und Aleida Assmann weiterentwi-
ckelt. Jan Assmann nimmt eine begriffliche Trennung zweier Register des kollektiven Ge-
dächtnisses vor: Er unterscheidet zwischen dem kommunikativen einerseits und dem kultu-
rellen Gedächtnis andererseits. (vgl. Erll 20112: 30) Das kommunikative Gedächtnis basiert
auf Alltagskommunikation und umfasst die Erinnerung von ZeitgenossInnen. Somit hat das
kommunikative Gedächtnis immer nur einen begrenzten, mitwandernden Zeitrahmen von
ungefähr 80 bis 100 Jahren zum Inhalt. Da hier jede/r als gleich kompetent gilt, Vergangenes
zu erinnern und zu deuten, ist es wenig geformt, naturwüchsig und informell. (vgl. Erll
20112: 30f.) Im Gegensatz dazu stützt sich das kulturelle Gedächtnis nach Jan Assmann auf
„an feste Objektivationen gebundene, hochgradig gestiftete und zeremonialisierte […] ver-
gegenwärtigte Erinnerung.“ (ebd. 31) Unter kulturellem Gedächtnis versteht er also:
[…] den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiederge-brauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert
und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt. (Assmann, J. 1988: 15)
Ein kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit wird von einer Gesellschaft oft über
Jahrhunderte hinweg tradiert und dadurch für kommende Generationen bewahrt. Dies
schafft sie durch die Ritualisierung und Institutionalisierung von Erinnerung, was jedoch
einer kontinuierlichen Pflege bedarf. (vgl. Uhl 2010: 9) Objektivationen des kulturellen Ge-
dächtnisses, wie Jan Assmann sie versteht (z.B. die Bibel) müssen in jeder Gegenwart aufs
Neue angeeignet und interpretiert werden, wozu es der Ausbildung von SpezialistInnen
(z.B. PriesterInnen) bedarf. (vgl. Erll 20112: 33)
Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Während das kommunikative Ge-
dächtnis die Erinnerung der ZeitzeugInnen beschreibt und demnach wenig strukturiert und
informell ist, gilt das kulturelle Gedächtnis als in hohem Maße geformt, institutionalisiert
und ritualisiert und ist für sein Weiterbestehen an Medien gebunden. Das kollektive Ge-
dächtnis wird hier als ein diese beiden Register umfassendes Gedächtnis verstanden.
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In Aleida Assmanns 1999 erschienenem Band Erinnerungsräume erfährt der Begriff des
kulturellen Gedächtnisses eine enorme Ausweitung. Das kulturelle Gedächtnis beschreibt
nun nicht mehr nur die zentralen Wiedergebrauchs-Texte, -Bilder und -Riten, sondern alle
von der Gesellschaft aufbewahrten Objektivationen einer gegebenen Kultur, wie beispiels-
weise literarische Texte, Bilder, Filme, Kunst- und Bauwerke. (vgl. Erll 20112: 35) Aber
nicht alle bewahrten Objektivationen finden auch Platz im aktiven kulturellen Bewusstsein
und Gedächtnis einer Gesellschaft. Der Großteil der kulturellen Vergegenständlichungen
einer gegebenen Kultur wird im passiven Gedächtnis eines Kollektivs gespeichert. Aleida
Assmann bezeichnet diese beiden Modi des Kollektivgedächtnisses als Funktions- bzw.
Speichergedächtnis. (vgl. Assmann, A. 1999: 137) Nur eine kleine Auswahl an kulturellen
Objektivationen wird aktiv im Funktionsgedächtnis der Mitglieder einer Gesellschaft ver-
ankert. Die restlichen Objektivationen einer Kultur erhalten einen Platz in den Institutionen
des Speichergedächtnisses, wie beispielsweise Bibliotheken und Archiven. Dort werden ma-
terielle Überreste wie Bücher, Briefe und Fotografien gesammelt, konserviert, katalogisiert
und erschlossen. (vgl. Assmann, A. 2010: 165) Aus dem Verhältnis zwischen Funktions- und
Speichergedächtnis ergibt sich eine Dynamik des kulturellen Gedächtnisses die Aleida Ass-
mann zufolge:
[…] zum einen aus einer engen Auswahl von Bildern, Texten, Erzählungen und Daten,
die aktiv im Bewusstsein und Gedächtnis der Bürgerinnen und Bürger einer Gesell-schaft verankert werden, und zum anderen in einem großen, unüberschaubaren Vorrat
an Kunst und Kulturzeugnissen, der allenfalls für Spezialisten von einer Bedeutung ist […] [besteht]. Beides sind wichtige Funktionen des kulturellen Gedächtnisses: die Aus-wahl und wiederholte öffentliche Präsentation eines werthaften, überzeitlichen, ge-
schmacksorientierten und geschmacksorientierenden Kanons einerseits und das Ar-chiv, d.h. die Sammlung bzw. Ansammlung von Materialien ohne unmittelbaren Re-
levanzbezug die gleichwohl interessant und wichtig sind als Schlüssel für das Verständ-nis historischer Epochen andererseits. (Assmann, A. 2010: 165)
Assmann beschreibt das Funktionsgedächtnis also mithilfe des Begriffs des Kanons und das
Speichergedächtnis mit dem des Archivs. Was in das Funktionsgedächtnis (oder den Kanon)
gelangt muss jedoch immer wieder aufs Neue angeeignet werden, um nicht fremd zu werden
und schlussendlich zu verstummen, sondern um seinen Sinn über Generationen hinweg
fortzutragen. Dazu bedarf es einer immer neuen Aneignung, Interpretation und Vermitt-
lung des Kanons an eine breite Öffentlichkeit, die beispielsweise durch Lehrpläne und
Schulbücher umgesetzt werden kann. Die sich daraus unweigerlich ergebenden Verschie-
bungen und Verzerrungen sind es, die das kulturelle Gedächtnis lebendig erhalten. (vgl. Ass-
9
mann, A. 2010: 166) Sowohl Funktions- als auch Speichergedächtnis erfüllen zentrale Rol-
len: Während das Funktionsgedächtnis identitätsstiftend wirkt und bestehende Gesell-
schaftsformen legimitiert, dient das Speichergedächtnis als „Reservoire zukünftiger Funkti-
onsgedächtnisse“, als „Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens“ und stellt somit eine
„Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels“ dar (Assmann, A. 1999: 140). Das Spei-
chergedächtnis muss durch bestimmte Institutionen, die „kulturelles Wissen aufbewahren,
konservieren, erschließen und zirkulieren lassen“, bewahrt werden (ebd.). Solche Aufgaben
kommen vor allem der Wissenschaft, dem Museum oder eben dem Archiv zu. (ebd. 141)
Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis
werden auch Transformationsmöglichkeiten und -prozesse des kulturellen Gedächtnisses
erklärbar. (vgl. Erll 20112: 35) In der Dynamik zwischen Funktions- und Speichergedächtnis
liegt aber auch ein gewisses Konfliktpotenzial. „Gerade bei umstrittenen historischen Ereig-
nissen ist die Frage, welche Gruppen die kollektiven Vorstellungen prägen, ihre Definition
und Sprachregelungen durchsetzen können, Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.“
(Uhl 2010: 10) Gemeinschaften mit gegensätzlichen Interpretationen über vergangene Er-
eignisse konkurrieren demnach um den Einzug in den Erinnerungskanon.
Deutlich sichtbar wird das auch anhand des vorliegenden Kontextes. In Bosnien-Her-
zegowina erzeugt die Erinnerung an das historische Ereignis des Attentats von Sarajevo und
seine ProtagonistInnen teilweise stark voneinander abweichende und miteinander in Kon-
kurrenz stehende Interpretationen und Bewertungen.
3.2. Kollektives Erinnern und kollektives Vergessen
Wie bereits festgestellt wurde, handelt es sich bei Erinnerungen keineswegs um objektive
Darstellungen vergangener Ereignisse, sondern um hochgradig selektive Konstrukte, die
sich – im Falle des kulturellen Gedächtnisses – an gegenwärtigen politischen und gesell-
schaftlichen Verhältnissen orientieren. Wird der Fokus auf etwas Bestimmtes gerichtet,
wird damit gleichzeitig immer anderes ausgeblendet, ignoriert oder übersehen. Überall dort
handelt es sich um kollektives Vergessen. Dieses Vergessen wird durch das politische Werte-
system, gesellschaftliche Normen und alltägliche Routinen und Gewohnheiten immer wie-
der von Neuem bestätigt und weitergeführt. Vergessen ist kein statischer Zustand, sondern
10
ein dynamischer Selektionsprozess der durch neu erlangtes Wissen, Umdenken und über-
raschende Ereignisse zu Veränderung und Revidierung der kollektiven Erinnerung führen
kann. (vgl. Assmann, A. 2016: 69) Erinnern und Vergessen sind also untrennbar miteinan-
der verbunden: Die Frage, was erinnert und was vergessen werden soll, muss demzufolge
vor allem nach tiefen sozialen, politischen und ideologischen Umstürzen und mit Blick auf
aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse und Machtverhältnisse immer wieder von Neuem be-
antwortet werden. (vgl. Assmann, A. 2013: 17) Selektiv ist Gedächtnis aber auch deshalb, da
eine lückenlose Erinnerung an die Vergangenheit schlichtweg nicht möglich ist. Somit stellt
(kollektives) Vergessen eine Voraussetzung für (kollektives) Erinnern dar. (vgl. Erll 20112:
7) Die Neubewertungen vergangener Ereignisse nach politischen und gesellschaftlichen
Umstürzen werden auch im folgenden Kapitel dieser Arbeit, wenn es darum geht, die kol-
lektive Erinnerung an das Attentat und die daran Beteiligten über die letzten 100 Jahre hin-
weg aufzuzeigen, deutlich erkennbar werden. Insbesondere am Schauplatz des Attentats las-
sen sich die ständigen Wandlungen in der Rezeption und Bewertung des Ereignisses para-
digmatisch ablesen. Die unterschiedlichen ikonologischen Markierungen, die die 100 Jahre
von 1914 bis 2014 hinweg an dieses Ereignis erinnerten, können als ein Paradebeispiel her-
angezogen werden, um aufzuzeigen, wie Erinnerungen an die jeweils aktuelle, vorherr-
schende Ideologie angepasst werden. Da es sich beim kollektiven Erinnern, wie zuvor her-
vorgehoben wurde, nicht um eine objektive Darstellung von Vergangenem, sondern um
eine Reflexion dominierender, aktueller politischer und sozialer Gegebenheiten handelt,
impliziert eine Änderung der vorherrschenden politischen Agenda meist auch eine Ände-
rung des kollektiven Gedächtnisses. (vgl. Erll 20112: 184) So ist es, insbesondere nach revo-
lutionären Umbrüchen, oftmals der Fall, dass kollektive Erinnerungssymbole nicht länger
mit dem veränderten historischen und ideologischen Kontext einer spezifischen sozialen
Umwelt harmonieren. Für gewöhnlich ist die Entfernung dieser und gegebenenfalls die Ein-
führung neuer Symbole eine Folge dieser historischen Veränderung. (ebd. 183f.)
3.3. Kollektive Erinnerung und die Konstruktion kollekti-
ver Identität
Im Zuge der Theorie des kollektiven Gedächtnisses kommen auch Konzepten der kollektiven
Identität eine zentrale Rolle zu. Unter kollektiver Identität versteht man „das Bild, das eine
11
Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren.“ (Assmann, J.
1992: 132) Gemeinsame Erinnerung ist ein nicht unbedeutender Bestandteil davon. Um eine
gemeinsame Identität zu teilen, müssen die TrägerInnen eines kollektiven Gedächtnisses
einander jedoch gar nicht kennen, wie das Beispiel der Nation verdeutlicht. (ebd.) Benedict
Anderson (1996: 15) prägte den Begriff der Nation als eine „vorgestellte politische Gemein-
schaft“. Als vorgestellt wird sie deshalb bezeichnet, da selbst „die Mitglieder [...] der kleinsten
Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hö-
ren werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“ (ebd.)
Als Gemeinschaft wird sie vorgestellt, da sie als „kameradschaftlicher Verbund von Gleichen
verstanden wird.“ (ebd. 17) Voraussetzung für die vorgestellte Gemeinschaft ist ein Zuge-
hörigkeitsgefühl der/des Einzelnen zum abstrakten Konzept der Nation. Dieses Gefühl der
Zugehörigkeit und der Verbundenheit der Mitglieder einer Nation wird zu großen Teilen
durch nationale Symbole erzeugt. (vgl. Uhl 2010: 6) Beispielhaft genannt sei hier das ge-
meinschaftliche Singen der Nationalhymne, die auch Bestandteil des kulturellen Kanons –
um den von Aleida Assmann eingeführten Begriff nochmals aufzugreifen – der sozialen
Gruppe der Nation darstellt. Beim Singen von dieser wird ein Gefühl „gleichzeitiger Ge-
meinsamkeit“ empfunden, was laut Anderson (1992: 146) einander völlig Unbekannten eine
„Gelegenheit für Einstimmigkeit, für eine greifbare Realisierung der vorgestellten Gemein-
schaft im Widerhall der Stimmen“ bietet und somit hochgradig identitätsstiftend wirkt.
Astrid Erll (20112: 123) weist auf die „Pluralität kollektiver Identitäten“ hin: In einer
Gesellschaft koexistiert nicht nur eine Vielzahl kollektiver Gedächtnisse und Identitäten,
jedes Individuum hat auch an einer Vielzahl kollektiver Gedächtnisse und Identitäten teil.
Während man einigen dieser kollektiven Gedächtnisse und Identitäten unfreiwillig ange-
hört und diese auch nicht ändern kann (z.B. Ethnie, Familie), entscheidet man sich für an-
dere je nach eigenen Interessen und Überzeugungen ganz bewusst und kann sie auch jeder-
zeit ändern (z.B. Sportverein, politische Orientierung). (vgl. Assmann 2006: 21f.) Einige
kollektive Gedächtnisse und Identitäten liegen jedoch zwischen unfreiwilliger und freiwil-
liger Zugehörigkeit und bedürfen mal mehr, mal weniger Aufwand sie aufzukündigen bzw.
zu wechseln (z.B. Konfession, Nation). Gerade in Bosnien-Herzegowina erlebt die Kon-
struktion nationaler Identitäten konkurrierender politischer Akteure aufgrund ethnischer
Spannungen Konjunktur, was auch anhand divergierender Interpretationen des Attentats
und vor allem der Figur Gavrilo Princips ablesbar ist.
12
3.4. Medien des kollektiven Gedächtnisses
An dieser Stelle soll nochmal Jan Assmanns These, dass eine Gesellschaft in ihrer kulturellen
Überlieferung – und damit an ihrem kulturellen Gedächtnis – sichtbar wird, in Erinnerung
gerufen werden. (vgl. Assmann, J. 1988: 16) Das Gedächtnis selbst ist nicht beobachtbar.
Daher müssen zur Ableitung von Hypothesen über seine Beschaffenheit und Funktionswei-
sen kulturelle Überlieferungen bzw. kollektive Erinnerungsakte und deren soziale Produk-
tion, Tradierung und Aktualisierung untersucht werden. (vgl. Erll 20112: 7) Solche Akte
kollektiver Erinnerung sind beispielsweise Schweigeminuten, Gedenkfeiern, Denkmalset-
zungen oder die Produktion und Verbreitung historischer Studien. Derlei kulturelle Über-
lieferungen bzw. Erinnerungsakte sind stets an Medien, wie Schrift, Bild, Architektur, Mu-
seen, Denkmäler, Literatur, Film, Fotografie etc. gebunden. (vgl. Erll 20112: 117) Medien
dienen als Vermittlungsinstanzen zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis.
Ohne diese Medien ist es dem Individuum nicht möglich, an kulturell-gesellschaftlichen Er-
fahrungen und Wissensordnungen teilzuhaben. Umgekehrt können individuelle Erinne-
rungen nur durch mediale Repräsentation in gesellschaftliche Ordnungen Eingang finden
und für eine soziale Gruppe Bedeutung erlangen. (vgl. Gudehus; Eichenberg; Welzer 2010:
127) Aus der Analyse dieser Medien und der durch sie transportierten Erinnerungsinhalte
lassen sich sodann Rückschlüsse auf das kulturelle Gedächtnis ziehen. (vgl. Erll 20112: 117)
Medien dürfen allerdings nicht als reine Vermittlungsinstanzen kollektiver Erinnerungen
verstanden werden, sondern müssen auch als Transformatoren des kollektiven Gedächtnis-
ses gesehen werden. Sie lassen nicht nur Rückschlüsse auf das kollektive Gedächtnis einer
Gemeinschaft zu, vielmehr tragen sie auch selbst aktiv zu seiner Formierung und Konstruk-
tion bei. (ebd. 138) Mit anderen Worten wird das, was sie zu transportieren scheinen –
nämlich Wirklichkeits- und Vergangenheitsdarstellungen, Werte, Normen und Identitäts-
konzepte –, vielmals erst durch sie konstruiert. (vgl. Erll 2004: 5)
3.5. Kollektive Erinnerung, Diskurs und Macht
Wissen und Wirklichkeit sind Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse durch die, so
Achim Landwehr (2018: 4), „Gesellschaften […] ihre Umwelten mit bestimmten, keines-
wegs zufälligen Sinnformen ausstatten […].“ Durch Sprache und sprachlichen Austausch
13
konstruieren und eignen wir uns diese Wirklichkeit an. Sprache hat also „realitätskonstitu-
ierenden Charakter“ (Girnth 2002: 5; zit. nach: Mikfeld; Turowski 2014: 18). Dieser sprach-
liche Austausch muss aber nicht zwangsläufig zu gleichen Deutungen führen. Im Gegenteil,
viel wahrscheinlicher ist ein Koexistieren konkurrierender Lesarten und Interpretationen.
(vgl. Nonhoff 2014: 51) Wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert somit auch das Kollektiv,
das sich ihrer bedient. Als anschauliches und einer breiten Öffentlichkeit bekannten Beispiel
dafür, sei hier auf George Orwells dystopischen Roman 1984 verwiesen. Darin soll das soge-
nannte, vom totalitären Regime eingeführte „Neusprech“ der Einschränkung bzw. Manipu-
lation des Denkens und der Verankerung der herrschenden Ideologie im Unterbewusstsein
der Menschen dienen. (vgl. Mikfeld; Turowski 2014: 17) In nicht derart überspitzter Form
ist das auch in der Realität beobachtbar.
Soziale Akteure sind im Ringen um Hegemonie darum bemüht, ihre eigenen Interessen und Anliegen im Namen einer Nation, Ideologie oder einer Werteidee als gemeinsame Anliegen bzw. als Gemeinwohl darzustellen. (Mikfeld; Turowski 2014: 25)
Um diese „gemeinsamen Anliegen“ zu erreichen, bedarf es auch einer gemeinsamen Sprache.
Im Gegensatz zum Zwang – wie es im Orwellschen Roman der Fall ist – basiert Hegemonie
auf einer Form des Konsenses, der Zustimmung und der Übereinkunft. (vgl. Mikfeld; Tu-
rowski 2014: 25) Wenn nun die Konstruktion nationaler Identitäten in Bosnien-Herzego-
wina eine wichtige Rolle spielt, da ethnische Zugehörigkeit, wie zuvor erläutert, im Zent-
rum des politischen Systems steht, würde sich auch eine Untersuchung des Sprachgebrauchs
der sozialen Akteure als äußerst fruchtbar erweisen. Nach Ruth Wodak und Rudolf de Cillia
werden nämlich nationale Identitäten im Allgemeinen
[…] in und durch Diskurse konstruiert. Sie werden laufend diskursiv verhandelt und re-produziert. Sie sind einerseits insofern stabil, als sie die Identifizierung innerhalb
und den Zusammenhalt einer Gruppe, der Nation als „imagined community“ (Ander-son 1994) ermöglichen. Sie sind andererseits insofern flexibel und dynamisch, als sie von unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Kontexten bzw. für unterschied-
liche Zielgruppen unterschiedlich artikuliert werden. Diachron sind sie einem Wandel unterworfen, der von gesellschaftlichen (politischen, sozialen, wirtschaftlichen, etc.)
Veränderungen bestimmt wird. (Wodak; Cillia o.J.: 5, 6)
Es ist nochmals festzuhalten, dass das, was erinnert, und das, was vergessen wird, von aktu-
ellen Bedürfnissen, Normen und Zielen abhängt und somit kollektive Erinnerung eine ge-
sellschaftspolitische Angelegenheit ist. Das hat vor allem für Gesellschaften, die durch Me-
dien- und Massenkultur geprägt sind, Gültigkeit. Einer potenziellen Informationsflut von
Erinnerungsangeboten muss selektiv entgegengewirkt werden. (vgl. Hein-Kircher 2011: 65)
14
Diese Selektion hängt aber von gesellschaftlichen Interessen und Motiven ab, „sodass das
Erzählen in diesen Gesellschaften in unlösbarer Verbindung mit den Machthabenden steht.“
(vgl. Hein-Kircher 2011: 65)
Mit diesen Überlegungen würden wir uns allerdings im Herzen der Diskursanalyse
befinden, die allein eine ganze Abschlussarbeit zu diesem Thema füllen könnte. Aus diesem
Grund wird hier die Analyse ausgewählter kultureller Verarbeitungen des Attentats und
seiner ProtagonistInnen nur um eine sehr abgeschwächte Form einer diskursiven Untersu-
chung, die sich auf die Online-Medienberichterstattung beschränkt, ergänzt werden.4 Diese
wird aber dennoch repräsentative Einblicke in das umkämpfte Feld der Macht um Erinne-
rung bieten können. Der Mehrwert einer solchen Untersuchung soll nun in weiterer Folge
erschlossen werden.
Es lässt sich also festhalten, dass die Konstruktion kollektiver Identität – wie auch kol-
lektiver Erinnerung – vielmehr mit der Gegenwart und Zukunft als mit der Vergangenheit
verbunden ist. Die Darstellung kollektiver Erinnerungen – als wesentlicher Bestandteil der
Konstruktion kollektiver Identität – orientiert sich an gegenwärtigen politischen und sozi-
alen Verhältnissen und Interessen. Was erinnert und was vergessen werden soll, ist also in
erster Linie keine Frage der Wahrheitsfindung. Vielmehr ist es eine Frage der Macht, wer
in der Lage ist, den öffentlichen Diskurs über Vergangenheit zu leiten oder daran teilzuneh-
men und somit darüber zu entscheiden, welche Erinnerungen verbannt und welche wach-
gehalten werden. Mit anderen Worten ist die Darstellung der Vergangenheit ein Kampf um
Erinnerung und in weiterer Folge ein Kampf um Identität: Wessen Erinnerungen bewahrt
und institutionalisiert und wessen Erinnerungen verdrängt und vergessen werden, hängt
von den Möglichkeiten ab, am Erinnerungsdiskurs teilnehmen zu können. Da in jeder Ge-
sellschaft einzelne Gruppen ungleichen Zugang zu Macht haben, ist auch der Zugang zu
Erinnerungsdiskursen und somit die Möglichkeit der Darstellung der eigenen Perzeption
der Vergangenheit in der Öffentlichkeit ungleich verteilt. (vgl. Palmberger 2006: 526) In-
nerhalb Bosnien-Herzegowinas nimmt die Möglichkeit am Erinnerungsdiskurs teilzuneh-
men eine besonders wichtige Rolle ein. In dieser heterogenen Gesellschaft wird Erinnerung
zum wirksamen Medium, mithilfe dessen „die unterschiedlichen Akteure um gesellschaftli-
che oder politische Macht konkurrieren.“ (Kohlstruck 2004: 177)
4 Da hier Literatur-, Theater- und Filmkritiken nicht als Quelle der Diskursanalyse gesehen werden, be-schränkt sich die Erweiterung der Untersuchung um die diskursanalytische Ebene ausschließlich auf die in dieser Arbeit analysierten künstlerischen und kulturellen Objektivationen des Attentats im öffentlichen Raum.
15
Erinnerung ist eines der Themenfelder, auf dem sich die eigene Identität und Wert-
und Normorientierung konkretisieren lässt. In der jeweils bestimmten Bewertung von Vergangenheit und in den Folgerungen, die sich daran schließen, werben Akteure um
ihre eigene Legitimität und um Anhänger. (Kohlstruck 2004: 177)
Das Erreichen von Legitimität sowohl nach innen als auch nach außen ist vor allem Ziel
erinnerungspolitischen Handelns. Zur Legitimierung der Existenz bestimmter politischer
Kollektive sind Erinnerungen an besondere Ereignisse, bestimmte historische Personen und
deren besondere Verdienste ein unabdingbares Element. (vgl. Kohlstruck 2004: 177) Erin-
nerungspolitisches Handeln stellt somit den Versuch dar, „Politik durch Geschichte zu legi-
timieren.“ (ebd.178)
In Bosnien-Herzegowina drängen sich vor allem politische Akteure der drei konsti-
tutiven Völker in den Vordergrund, die mithilfe von Erinnerung um Legitimierung der ei-
genen Existenz sowie um Delegitimierung der Existenz der anderen Akteure ringen. Die
erinnerungspolitischen Strategien der einzelnen Lager in Bosnien-Herzegowina können
auch exemplarisch an der Erinnerung an das Attentat von Sarajevo abgelesen werden. Die
Erinnerung an dieses historische Ereignis und seine ProtagonistInnen wird in einer den ei-
genen Interessen und Bedürfnissen förderlichen Weise interpretiert und bewertet, was zu
völlig gegensätzlichen und miteinander konkurrierenden Deutungen der einzelnen Erinne-
rungsnarrative führt.
3.6. Kollektive Erinnerung, Mythos und Held
Mythen sind ein wichtiges Werkzeug für Erinnerungskulturen sozialer Gemeinschaften.
Voraussetzung zur Entstehung eines Mythos ist das Eintreten eines subjektiv spektakulären
Ereignisses, das überspitzt betont wird. Historische Sachverhalte werden nicht den Tatsa-
chen entsprechend dargestellt, wodurch der Mythos zu einer selektiven Interpretation der
Vergangenheit wird. (vgl. Hein-Kircher 2005: 3)
Als Mythos wird hier eine sinngebende und identitätsstiftende Erzählung verstanden,
die „Unbekanntes oder schwer Erklärliches mit Bekanntem vereinfacht erklären will.“
(Hein-Kircher 2011: 69) Mythen entwirren, erklären und interpretieren komplexe, histori-
sche Ereignisse durch vereinfachte und emotional mitreißende Erzählungen und wirken be-
stätigend auf das grundlegende Werte- und Normensystem einer sozialen Gruppe. (vgl.
Hein-Kircher 2011: 70) Mythen dienen, so Hein-Kircher
16
[…] der Selbstbestätigung, -identifizierung und -verortung einer um ihr Ansehen rin-
genden Gruppe, deren soziales Bewusstsein, Integration, Gemeinschaft und Identität
durch sie gefördert und gestärkt werden soll. (Hein-Kircher 2005: 7f.)
Die Aufgaben des Mythos liegen also in der Bildung von Gemeinschaften, deren kollektive
Identität sowie Legitimation. Aufgrund dieser sinngebenden, identitätsstiftenden und legi-
timierenden Funktionen werden Mythen vor allem in Umbruch- und Krisensituationen ge-
braucht. Die postjugoslawischen Gesellschaften zeigen dies paradigmatisch auf. Nach dem
Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens fand sich die Bevölkerung in einem ideologischen
Vakuum wieder, welches Raum für nationalistische und religiös-politische Ideologien bot.
(vgl. Hein-Kircher 2011: 70) Die Narrative des gemeinsamen jugoslawischen Staates stimm-
ten nicht mehr mit dem Selbstbild der neuen nationalen Identitäten überein. Der sukzessive
Zerfall sozialistischer Glaubensinhalte sowie das Aufkommen neuer nationaler Identitäten
und Staaten forderten neue Gründungsmythen und damit einhergehend auch neue natio-
nale Heldenfiguren. (vgl. Sabo 2017: 6) Neue bzw. neue alte Mythen erfuhren daher zu die-
ser Zeit bis in die Gegenwart hineinreichend einen enormen Aufschwung, da sie durch ihre
Wirkungsweise Menschen zu einer homogenen Masse zusammenschweißen und mobili-
sieren konnten und können. (vgl. Hein-Kircher 2011: 70) Dies waren und sind vor allem
Mythen, die sich auf die eigene Ethnie und auf eine Zeit vor dem sozialistischen Jugoslawien
beziehen, da diesem gegenüber eine immer größer werdende Abneigung entgegengebracht
wurde und wird. (vgl. Sabo 2017: 7)
Der Mythos ist in seiner Form wandelbar und kann – je nach aktuellen gesellschaftli-
chen Gegebenheiten – neuen Veränderungen unterzogen werden. (vgl. Hein-Kircher 2011:
70) Wie lange Mythen im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft verankert bleiben,
hängt, so Aleida Assmann (2006: 40), „davon ab, ob sie gebraucht werden, d.h., ob sie dem
gewünschten Selbstbild der Gruppe und ihren Zielen entsprechen oder nicht.“ Daraus lässt
sich mit Heidi Hein-Kircher (2011: 70) schließen, dass „der Mythos in modernen Gesell-
schaften letztlich eine zur Rationalität komplementäre Verarbeitungsform der Wirklichkeit
[ist].“ Der Mythos ist aber keine der Fantasie entsprungene Geschichte, sondern basiert laut
Klaudija Sabo (2017: 11) „zumeist auf historischen Überlieferungen, welche erneut aufge-
griffen, rekonstruiert und in verschiedenen narrativen Formen weitergegeben werden.“ Die
Pflege eines Mythos endet nicht mit dem Tod seiner Trägerschaft, sondern damit, dass er
dysfunktional wird und andere mythische Erzählungen seinen Platz einnehmen. (vgl. Ass-
mann, A. 2006: 40)
17
Mythen sind also nicht durch das Wegsterben ihrer TrägerInnen begrenzt, im Ge-
genteil, sie haben sogar eine generationenumfassende Funktion. Sie verbinden Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft und erzeugen dadurch ein generationenübergreifendes Gefühl
der Verbundenheit und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. (vgl. Assmann, A. 2006: 13)
Um Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zu werden bzw. zu bleiben, muss der Mythos
immer wieder erzählt werden. Der Mythos als Teil des kollektiven Gedächtnisses ist zu sei-
ner Verbreitung, wie auch das kollektive Gedächtnis selbst, auf Medien angewiesen. Wie
für andere Medien des kollektiven Gedächtnisses gilt auch für den Mythos, dass zu seiner
Vermittlung an eine breite Masse gewisse Machtpositionen und (Macht-)Mittel notwendig
sind.
Mythen dienen außerdem der Abgrenzung nach außen und der Vereinigung nach in-
nen. Im Falle der jugoslawischen Nachfolgestaaten ging und geht es vor allem darum, sich
von den anderen ehemaligen Teilrepubliken abzugrenzen und „zwischen sich und den an-
deren Nationen unüberschreitbare Trennlinien [zu markieren].“ (Sabo 2017: 15) Gavrilo
Princip schaffte es, durch die mythischen Erzählungen um seine Person, die Völker Jugosla-
wiens sowohl zu vereinen als auch sie nach dessen Zerfall zu spalten.
Zwei zum Mythos hochstilisierte Narrative werden für die Untersuchung der künst-
lerischen und kulturellen Verarbeitungen des Attentats noch von besonderer Relevanz sein:
der die Herrschaft der Doppelmonarchie verherrlichende Habsburg-Mythos einerseits und
der um Gavrilo Princip entstandene Personenmythos andererseits.
Bereits im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit entwickelte sich aufgrund einer poli-
tischen, wirtschaftlichen und kulturellen Peripherisierung Bosniens bei vielen seiner Be-
wohnerInnen eine gewisse Sehnsucht nach der Zeit unter der Habsburgermonarchie. (vgl.
Sundhaussen 2016a: 18) Seit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugosla-
wien erlebt diese Sehnsucht in einem Großteil der Föderation Bosnien-Herzegowinas eine
Revitalisierung. Dies führt dazu, dass die negativen Seiten der österreichisch-ungarischen
Besatzungszeit ausgeblendet werden und die Fremdherrschaft durch die Doppelmonarchie
ausschließlich als Zivilisierungs- und Modernisierungsmission erinnert wird, welche heute
im Grunde von der EU fortgeführt wird. Darauf basiert die Vorstellung, dass es Bosnien-
Herzegowina in politischer, sozialer und finanzieller Hinsicht besser gehen würde, wenn es
damals Teil der Habsburgermonarchie geblieben wäre. Daraus resultiert folglich auch eine
ablehnende und negative Haltung gegenüber dem Attentat von 1914, da dieses bekanntlich
das Ende der K.-u.-k.-Monarchie einläutete. (vgl. Prutsch 2003: 42) Eine solche Habsburg-
Nostalgie ist vor allem bei den bosnischen KroatInnen und BosniakInnen beobachtbar, was
18
bei näherer Betrachtung teils paradox wirkt, da gerade die muslimische Bevölkerung in der
Habsburgermonarchie unter Diskriminierung litt. Holm Sundhaussen liefert eine mögliche
Erklärung für dieses Phänomen:
Die Integration der postsozialistischen Staaten Südosteuropas in europäische Struktu-
ren, allen voran die Aufnahme oder angestrebte Aufnahme in die EU, nimmt auch maßgeblich Einfluss auf die Ausgestaltung der Erinnerungskulturen sowie auf die Ge-
schichtspolitik […]. (Sundhaussen: 2016b2: 303)
Wenn die EU in einer stark vereinfachten Sichtweise als Nachfolgerin der Habsburgermo-
narchie betrachtet wird, ist es naheliegend, diese in einem weit positiveren Licht darzustel-
len, als ihr eigentlich zustehen würde, sowie die negativen Aspekte der Fremdherrschaft
unbeleuchtet zu lassen.
Neben dem Habsburg-Mythos wird auch der um die Person Gavrilo Princip entstan-
dene Personenmythos für die vorliegende Arbeit relevant werden. Charakteristisch für Per-
sonenmythen ist die Verklärung einzelner Persönlichkeiten. Diese werden „für die positive
Weiterentwicklung von politischen Bewegungen bzw. Staaten als besonders wichtig ange-
sehen […].“ (Hein-Kircher 2005: 10) Durch ihre heldenhaften und historischen Leistungen
werden sie zum Vor- und Leitbild der Gemeinschaft und sollen künftigen Handlungen als
Inspiration dienen. Wie sich in Kapitel 5 zur hundertjährigen Rezeptionsgeschichte des At-
tentats und seiner ProtagonistInnen noch zeigen wird, war vor allem die Auffassung der
historischen Figur Gavrilo Princips durch die Zeit hindurch vielen Veränderungen und An-
passungen ausgesetzt. Klaudija Sabo (2017: 8) betont, dass „[d]er Held und seine Wirkungs-
macht [...] nicht von Dauer [ist], er kann je nach politischem und zeitlichem Kontext mit
anderen Figuren ausgetauscht werden.“ Je nach vorherrschender politischer Ideologie er-
fuhr auch die (Helden-)Figur Gavrilo Princip den aktuellen Bedürfnissen der Gemeinschaft
entsprechende Neuinterpretationen oder wurde gar gänzlich aus der nationalen Erinne-
rungssymbolik geschrieben.
Da Princip auch heute noch von serbisch-nationalistischer Seite als Held vereinnahmt
wird, scheint es wichtig, Charakteristika und Funktionen von Heldenfiguren herauszuar-
beiten. Obwohl es keine einstimmige Definition von Heldenfiguren gibt, werden sie meist
als berühmte Personen mit besonderem Status beschrieben. Dieser Status beruht auf her-
ausragenden persönlichen Eigenschaften oder Taten der HeldInnen, für die sie respektiert
und bewundert werden. (vgl. Vugdelija 2018: 195) Die vorliegende Arbeit interessiert sich
insbesondere für den kulturwissenschaftlichen Zugang zur Untersuchung von Heldentum.
19
Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Heldenfigur nur innerhalb eines bestimmten his-
torischen, politischen, sozialen und kulturellen Kontextes verstanden werden kann. HeldIn-
nen sind etwas von einer sozialen Gruppe Erschaffenes. Demzufolge sollen HeldInnen vor
allem unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsumstände, der ihnen zugeschriebenen he-
roischen Merkmale sowie der sozialen Praktiken, mittels derer das Ansehen der Heldenfigur
manifestiert wird, untersucht werden. (vgl. Vugdelija 2018: 195) Die HeldInnen verkörpern
Werte, Ideale und Identitätsvorstellungen einer sozialen Gruppe und werden dadurch zu
RepräsentantInnen dieser Gemeinschaft gemacht. Aufgrund dieser Eigenschaften sind sie
häufig auch ein wesentlicher Bestandteil bei Nationsbildungsprozessen. In Mythen einge-
bettet, werden sie Teil des nationalen kollektiven Gedächtnisses. Sie dienen zur Erinnerung
an historische Ereignisse, die als für die Bildung der Nation entscheidend angesehen werden.
Die Werte und Eigenschaften, die sie verkörpern, werden als die Essenz der nationalen
Identität wahrgenommen und helfen dadurch das abstrakte Konstrukt der Nation verein-
facht darzustellen und damit die Identifizierung mit der Nation zu erleichtern. (ebd. 197)
Wie bereits zuvor erwähnt, etablierten sich nach den politischen Veränderungen in
den 1990er Jahren neue Erinnerungspolitiken als Mittel zur Legitimierung der neu gegrün-
deten Staats- und Gesellschaftsordnung. Diese Erinnerungspolitiken basierten vorrangig
auf der Uminterpretation der nationalen Geschichte. Alte Narrative über die Vergangenheit
wurden dekonstruiert und neue konstruiert. Diese „neue historische Wahrheit“ diente so-
dann als Grundlage für die Konstruktion einer neuen nationalen Identität. (vgl. Vugdelija
2018: 198) Im Zuge dessen wurde auch die Figur Gavrilo Princips, sich heute gegenseitig
widersprechenden Uminterpretationen unterzogen.
3.7. Zusammenfassung
Bereits diese, notwendigerweise sehr verdichtete, Darstellung der grundlegenden Begriffe
der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung zeigt, welch wichtige
Rolle sie für das Verstehen moderner Gesellschaften spielt. (vgl. Hein-Kircher 2011: 68)
Denn „[n]icht das, was die Vergangenheit uns aufzwingt zählt, sondern das, was wir in sie
hineinlegen. […] Die Geschichte schlägt vor, doch die Gegenwart entscheidet.“ (Nora 2005:
552; zit. nach Hein-Kircher 2011: 68)
20
Für ein besseres Verständnis der Funktions- und Wirkungsweise des kulturellen Ge-
dächtnisses kann auch Geert und Gert Jan Hofstedes vorwissenschaftliches Modell der Kul-
turzwiebel zu Hilfe gezogen werden. (vgl. Hofstede, G.; Hofstede, G. J. 20094: 8) Anhand die-
ses Modells kann die gesamte für diese Untersuchung relevante kulturwissenschaftliche Ge-
dächtnisforschung nochmals veranschaulicht und zusammengefasst werden. Geert Hofstede
unterscheidet in seinem Zwiebeldiagramm vier Schichten: Die äußerste Schicht bilden die
Symbole, darunter liegen die Helden und Rituale. Den Kern der Zwiebel stellen die Werte einer
Kultur dar. Symbole, Helden und Rituale fasst Hofstede unter dem Überbegriff der Praktiken
zusammen. (ebd. 8f.) Die vorliegende Arbeit will Kulturäußerungen in Bezug auf das At-
tentat von Sarajevo untersuchen, um Einblicke in das Wertesystem einzelner sozialer Grup-
pen zu erlangen und dadurch Rückschlüsse auf deren Selbstverortung, Bedürfnisse und Ziele
ziehen zu können. Um das Innere einer Kultur zu erkennen, müssen zuerst die äußeren,
sichtbaren Schichten bzw. „Zwiebelschalen“ – also die Praktiken – „abgeschält“ werden. Ge-
nau das versucht diese Arbeit anhand der Untersuchung kultureller und künstlerischer Äu-
ßerungen, die das Attentat von Sarajevo und seine ProtagonistInnen zum Thema haben.
Die hier untersuchten Verarbeitungen des Attentats in Kunst und Kultur können der äu-
ßersten Schicht, also den Symbolen, zugerechnet werden. Diese Symbole können u.a. auf
HeldInnen einer sozialen Gruppe verweisen und in kulturelle Praktiken eingebettet sein.
In einer geglückten Formulierung fasst Astrid Erll (20112: 7) die zuvor ausführlich
beschriebene Thematik der Gedächtnisforschung folgendermaßen zusammen: „Kollektives
Gedächtnis ist der Fokus kulturwissenschaftlicher Neugier, Erinnerungskulturen sind ihr
Untersuchungsgegenstand.“ Das gilt auch für diese Arbeit. Um ein aktuelles Bild der in Bos-
nien-Herzegowina vorherrschenden kollektiven Erinnerungen an das Attentat von Sara-
jevo und seiner ProtagonistInnen zeichnen zu können, wird sich diese Arbeit der Untersu-
chung einiger konkreter, themenrelevanter Erinnerungsakte aus den Bereichen Literatur,
Film, Theater und der erinnerungssymbolischen Markierung im öffentlichen Raum der
Stadt Sarajevo widmen. Überall dort, wo ein medialer Diskurs zu den jeweiligen kulturellen
Verarbeitungen des Themas ausgemacht werden kann, soll auch die diskursive Verhand-
lung und (Re-)Produktion der Erinnerung an das Ereignis untersucht werden, um die Erin-
nerungsstrategien einzelner Akteure offenzulegen.
21
4. Historische Kontextualisierung des Attentats von
Sarajevo
Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Untersuchung sollen an dieser Stelle die Um-
stände, die zum Attentat von Sarajevo führten, und die eigentlichen Geschehnisse des 28.
Juni 1914 skizziert und historisch verortet werden. Da die zur Vorgeschichte, zum Attentat
selbst und dessen Folgen verfasste Literatur ganze Bibliotheken füllt und es sich hier um
keine geschichtswissenschaftliche Arbeit handelt, wird der geschichtliche Hintergrund an
dieser Stelle nur sehr verdichtet dargestellt.
Im Berliner Kongress von 1878 wurde der formale Verbleib der beiden Provinzen
Bosnien und Herzegowina beim Osmanischen Reich, allerdings unter österreichisch-unga-
rischer Verwaltung, beschlossen. (vgl. Ruthner 2018: 20) 1908 annektierte die K.-u.-k.-Mo-
narchie Bosnien und Herzegowina, was einen klaren Verstoß gegen den Vertrag des Berli-
ner Kongresses bedeutete.
Der Unmut gegenüber der Okkupationsmacht und der Wunsch nach Befreiung ver-
band alle Nationalitäten und Konfessionen innerhalb Bosnien-Herzegowinas. (vgl. Sund-
haussen 2014: 233) Vor allem SchülerInnen und StudentInnen schlossen sich zu geheimen
Gruppen gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft zusammen:
Die nationale Orientierung dieser Gruppierungen war sehr unterschiedlich. Neben ei-ner radikal großserbischen und einer radikal großkroatischen Gruppierung […] gab es eine gemäßigte serbische und eine gemäßigte kroatische Gruppierung […]. Ein kurio-
ses Novum waren die sogenannten „Serbo-Kroaten“, die sich weder als Serben noch als Kroaten, sondern als beides verstanden […]. […] Zur Bezeichnung dieser nach einer
südslawischen Vereinigung strebenden Gruppe nationalrevolutionärer Jugendlicher tauchte ab 1907 vereinzelt der Name „Junges Bosnien“ (Mlada Bosna) auf. (Sund-haussen 2014: 235f.)
Gavrilo Princip und die anderen Attentäter waren Mitglieder der Organisation der Mlada
Bosna (‚Junges Bosnien‘), deren Ziel die Vereinigung aller SüdslawInnen – unabhängig ihrer
konfessionellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit – in einem gemeinsamen Staat war. Die An-
hänger5 der Gruppierung waren „Atheisten und überzeugte Republikaner mit teils sozialis-
tischen und teils anarchistischen Neigungen.“ (Sundhaussen 2014: 236)
5 Da in der Forschung bisher kein weibliches Mitglied der Mlada Bosna nachgewiesen werden konnte, wird in dieser Arbeit für die Anhänger dieser Organisation – oft ‚Jungbosnier‘ (mladobosanci) genannt – nur das gene-rische Maskulinum verwendet werden.
22
Princip stammte aus einer bosnisch-serbischen Bauersfamilie, lebte in äußerst ärmli-
chen Verhältnissen und war von Geburt an klein und kränklich. Er besuchte das Gymna-
sium in Sarajevo, wo er das erste Mal mit der Geheimorganisation Mlada Bosna in Kontakt
kam. Da er an einer regierungsfeindlichen Demonstration teilnahm, wurde er der Schule
verwiesen und musste nach Belgrad ziehen, um dort seine Ausbildung abzuschließen. Dort
erfasste ihn die damalige nationale Euphorie in Serbien zu Beginn der Balkankriege, wo-
raufhin er sich als freiwilliger Kämpfer meldete. (Sundhaussen 2014: 237) Aufgrund seiner
physischen Schwäche wurde er jedoch abgelehnt. (vgl. Clark 20134: 84) Diese Abweisung
muss den jungen Gavrilo zutiefst gekränkt und gedemütigt haben. Holm Sundhaussen be-
schreibt den späteren Attentäter mit folgenden Worten:
Gavrilo Princip, ein heranwachsender schmächtiger Mann, voller Wut über die er-bärmlichen Verhältnisse, die er gesehen und erlebt hatte, beseelt von der Hoffnung auf
eine bessere, gerechtere Welt, voller Emotionen und Fantasien sowie durchdrungen von einem unersättlichen Geltungsdrang. (Sundhaussen 2014: 243)
Der Besuch des Erzherzogs inklusive detailliertem Zeitplan wurde in den Zeitungen ange-
kündigt und bot dem 19-jährigen Gavrilo Princip und seinen Gesinnungsgenossen die lang-
ersehnte Gelegenheit des „Tyrannenmords“.6 Ein Mittelsmann der nationalistischen, groß-
serbischen Geheimorganisation Ujedinjenje ili Smrt (‚Vereinigung oder Tod‘),7 auch bekannt
als Crna ruka (‚Schwarze Hand‘) stattete die Jungbosnier mit Bomben, Waffen und Zyankali
– für den Fall, dass sie von der Polizei geschnappt werden – aus und erteilte ihnen Schieß-
unterricht. (vgl. Sundhaussen 2014: 238)
Am Tag des Attentats postierten sich die sieben Attentäter – Cvetko Popović, Danilo
Ilić, Gavrilo Princip, Muhamed Mehmedbašić, Nedeljko Čabrinović, Trifko Grabež und
Vaso Čubrilović – entlang der geplanten Route. (ebd. 238) Der Thronfolger und seine Frau
Sophie fuhren in einer Kolonne mehrerer offener Wagen Richtung Rathaus. Als sich der
Konvoi der ‚Ćumurija Brücke‘ (Ćumurija ćuprija) näherte, schleuderte Nedeljko Čabrinović
6 Holm Sundhaussen (2014: 236) erklärt: „Das Attentat als politisches Mittel wurde von ihnen [den Jungbos-niern – J.E.] gutgeheißen und unter Rückgriff auf die antike Theorie des Tyrannenmords philosophisch be-
gründet.“ 7 In Serbien, wo man Bosnien und Herzegowina als „serbische Länder“ betrachtete, verstand man den Anne-xionsakt von 1908 durch Österreich-Ungarn als Aufforderung zum Krieg. (vgl. Sundhaussen 2014: 233) Durch die „vorsichtig taktierende serbische Regierung und [aufgrund] ihrer einlenkenden Politik“ kam es zu einer diplomatischen Beilegung der Annexionskrise, was aber zu stetig anwachsender Empörung serbischer Offi-
ziere und schließlich der Gründung der großserbischen Geheimorganisation Ujedinjenje ili smrt führte. (ebd. 234f.) Ziel der Organisation war die kämpferische Vereinigung aller Territorien, in denen SerbInnen lebten. Dazu gehörten u.a. auch Bosnien und die Herzegowina. Zur Erreichung dieses großserbischen Staates wurde ein dichtes Netz aus AnhängerInnen der Organisation, das bis in die Führungsspitze der serbischen Armee reichte, gesponnen. (ebd. 235)
23
eine (vgl. Sundhaussen 2014: 238; Clark 20134: 479) bzw. zwei Bomben (vgl. Donia 2006:
121), die ihr Ziel allerdings verfehlte/n. Nach einer kurzen Verzögerung setzte die Kolonne
ihre Route fort und fuhr weiter Richtung Rathaus. Gavrilo Princip sah die Attentatspläne
nach Čabrinovićs missglücktem Versuch bereits gescheitert und setzte sich in ein Café an
der ‚Lateinerbrücke‘ (Latinska ćuprija). (vgl. Sundhaussen 2014: 239) Am Rathaus angekom-
men, befahl der Erzherzog, die Strecke zu ändern, um die durch Čabrinovićs Anschlag Ver-
letzten im Krankenhaus zu besuchen. Obwohl Befehle zur Änderung der Route gegeben
wurden, erreichten diese jedoch offenbar nie die Chauffeure der Wagen. Als die Kolonne
die Lateinerbrücke erreichte, hielt sich der Fahrer des Thronfolgers an den ursprünglichen
Plan und bog nach rechts Richtung Stadtzentrum ab. Als er vom Thronfolger auf seinen
Fehler aufmerksam gemacht wurde, brachte er das Fahrzeug direkt vor dem Kaffeehaus, in
dem sich Gavrilo Princip aufhielt, zum Stehen, woraufhin dieser zwei Schüsse aus nächster
Nähe abfeuerte. Einer traf den Thronfolger, der andere seine Frau. Die beiden wurden so-
fort ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht; jedoch war das Thronfolgerehepaar bei sei-
ner Ankunft bereits tot. (vgl. Donia 2006: 123)
So in etwa muss der Ablauf des Attentats gewesen sein – nicht alle Details des Ereig-
nisses sind geklärt. Holm Sundhaussen (2016a: 15) nennt es „eine Abfolge von Torheiten,
Schlampereien und Zufällen“: Das Datum für den Besuch des Thronfolgerehepaars war un-
glücklich gewählt. Der 28. Juni, der Vidovdan (‚Veitstag‘) ist der Tag der legendären Schlacht
auf dem Amselfeld, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Kosovo-Mythos8 – dem „ideolo-
gischen Kern der serbischen Identität“ (Sundhaussen 2001: 11) – ausgestaltet wurde. Dass
das Datum des Besuches des Thronfolgers auf eben jenen symbolkräftigen und legenden-
umwobenen Vidovdan gelegt wurde, wird oftmals als böswillige Provokation gegenüber
8 Holm Sundhaussen (2001: 25) sieht als zentrale Grundkomponente des serbischen Nationalmythos „[d]ie Vorstellung von Kosovo als ‚Wiege‘ des mittelalterlichen Serbien, als Ort der ‚heiligen Erzählung des serbi-schen Volkes‘, als ‚serbisches Jerusalem‘ sowie die pathetische ‚Erinnerung‘ an die Schlacht auf dem Amselfeld […].“ Der Legende nach wurde Fürst Lazar, der Führer der christlichen (und nicht ausschließlich serbischen!) Truppen, am Vorabend der Schlacht vor die Wahl zwischen einem irdischen oder einem himmlischen König-reich gestellt. Er entschied sich für das himmlische Reich und verwandelte somit die militärische Niederlage
gegen das osmanische Heer in einen – für die Ewigkeit anhaltenden – überirdischen Sieg. Kurz darauf wurde Lazar von der Serbisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. (vgl. Sundhaussen 2014: 232) Seit diesem Zeit-punkt ist der Tag der Schlacht auf dem Amselfeld (28. Juni 1389), der Vidovdan, auch der kirchliche Feiertag des heiligen Lazars. (vgl. Sundhaussen 2001: 20) Die Schlacht wird unter dem Aspekt der Ewigkeit dargestellt und vergangene und gegenwärtige Konflikte werden in die zeitlose Sphäre des Mythos übertragen. Somit sind
Ivan Čolović (20072: 307f.) zufolge „[s]erbische Kriege, Heldentaten und Leiden, gestern, heute und morgen […] allesamt nur Fortsetzungen der ewigen Auseinandersetzung auf dem Kosovo, immer die gleiche Nieder-lage in dieser Welt und der gleiche Sieg im Jenseits.“ „Wie so viele Erinnerungen“, hebt Sundhaussen (2014: 232) hervor, „steckt auch diese voller Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten“, auf die detaillierter einzugehen jedoch thematisch zu sehr vom Thema dieser Arbeit abweichen würde.
24
den bosnischen SerbInnen beschrieben. Die meisten WissenschaftlerInnen sind sich heute
jedoch einig, dass das Datum eher aus Bequemlichkeit (vgl. Donia 2006: 120) oder auch Un-
überlegtheit (vgl. Sundhaussen 2014: 239), denn aus provozierender Absicht gewählt wurde.
In die weitere „Abfolge von Torheiten, Schlampereien und Zufällen“ reihen sich noch die
für den Besuch des Erzherzogs äußert oberflächlich getroffenen Sicherheitsvorkehrungen
sowie die Tatsache, dass die Spezialeinheit zum Schutz des Thronfolgerehepaars irrtümli-
cherweise am Bahnhof zurückgelassen wurde, ein. Völlig unverständlich bleibt auch, warum
der Besuch des Erzherzogs nach dem ersten Attentatsversuch nicht abgebrochen wurde.
(ebd. 240)
Gavrilo, die anderen Attentäter – bis auf Mehmedbašić, der fliehen konnte – und viele
ihrer HelferInnen wurden verhaftet. Da der 19-jährige Princip nach damaligem österreichi-
schem Gesetz noch nicht volljährig war, entging er der Todesstrafe und wurde zu einer 20-
jährigen Haftstrafe im Gefängnis in Theresienstadt verurteilt. Dort verstarb er unter elen-
den Umständen an Tuberkulose noch vor Ende des Ersten Weltkriegs. (ebd.)
Unter den meisten internationalen WissenschaftlerInnen wird das Attentat von Sa-
rajevo nicht als Ursache, sondern als Anlass für den Ersten Weltkrieg gesehen. Allerdings
bleiben auch nach über 100 Jahren intensiver Auseinandersetzung und Forschung viele Fra-
gen offen und ungeklärt und lassen Spielraum für verschiedenste Interpretationen und Spe-
kulationen.
5. Vergangene Erinnerungen –
eine 100-jährige Geschichte der Wertebildung
Viele WissenschaftlerInnen nahmen das Jahr 2014, in dem sich das Attentat von Sarajevo
zum 100. Mal jährte, zum Anlass, kritische Forschungsbeiträge dazu zu verfassen. Einige
Arbeiten widmen sich ausschließlich der Untersuchung der Gedenkveranstaltungen, welche
im Zuge des Gedenkjahres 2014 in Bosnien-Herzegowina abgehalten wurden. Das Gros der
Forschungsbeiträge jedoch bietet einen Überblick über die Erinnerungsgeschichte an Ga-
vrilo Princip und seine Tat über die vergangenen 100 Jahre. Dabei wird untersucht, welchen
Wandlungsprozessen die kollektive Erinnerung an die historische Figur Gavrilo Princip
25
und das von ihm begangene Attentat seit Beginn des Ersten Weltkriegs bis heute unterzo-
gen wurde. Beide Aspekte sollen im Folgenden genauer beleuchtet und zusammengefasst
werden.
5.1. Das Attentat in der Erinnerung von 1914 bis 2014
Damit Vergangenes zu Erinnerung werden kann, muss es rezipiert und interpretiert wer-
den. Die Rezeptionsgeschichte des Attentats von Sarajevo zeigt die wechselnden Bedeutun-
gen und Wertezuschreibungen, die ein und demselben historischen Ereignis im Laufe der
Zeit mit sich wandelnden Interessen zugeschrieben wurden. (vgl. Kohlstruck 2004: 176) Das
Zentenarium des Attentats bewegte viele WissenschaftlerInnen dazu, die Geschichte der
Erinnerung seit dem Attentat 1914 bis zur Gegenwart darzustellen und kritisch zu reflek-
tieren.
Bosnien-Herzegowina erlebte im Laufe seiner Geschichte viele politische Regime-
wechsel. Als Resultat des Ersten Weltkriegs zerfiel die österreichisch-ungarische Monarchie
und Bosnien-Herzegowina fiel unter die Herrschaft des ersten jugoslawischen Staates bzw.
des Königreichs Jugoslawien. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es Teil des faschis-
tischen ‚Unabhängigen Staats Kroatien‘ (Nezavisna Država Hrvatska, kurz NDH). Nach dem
Zweiten Weltkrieg war Bosnien-Herzegowina eine der sechs Teilrepubliken der neuge-
gründeten ‚Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien‘ (Socijalistička Federativna Re-
publika Jugoslavija, kurz SFRJ). Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren wurde
Bosnien-Herzegowina, wie auch die anderen Teilrepubliken Jugoslawiens und später die
autonome Provinz Kosovo, zu einem neuen Nationalstaat.
Jeder dieser Umstürze erforderte einen, der jeweiligen Staatsform entsprechenden
Umbau des politischen Systems, der Gesellschaft und auch des kollektiven Gedächtnisses.
Letzteres verlangte u.a. auch eine jeweils neue, mit der aktuellen gesellschaftlichen Ordnung
in Einklang stehende Interpretation und Deutung der Erinnerungen an das Attentat von
Sarajevo und seiner ProtagonistInnen. Im Zuge dessen wurde auch der Erinnerungsort9 des
9 Der Begriff Erinnerungsort wird hier ausschließlich im wortwörtlichen und nicht im Sinne des von Pierre
Noras geprägten Begriffes der Lieux de mémoire verwendet. Für Pierre Nora „können [Erinnerungsorte] ebenso materieller und immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke […]. Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion.“ (E. François/H. Schulze: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München: Beck 2001, 17f.)
26
Attentats je nach vorherrschender politischer Ideologie vielen verschiedenen, identitätsstif-
tenden Interpretationen und Inszenierungen unterzogen. Aus Platzmangel und resultierend
aus dem Forschungsschwerpunkt der meisten wissenschaftlichen Beiträge anlässlich des
Zentenariums des Attentats, die sich größtenteils mit den Umgestaltungen der erinnerungs-
symbolischen Markierung des Schauplatzes beschäftigten, wird die folgende Darstellung der
Erinnerungsgeschichte ebenfalls die Inszenierung des Schauplatzes des Attentats in den Mit-
telpunkt rücken. Dieser sehr zentrierte Blick wird mit der Tatsache gerechtfertigt, dass an-
hand der Art der Markierung des Erinnerungsortes die jeweils vorherrschende Ideologie
paradigmatisch abgelesen und auch auf andere Bereiche des kulturellen Gedächtnisses über-
tragen werden kann. Studien zu Debatten in Zeitungen und anderen Medien sowie Unter-
suchungen zu Darstellungen des Attentats in Schul- und Geschichtsbüchern bestätigen die
durch die Analyse der unterschiedlichen Inszenierungen des Schauplatzes gewonnenen Er-
kenntnisse.10
Im noch wenige Jahre fortbestehenden Habsburgerreich wurde in Bosnien die Erin-
nerung an das verstorbene Thronfolgerehepaar hochgehalten. Direkt nach dem Attentat
wurde an der Fassade des Kaffeehauses, in dem sich Gavrilo Princip kurz vor dem Anschlag
aufhielt, eine Gedenktafel, welche den beiden Verstorbenen gedachte, montiert. Darauf
stand geschrieben: „Es erlitten an dieser Kreuzung den Märtyrertod durch Mörderhand der
Thronerbe Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Herzogin Sophie Hohenberg.“11
Am 28. Juni 1917, dem dritten Todestag Franz Ferdinands und seiner Frau Sophie, wurde
an der Lateinerbrücke direkt gegenüber dem Schauplatz des Attentats, ein zwölf Meter (!)
hohes Denkmal für die beiden Ermordeten errichtet. Dazu wurde noch eine reich verzierte
Stahlplatte an genau jener Stelle, an der Franz Ferdinand von Princips Kugel getroffen wor-
den sein soll, in den Asphalt eingelassen. (vgl. Miller 2014: 11) Die Erinnerungssymbole
spiegeln das Anliegen der herrschenden Macht wider: Das Thronfolgerehepaar wird durch
den Wortlaut der Gedenktafel zu MärtyrerInnen der österreichisch-ungarischen Monarchie
erhoben und soll auch als solches in die Erinnerung eingehen; das imposante Denkmal ist
aufgrund seiner Größe weithin sichtbar; der Name des Attentäters wird nicht genannt.
Von Beginn an versuchte sich der nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen
Monarchie gegründete erste jugoslawische Staat von allen Symbolen, die an die einstige
10 Vgl. dazu u.a. Katz (2014), Sindbæk Andersen (2016) sowie Miller (2014). 11 „Poginuše na ovom raskršću mućenićkom smrću od ubojničke ruke prijestolonasljednik nadvojvoda Franjo Ferdinand i supruga mu vojvotkinja Sofija Hohenberg.“ Für die Übersetzung und Bildquelle mit Originalfas-sung siehe http://wk1.staatsarchiv.at/sarajevo-1914/erinnerungskultur/#/?a=artefactgroup250 [07.04.18].
27
Habsburgermonarchie erinnerten, zu lösen. Alles, was an die österreichisch-ungarische
Herrschaft erinnerte – wie Denkmäler, Portraits des Kaisers, Straßennamen, Gedenktafel
etc. –, wurde entfernt. (vgl. Harrington 2014: 121) So mussten auch nach nur etwas mehr
als eineinhalb Jahren seines Bestehens das 1917 errichtete Denkmal, die Gedenktafel sowie
die Stahlplatte – nun Symbole des „Bösen“ – im Zuge der Nationenbildung des SHS-Staates12
wieder weichen. (ebd. 121f.) Bemerkenswert ist allerdings, dass das zu Ehren Franz Ferdi-
nands und Sophies errichtete Denkmal nicht zerstört, sondern sicher aufbewahrt wurde.
Teile davon können heute noch in der Kunstgalerie in Sarajevo besichtigt werden. (vgl. Mil-
ler 2014: 12) Auch wenn es ein generelles Anliegen war, sich von allem, das an die einstige
Doppelmonarchie erinnerte, zu lösen, blieb die offizielle, kollektive Erinnerung an den An-
schlag und vor allem jene an Gavrilo Princip im Königreich Jugoslawien dennoch eine ge-
spaltene: Während Princip auf der einen Seite als Held gefeiert wurde, der durch seinen
Tyrannenmord das Unrechtsregime der Habsburgermonarchie beendet hatte, konnte im
erzkonservativen jugoslawischen Königreich die Ermordung eines Thronfolgers – wenn
auch eines verfeindeten Staates – nicht gutgeheißen werden.13 Problematisch für die Ein-
bettung der Attentäter in das kulturelle Gedächtnis des jugoslawischen Königreichs waren
auch ihre sozialistischen und anarchistischen Neigungen sowie die Tatsache, dass sie sich als
Atheisten bezeichneten. (vgl. Sundhaussen 2016a: 17f.) Somit vergingen auch einige Jahre,
bis im Königreich Jugoslawien der Ort des Attentats erstmals als solcher eine Kennzeich-
nung erfuhr. Auf einer schlichten schwarzen Steinplatte stand in kyrillischen Lettern ge-
schrieben: „An diesem historischen Ort verkündete Gavrilo Princip die Freiheit am
Vidovdan, dem 15. (28.) Juni 1914.“14 Princip wird zu einem Boten der Freiheit erhoben
und mit dem Vidovdan – und infolgedessen auch dem Kosovo-Mythos – in Verbindung
gesetzt. Die kyrillische Schrift, die Datumsangabe nach dem julianischen Kalender und jene
nach dem gregorianischen Kalender in Klammern stehend, die Bezeichnung Princips als
„Verkünder der Freiheit“ und der Brückenschlag zum Vidovdan sind allesamt Symbole, die
ausschließlich im serbisch-nationalistischen Narrativ verankert waren und bis heute sind
12 Država Slovenaca, Hrvata i Srba, ‚Staat der Slowenen, Kroaten und Serben‘, später dann Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca, ‚Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen‘ und ab 1929 Kraljevina Jugoslavija, ‘Königreich Jugoslawien‘. 13 Eine monarchische Regierung lehnt die Theorie des Tyrannenmords als politisches Mittel vehement ab, da dieser die bestehende staatliche Ordnung (die Alleinherrschaft der Monarchie) in Frage stellt. (vgl. www-ty-rannenmord) 14 „На овом историском мjесту Гаврило Принцип навиjести слободу на Видовдан 15 (28) jуна 1914.“ (Har-rington 2014: 123)
28
und die Inschrift zu einem rein serbisch konnotierten „memory trigger“ machten (Sund-
haussen 2016a: 124).
Hier sollte – da dies auch an späterer Stelle noch von Relevanz sein wird – betont
werden, dass die Verknüpfung Princips und der anderen Verschwörer mit dem Vidovdan
und dem Kosovo-Mythos nicht haltbar ist. Ivan Čolović (2016: 59) weist darauf hin, dass in
den letzten Jahren in wissenschaftlichen Beiträgen zum Attentat immer wieder die These
vertreten wird, der zufolge die Attentäter ihre Inspiration zur Ermordung Franz Ferdinands
im Kosovo-Mythos gefunden hätten. Diese These, so Čolović (ebd.), fußt auf den von Vla-
dimir Dedijer in seinem Buch Sarajevo 1914 aufgestellten Behauptungen. Darin vertritt der
Historiker den Standpunkt, das Attentat sei nur unter Berücksichtigung des Einflusses des
Kosovo-Mythos zu verstehen. (Čolović 2016: 59) Wie bereits erwähnt, betrachteten die At-
tentäter die Theorie des Tyrannenmords als ein legitimes Mittel zur Befreiung eines unter-
drückten Volkes. Dabei wird die Meinung vertreten, dass ein politischer Mord leichter zu
verantworten sei, als seine MitbürgerInnen der Unterdrückung, Gewalt und Tod durch ei-
nen Tyrannen oder eine Tyrannin auszusetzen. (vgl. www-tyrannenmord) Diese Theorie
übernahmen die Attentäter von europäischen RevolutionärInnen ihrer Zeit, was auch aus
Selbstzeugnissen und denen im Zuge der Gerichtsverhandlung getätigten Aussagen der Ver-
schwörer hervorgeht. (vgl. Čolović 2016: 61) Dedijer schätzt diesen Einfluss allerdings als
zweitrangig ein. Vielmehr gründe seiner Auffassung zufolge die Idee der Ermordung Franz
Ferdinands auf einer tief im Selbstverständnis der Attentäter verwurzelten folkloristischen
Theorie des Tyrannenmordes. (ebd.)15 Demzufolge sei der in der Folklore bewahrte Kult
des Tyrannenmords als primärer Einfluss auf Gavrilo Princip und seine Gesinnungsgenos-
sen einzustufen. Diese Behauptung stützt Dedijer jedoch auf nur eine einzige Quelle – den
Bericht eines britischen Forschers, der während seiner 1875 unternommenen Reise durch
Bosnien bemerkte, dass sich dort, wie auch in anderen Regionen des Balkans, die Lieder des
Kosovo-Zyklus großer Beliebtheit erfreuten und tagtäglich rezipiert wurden. Diese Quelle
war Dedijer Anlass genug, um daraus seine Schlussfolgerung der tiefen Verankerung der
Idee des Tyrannenmords in der lokalen Bevölkerung zu ziehen. (vgl. Čolović 2016: 62) Dar-
über hinaus wird Murad – der Anführer der osmanischen Truppen in der Amselfeldschlacht
– in den Liedern des Kosovo-Zyklus nicht als Okkupator oder Tyrann, sondern als „klassi-
scher“ Feind dargestellt. Ohne Tyrannen kann auch nicht von einem Tyrannenmord die
Rede sein. Des Weiteren fußt der Mord an Murad nicht auf dem Entschluss des Mörders
15 Siehe dazu auch Kapitel 12 in Dedijer (1966), 395–432.
29
Miloš Obilić, das Land von einem Fremdherrscher zu befreien, sondern darauf, „mit seiner
Heldentat die Loyalität gegenüber seinem Fürsten zu zeigen – der sie in Zweifel gezogen hat
– und somit seine ritterliche Ehre [zu] retten.“ (Čolović 2016: 63) Darüber hinaus hatten die
Attentäter den Beschluss, den Erzherzog zu töten, schon getroffen, bevor ihnen das genaue
Datum seines Besuches bekannt war. Die Nachricht, dass Franz Ferdinand ausgerechnet am
Vidovdan nach Sarajevo kommen sollte, erreichte sie, nachdem sie sich bereits auf die Reise
von Belgrad nach Sarajevo begeben hatten und darf daher nicht als maßgebender Beweg-
grund für das Attentat missverstanden werden. (ebd. 65)
Nach der Einnahme Sarajevos 1941 durch deutsche Truppen wurde die im Königreich
Jugoslawien angebrachte Gedenktafel feierlich von NS-Truppen wieder entfernt und kurz
darauf Hitler als Geburtstagsgeschenk überreicht.16 Bis zum Kriegsende wurde sie im Berli-
ner Zeughaus ausgestellt, ihr weiterer Verbleib ist ungeklärt. (vgl. Sundhaussen 2016a: 19)
Mit der Befreiung Jugoslawiens durch die Volksbefreiungsarmee begann auch ein
neues Kapitel in der Erinnerungs- und Interpretationsgeschichte der historischen Gestalt
Gavrilo Princips und seiner Tat. Von nun an wurde er gezielt zu einem Wegbereiter der
sozialistischen jugoslawischen Ideologie umgeformt. (ebd.) Des Weiteren betont Sund-
haussen (ebd.), dass „das Ansehen der Jungbosnier, die mit ihrer Begeisterung für sozialisti-
sche Schriften auch ideologisch gut in die neue Zeit passten“, enorm stieg. Es wurde eine
neue Gedenktafel angebracht, auf der in lateinischer Schrift zu lesen war: „Als Zeichen ewi-
ger Dankbarkeit an Gavrilo Princip und seinen kämpfenden Freunden gegen die germani-
schen Eroberer, stiftet die Jugend Bosnien und Herzegowinas diese Tafel – Sarajevo 7. Mai
1945.“17 Der Fokus der neuen ideologischen Auslegung des Erinnerungsortes lag nun auf
dem transnationalen, kollektiven Sieg über den gemeinsamen Feind. 1953 wurde die Platte
unter Anwesenheit hoher PolitikerInnen durch eine neue ersetzt, auf der, bemerkenswer-
terweise in kyrillischer Schrift, geschrieben stand: „Von diesem Ort hat Gavrilo Princip am
28. Juni 1914 mit seinen Schüssen den Protest des Volkes gegen die Tyrannei und das jahr-
hundertelange Streben nach Freiheit unserer Völker zum Ausdruck gebracht.“18 Die neue
16 Dieser Moment wurde auch fotografisch festgehalten. Vgl. https://derstandard.at/1385169347506/Des-Fuehrers-epochale-Rache [31.05.18] 17 „U znak vječite zahvalnosti Gavrilu Principu i njegovim drugovima borcima protiv germanskih osvajača,
posvećuje ovu ploču omladina Bosne i Hercegovine – Sarajevo 7. maja 1945. godine.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Attentat_ von_Sarajevo [31.05.18]) 18 „Са овога мјеста 28. јуна 1914. године Гаврило Принцип својим пуцњем изрази народни протест против тираније и вјековну тежњу наших народа за слободом.“ Für die Bildquelle mit Originalfassung siehe Harrington (2014: 129).
30
Platte stellte Princip als einen Teil des langjährigen Kampfes für die Freiheit „unserer Völ-
ker“ dar, ohne diese beim Namen zu nennen. Das Eckhaus an der Stelle des Attentats – das
ehemalige Kaffeehaus, in dem sich Gavrilo kurz vor dem Mord an Franz Ferdinand und
Sophie aufhielt – wurde zu einem kleinen Museum, das mit Exponaten gefüllt wurde, die
sich der heroisierenden Darstellung Gavrilo Princips und der Mlada Bosna Bewegung wid-
meten. (vgl. Donia 2014: 68) Die Brücke an der Straßenecke, von der aus Princip seine
Schüsse feuerte und an deren Kopf während der Habsburgermonarchie das riesige Denkmal
für das Thronfolgerehepaar stand, wurde (inoffiziell) in ‚Princip-Brücke‘ (Principov Most)
umbenannt – eine Bezeichnung, die noch bis heute im Sprachgebrauch verankert ist, wenn
auch die Brücke offiziell den Namen ‚Lateinerbrücke‘ (Latinska ćuprija)trägt. (vgl. Katz 2014:
110) Zusätzlich wurden Gavrilos Fußabdrücke in das Trottoir eingelassen. Paul Miller
(2014: 26) betont die Rolle der Fußstapfen als „the emblematic icon“ des Attentats. Diese
gaben EinwohnerInnen und BesucherInnen die Gelegenheit, in die Fußstapfen des Helden
zu treten und das Attentat auf Franz Ferdinand an seiner genauen Stelle nachzuspielen.19
(vgl. Sundhaussen 2016a: 20)
Das Attentat von Sarajevo konnte nur so lange als positiv besetzte, kollektive Erinne-
rung der SFRJ Bestand haben, solange der jugoslawische Staat zumindest von einem Groß-
teil seiner Bevölkerung akzeptiert wurde. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jah-
ren veränderte sich die Perspektive auf das Ereignis und eine neue Phase der Erinnerung an
Gavrilo und seine Tat begann. (vgl. Sundhaussen 2016a: 20) „Da der Zweck des Attentats –
der gemeinsame jugoslawische Staat – gescheitert bzw. in einer Spirale von Gewalt unter-
gegangen war“, so Sundhaussen (ebd.), „konnte auch das Mittel zu seiner Erreichung nicht
mehr für alle ‚heilig‘ sein.“ Auch die erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes
wurde dem neuen kulturellen Gedächtnis entsprechend angepasst:
Während und nach der Belagerung Sarajevos wurden die Fußstapfen und die Gedenk-tafel entfernt. Die Princip-Brücke wurde wieder in Lateinerbrücke zurückbenannt, das
Princip-Museum in ein Museum zur habsburgischen Geschichte in Bosnien umgewan-delt und die ehemalige Gedenktafel durch eine neue mit einer überaus nüchternen In-schrift (in bosnischer und englischer Sprache) ausgetauscht. (Sundhaussen 2016a: 20)
19 Von der großen symbolischen Bedeutung und der tiefen Verankerung der Fußabdrücke Princips im jugo-slawischen kollektiven Gedächtnis zeugen auch ihr Niedergang in literarischen Werken der Schriftsteller Miljenko Jergović und Aleksandar Hemon. Letzterer beschreibt eine Erinnerung des kindlichen Erzählers in The Question of Bruno, der einst dachte, die heiße Sommersonne hätte damals den Asphalt unter Princips Füßen
zum Schmelzen gebracht. Siehe dazu: Hemon, Aleksandar (2000): The Question of Bruno. New York: Vintage, 38. Miljenko Jergović erinnert sich an das unvergessliche Erlebnis, als er als Viertklässler bemerkte, aus Prin-cips Fußstapfen herausgewachsen zu sein und dies als ein erstes Zeichen des Erwachsenseins deutete. Siehe dazu: Jergović, Miljenko (2004): „Stope“, in: Vreme 703 vom 24.06.2004. http://www.vreme.com/cms/ view.php?id=383270 [16.04.2018].
31
Da im analytischen Teil dieser Arbeit noch ausführlich auf die aktuelle erinnerungssymbo-
lische Markierung des Schauplatzes, aber auch auf das von Sundhaussen erwähnte, neu kon-
zipierte Museum eingegangen wird, wird an dieser Stelle auf weitere Erläuterungen ver-
zichtet.
5.2. Das Attentat in der Erinnerung im Jubiläumsjahr 2014
Am 28. Juni 2014 hieß Sarajevo Medien, Kunstschaffende und wissenschaftliche Symposien
aus Europa und der restlichen Welt willkommen, um dem Zentenarium des Beginns des
Ersten Weltkriegs und dabei vor allem dem Attentat zu gedenken. Diese Gedenkveranstal-
tungen können als Kristallisationspunkt aller in Bosnien-Herzegowina wirksamen Erinne-
rungskräfte gesehen werden. Die politische Führung der Republika Srpska organisierte am
selben Tag eine Gegen-Gedenkfeier in Višegrad, in der Gavrilo Princip als serbischer Held
gefeiert wurde. Kurz vor dem Höhepunkt der Feierlichkeiten in Sarajevo – dem Konzert der
prestigeträchtigen Wiener Philharmoniker in der wiedererrichteten Vijećnica – versam-
melte sich eine kleine Gruppe als Princip maskierter, linker AktivistInnen vor dem Rathaus,
um gegen Ethnisierung, Nationalismus und die Okkupationsmächte – einst Österreich-Un-
garn, heute die EU und die internationale Gemeinschaft – zu protestieren. (vgl. Sajn 2018:
1)
Die Gedenkveranstaltungen wurden Gegenstand einiger wissenschaftlicher Experti-
sen, die diese Akte kollektiver Erinnerung zur Untersuchung gegenwärtiger Erinnerungs-
landschaften nutzten. Die Reflexionen dazu fielen bedauerlicherweise überwiegend negativ
aus. Bereits die Tatsache, dass man sich auf kein gemeinsames Gesamtkonzept für die Ge-
denkaktivitäten in Bosnien-Herzegowina weder im wissenschaftlichen noch im künstleri-
schen Bereich einigen konnte, gab Anlass, scharfe Kritik an den Veranstaltungen zu üben.
Die Kritik fokussierte sich hauptsächlich auf die in Bosnien-Herzegowina vorherrschenden
Erinnerungspolitiken; ausgeblendet wurde meist die Rolle ausländischer Akteure bei der
Gestaltung der Feierlichkeiten. Ein genauerer Blick auf die Vielzahl der in die Organisation
involvierten Akteure bietet jedoch ein komplexeres und differenziertes Bild. Auch in dieser
Arbeit sollen die Gedenkveranstaltungen kritisch beleuchtet werden, da aufgrund der ge-
32
rade genannten Spannungen in Bezug auf die Feierlichkeiten davon ausgegangen wird, kon-
kurrierende Erinnerungsdiskurse ausmachen zu können, die später als Grundlage des prak-
tischen Teils dienen sollen.
5.2.1. Gedenkveranstaltungen in Sarajevo
Da keine Einigung für ein gemeinsames Tagungsprogramm gefunden werden konnte, wur-
den zwei konkurrierende wissenschaftliche Konferenzen abgehalten. In Kooperation mit
einigen Mitgliedsstaaten der EU und der Stadt Sarajevo wurde die Stiftung „Sarajevo – Heart
of Europe“ gegründet, deren Fokus auf der Verbreitung einer Versöhnungs- und Friedens-
botschaft lag. Diese Stiftung unterstützte eine Tagung, die unter dem Titel „The Long Shots
of Sarajevo 1914“ abgehalten wurde. Das Hauptanliegen dieser Konferenz lag – wie dem
Vorwort des daraus entstandenen, gleichnamigen Sammelbandes zu entnehmen ist – nicht
darin, den Beginn des Ersten Weltkriegs, Kriegsgründe, Anlässe, Ziele und Folgen zu the-
matisieren, sondern darin, „ein mehrdimensionales, facettenreiches Bild des Attentats auf
seinem Weg in und durch die Geschichte“ zu entwerfen (Preljević; Ruthner 2016: 9). Dabei
sollten vor allem die Ebenen des Narrativs und jene des kulturellen Gedächtnisses behandelt
werden. Der Sammelband stellt den Versuch dar aufzuzeigen, „wie aus einem kontingenten
und chaotischen Vorfall ein Ereignis von historischer Tragweite wird, das sich in komplexe,
ja widersprüchliche narrative und diskursive Sinnstiftungssysteme einfügt.“ (ebd.)
Das Institut für Geschichte der Universität Sarajevo plante mit anderen Instituten,
vorrangig aus EU-Mitgliedsstaaten, die Tagung „The Great War: Regional Approaches and
Global Contexts“, die sich nicht dem Attentat an sich, sondern den Ursprüngen des Ersten
Weltkriegs widmen sollte. Dabei war es ihr wichtig, einen Dialog über alle Aspekte des
Krieges zu initiieren. Bisher Unbekanntes – oder zumindest unzureichend Erforschtes –
sollte im Mittelpunkt dieses Symposiums stehen. (vgl. Kamberović 2014: 11) Die im Zuge
der Konferenz erlangten Ergebnisse wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedauerli-
cherweise, bis auf ein paar wenige Ausnahmen,20 noch nicht publiziert. Der konkurrieren-
den Tagung warf man vor, dabei versagt zu haben, bedeutsame historische Einblicke in die
Anfänge des Ersten Weltkriegs zu geben, sich stattdessen eher auf kulturelle Aspekte des
20 Siehe dazu die Sonderausgabe von Prilozi/ Contributions 43 (2014). https://www.ceeol.com/search/journal- detail?id=725 [02.10.2019].
33
Krieges zu konzentrieren und den Fokus größtenteils auf die Verbreitung einer Friedens-
botschaft zu richten – was aufgrund der Unterstützung durch die Stiftung „Sarajevo – Heart
of Europe“ auch naheliegend scheint. Dies sei zwar wünschenswert, entspreche aber nicht
dem Zwecke akademischer Konferenzen – der Ermöglichung eines kritischen Dialogs, an-
stelle politischer Kompromisse. (vgl. Kamberović 2014: 12) Diese Auffassung wird auch in
der aktuellen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung vertreten. Aleida Assmann
(2016: 115f.) plädiert für ein „dialogisches Gedächtnis“, welches die Möglichkeit bietet, die
„selbstbezügliche lokale oder nationale Perspektive zu überwinden und die blinden Flecken
des nationalen Gedächtnisses in historisches Wissen zu verwandeln.“ Erst darauf basierend
wird es möglich, ein nachhaltig friedliches Miteinander aufzubauen. Die Vorwürfe an der
„The Long Shots of Sarajevo 1914“-Tagung scheinen jedoch etwas weit hergeholt, da im
daraus entstandenen Sammelband sehr wohl einige durchaus kritische Beiträge zu finden
sind, die sich der Reflexion verschiedenster Aspekte im Zusammenhang mit dem Attentat
widmen.
Die Regierung in Banja Luka21 rief zur Boykottierung der Gedenkveranstaltungen in
Sarajevo auf, da man die propagierte Versöhnungsbotschaft in den geplanten Events nicht
erkannte. Daraus lässt sich auch die äußerst rare Beteiligung von Vortragenden aus der Re-
publika Srpska und Serbien an beiden wissenschaftlichen Symposien erklären. (vgl. Punz;
Haderer 2016: 696) Zur Boykottierung von serbischer Seite und der Uneinigkeit über ein
gemeinsames Tagungsprogramm kamen noch gegenseitige Sabotagevorwürfe der beiden
Konferenzen hinzu, welche die tiefe Spaltung der Erinnerung an das Attentat bzw. den Ers-
ten Weltkrieg deutlich belegen.22
Wie bereits erwähnt, waren auch die im Zuge des Jubiläums abgehaltenen Gedenk-
feiern Gegenstand wissenschaftlicher Expertisen. Großer Kritik waren die im Rahmen der
„Sarajevo – Heart of Europe“-Stiftung organisierten Gedenkveranstaltungen ausgesetzt.
Den Events wurde vor allem vorgeworfen, keine kritische Auseinandersetzung mit der Ver-
gangenheit zum Ziel zu haben. Tea Sindbæk Andersen (2016: 47) weist darauf hin, dass die
VeranstalterInnen in Sarajevo zudem gar nicht die Absicht verfolgten, eine Gedenkzeremo-
21 Obwohl der Verfassung nach Sarajevo Hauptstadt beider Entitäten Bosnien-Herzegowinas ist, gilt die in der
Republika Srpska liegende Stadt Banja Luka de facto als administratives, wirtschaftliches und kulturelles Zent-rum sowie Regierungssitz der Republika Srpska. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Republika_Srpska [20.06.2018]) 22 Zu den Sabotagevorwürfen siehe: Kamberović (2014: 11) und das Vorwort im Sammelband von Preljević und Ruthner (2016: 10).
34
nie zu veranstalten, sondern eine kulturelle Atmosphäre schaffen wollten, in der durch Mu-
sik, Kultur und Sport eine Friedensbotschaft in die Welt gesendet werden soll. Weiters
schreibt sie, dass sich die Liste angekündigter Stars und Celebrities eher wie eine „Oscarver-
leihung“, denn als Gedenkfeier einer der größten Katastrophen der europäischen Geschichte
las. (vgl. Sindbæk Andersen 2016: 48) Ähnlich sieht das auch Adla Isanović (2017: 137f.),
wenn sie erklärt, dass die Feierlichkeiten in Sarajevo verwirrender Natur waren, da nicht
klar war, ob nun gefeiert, getrauert oder die Vergangenheit kritisch hinterfragt wurde. Ziel
der gesamten Jubiläumsfeierlichkeiten war die Verbreitung der Botschaft von Frieden und
Toleranz. Diese Werte hochzuhalten kann freilich nicht kritisiert werden, ein nachhaltiges
friedliches Miteinander wird jedoch, wie bereits erwähnt, erst durch eine ernsthafte Ausei-
nandersetzung mit der negativen Vergangenheit ermöglicht, denn die Erfahrung zeigt, dass
ein „verordnete[s] Vergessen und Vergeben“ über kurz oder lang zu erneuten Konflikten
führt (König 2010: 122).
Im Jubiläumsjahr 2014 wurde in Sarajevo nicht nur dem Ausbruch des Ersten Welt-
kriegs gedacht, sondern auch das 30. Jubiläum der Olympischen Winterspiele, das 20. Jubi-
läum des Sarajevo Film Festivals und die Wiederöffnung der Vijećnica – das während der
österreichisch-ungarischen Herrschaft errichtete Rathaus, welches während der Belagerung
Sarajevos in den 1990er Jahren niedergebrannt und durch Mittel der EU wieder restauriert
wurde – gefeiert. (vgl. Sindbæk Andersen 2016: 47) Die Wiedereröffnung der Vijećnica
wurde mit einem Konzert der Wiener Philharmoniker gefeiert. Während die lokale Bevöl-
kerung in „sicherer Distanz“ (Isanović: 2017: 137) positioniert wurde und über eine Lein-
wand das Konzert mitverfolgen konnte, war das direkte Vergnügen des Konzerts der dip-
lomatischen und (kultur-)politischen Elite vorbehalten. (vgl. Sundhaussen 2016a: 24; Punz
und Haderer 2016: 700f.; Isanović 2017: 137) Das Programm der Aufführung war „europä-
isch“, da viele Stücke österreichischer, deutscher und französischer KomponistInnen ge-
spielt wurden, gefolgt von der europäischen und schließlich der bosnisch-herzegowinischen
Hymne. (ebd.) Punz und Haderer (2016: 701) fassen in ihrem Artikel das Arrangement der
Eröffnungsfeier der Vijećnica treffend als eine Wiederholung der „[Grundzüge] eine[s] ka-
kanischen kolonialen Habitus“ zusammen. Die zuvor erwähnte Verklärung der Habsburger-
monarchie als reine Modernisierungsmission, die heute von der EU fortgeführt werde,
wurde durch das Konzert der Wiener Philharmoniker auch von außen affirmiert und un-
terstützt.
35
Auch für Isanović (2017: 137) ist das Symbol, das von der Vijećnica ausging, eindeutig:
Das, was gefeiert und propagiert wurde, war die kulturelle und zivilisatorische Überlegen-
heit und das Überleben europäischer Werte: Versöhnung und die Fähigkeit ehemalige
Kriegsparteien – vorranging Nationen – zu versöhnen, ist ein zentraler Punkt der Identi-
tätskonstruktion der EU, welcher auch dazu genutzt wird, sich von seinen Nachbarn zu un-
terscheiden. Auch wenn man sich hier häufig nur auf den Imperativ des „Nie wieder!“ als
kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass in der Kontroverse rund um die neu er-
richtete Vijećnica zwei historische Ereignisse miteinander vermischt wurden. Funktionä-
rInnen der Republika Srpska verweigerten die Teilnahme an der Wiedereröffnung, da eine
am Eingang des Gebäudes angebrachte Gedenktafel ‚serbischen Verbrechern‘ (srpski zločinci)
die Schuld an der Zerstörung der Vijećnica zuspricht. (vgl. Isanović 2017: 140) Ohne Zweifel
kann der, damals schon serbisch dominierten, Jugoslawischen Volksarmee und der Armee
der Republika Srpska die Verantwortung für die Belagerung Sarajevos zugesprochen wer-
den. Der Inhalt der Gedenktafel ist aber nichtsdestotrotz verletzend und inakzeptabel, da er
eine ganze Volksgruppe kriminalisiert und ihr eine Kollektivschuld zuschreibt. Anstelle ei-
ner gesamtstaatlichen Institution, die versucht, alle ethno-nationalen Gemeinschaften Bos-
nien-Herzegowinas gleichermaßen zu vereinen und sich für eine gemeinsame bosnische
kollektive Identität einzusetzen, trägt die am Rathaus installierte Gedenktafel unverhohlen
zur symbolischen Ausgrenzung der bosnischen SerbInnen vom Gebäude – und in weiterer
Folge vom Gesamtstaat – bei; ein Akt, der aufs Neue den Weg zu einem dringend benötigten
dialogischen Miteinander erschwert. Da die Vijećnica als zentraler Austragungsort der von
EU-Mitgliedstaaten organisierten Gedenkveranstaltung diente, unterstützten diese im
Grunde auch die exkludierende Botschaft der Gedenktafel. (vgl. Sajn 2018: 9)
In der durch die Gedenkveranstaltungen geschaffenen Atmosphäre konnte sich die
Sehnsucht nach der Habsburgermonarchie voll entfalten. Durch die Art der Gedenkveran-
staltungen und der Präsenz europäischer PolitikerInnen zeigte die Stadt Sarajevo, dass auch
sie die europäischen Werte von Frieden und Versöhnung vertritt, und versuchte somit, ein
fortschrittliches und pro-europäisches Bild von sich selbst zu produzieren. (vgl. Sindbæk
Andersen 2016: 48)
Eine weitere mögliche Erklärung dafür, dass die Gedenkveranstaltungen die Verbrei-
tung einer Friedensbotschaft in ihren Mittelpunkt stellten, könnte ein Fehlen an Energie
und Kraft sein, sich mit noch einem weiteren Krieg auseinanderzusetzen. Die noch lange
nicht abgeschlossene Aufarbeitung der letzten kriegerischen Konflikte der 1990er Jahre
36
nimmt für das aktuelle gesellschaftliche Miteinander eine viel bedeutendere Rolle ein. Dar-
aus resultiert möglicherweise der Wunsch nach Vergessen und Einigung auf ein friedliches
Miteinander – zumindest in Bezug auf die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg.
Kritik erfuhren die in Sarajevo abgehaltenen Gedenkveranstaltungen durch eine Pro-
testaktion. Kurz vor dem Konzert der prestigeträchtigen Wiener Philharmoniker zeigte
eine Gruppe lokaler AktivistInnen Spruchbänder mit folgenden Parolen:
We are occupied again – by imperialism – by EU and international community – by
fascism – by MMF – by capitalism – by nationalism – 2 million euros. For what? (Sajn 2018: 12)
Die Protestierenden trugen Gavrilo-Princip-Masken. Durch diesen symbolischen Akt
brachten sie die marginalisierte und gegenwärtig hauptsächlich von serbischen Nationalis-
tInnen beanspruchte antiimperialistische Ausrichtung des Attentats in die bosnische Erin-
nerungslandschaft zurück. Die Wiederaneignung der Symbolik der Figur Princips wirkte in
zwei Richtungen: einerseits gegen Ethnisierung und Nationalismus und andererseits gegen
die Besatzungsmächte – einst durch Österreich-Ungarn, heute durch die internationale Ge-
meinschaft und die EU repräsentiert. (vgl. Sajn 2018: 12) Der Protest zielte auf die Kon-
struktion einer neuen sozialen Gruppe ab; nämlich auf eine all jene Menschen umfassende,
die nicht der nationalen oder internationalen Elite angehören und unter der dramatischen
sozioökonomischen Situation Bosnien-Herzegowinas leiden – was bekanntlich auf die über-
wiegende Mehrheit der Bevölkerung des Landes zutrifft. Der Protest knüpfte auch an der
damals aktuellen Lage Bosnien-Herzegowinas an. Einige Monate vor dem Jubiläum wurden
weite Teile des Landes von einer schweren Flut überschwemmt. Ein Großteil der finanzi-
ellen Hilfe war zu diesem Zeitpunkt noch ausständig. Das erklärt auch, warum die Mehrheit
der Bevölkerung kein Verständnis dafür aufbringen konnte, zwei Millionen Euro für Ge-
denkveranstaltungen ohne stringentes Konzept auszugeben, während die von einer Natur-
katastrophe gebeutelte Bevölkerung noch immer auf finanzielle Hilfe wartete. (ebd.)
5.2.2. Gegen-Gedenkveranstaltungen in Višegrad
Wie bereits erwähnt, verweigerte die politische Spitze der Republika Srpska und Serbiens
die Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen in Sarajevo. Stattdessen verfolgte die Repub-
37
lika Srpska ihre eigene Strategie der Gemeinschaftsbildung und organisierte eine Gedenk-
feier zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und vor allem an Princips heldenhafte Taten.
Das wichtigste Event stellte dabei die feierliche Eröffnung der Kunststadt Andrićgrad (be-
nannt nach dem Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić) in Višegrad dar, an der u.a. der Prä-
sident der Republika Srpska, Milorad Dodik, und Aleksandar Vučić, der Ministerpräsident
Serbiens teilnahmen.
Laut dem streitbaren Filmemacher und Ideenvater der Retortenstadt Emir Kusturica,
soll Andrićgrad der Republika Srpska als neues geistiges, kulturelles und wissenschaftliches
Zentrum dienen. (vgl. Petrović-Ziemer 2016: 612)
Durch ein imposantes Stadttor gelangt man in die kleine Kunststadt, die Platz für rund
50 Gebäude bietet: Darunter befinden sich u.a. ein Multiplexkino, ein Hotel, ein Theater,
ein Souvenirladen, Restaurants und eine serbisch-orthodoxe Kirche, deren Architektur sehr
an das Kloster Visoki Dečani23 im Kosovo erinnert und den Namen des Heiligen Lazars
trägt. Die urbanistische Konzipierung von Andrićgrad fällt politisch äußerst unsensibel aus:
Die Hauptstraße trägt den Namen der Studentenbewegung Mlada Bosna (ebd.); an der Wand
des örtlichen Kinos sind zwei großflächige Mosaike angebracht. Das eine zeigt Gavrilo Prin-
cip und die anderen Attentäter; das andere stellt eine farbenfrohe Pastorale dar, in der einige
bekannte Figuren auszumachen sind: Abgebildet sind u.a. Milorad Dodik – der Präsident
der Republika Srpska –, der bekannte Filmregisseur Emir Kusturica, der Schriftsteller
Branko Ćopić sowie der Tennisspieler Novak Đoković, die gemeinsam gegen einen unsicht-
baren Gegner Tau ziehen. (vgl. Isanović 2017: 140) Daneben sitzt eine gutgelaunte, traditi-
onell gekleidete alte Frau unter einem Apfelbaum und spielt Ziehharmonika. Dazu tanzt ein
junges Mädchen im weißen Kleid. Andrićgrad versammelt in seiner Konzipierung alle Sym-
bole des serbischen Nationalismus und lässt Ljubinka Petrović-Ziemer in ihrem Artikel fol-
gende, überaus treffende Schlussfolgerung zur Kitsch-Konstruktion der Kunststadt ziehen:
Auf der mythologischen Ebene wird in Andrićgrad die Vereinigung aller serbischen
Helden und Märtyrer an einem künstlich geschaffenen Ort über eine urbanistische Lö-sung verwirklicht. […] Die Schlacht von Kosovo und der Befreiungskampf der Mlada
Bosna bilden den Beginn und das Ende dieser mythologischen Narration als Legitima-tionsbasis für die Abspaltung und Staatsgründung der Republika Srpska. Andrićgrad avanciert daher zum Zentrum eines künftigen Staates, der zum einen Kompensations-
funktion für alle territorialen Verluste in der serbischen Geschichte übernehmen soll,
23 Beim Kloster Visoki Dečani handelt es sich um ein im 14. Jahrhundert errichtetes serbisch-orthodoxes Klos-ter, das seit jeher als bedeutender Wallfahrtsort gilt. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Visoki_ De%C4%8Dani [07.07.2019]) Heute befindet sich das Kloster auf dem Gebiet des Kosovos, wodurch es vor allem zu einem Symbol des Souveränitätskonflikts in der Region wurde.
38
zum anderen kündigt Andrićgrad die Bildung eines Staates an, für den dieser Narration
zufolge auch die Mlada Bosna gekämpft haben soll. (Petrović-Ziemer 2016: 613)
Durch die symbolische Einbettung Gavrilos in die Planstadt wird er in das serbisch-natio-
nalistische Narrativ neben dem Kosovo-Mythos und Petar II. Njegoš24 (dem auch ein Denk-
mal in der Kunststadt gesetzt wurde) eingereiht. Die symbolische Verankerung des Atten-
tats und der Attentäter im Stadtbild ist deshalb problematisch, da die Mitglieder der Mlada
Bosna nicht für einen serbischen, sondern für einen jugoslawischen Staat – „in welcher
Staatsform auch immer“25 – einstanden.
Der bereits erwähnte Tausendsassa Emir Kusturica war auch Initiator der Gegen-Ge-
denkveranstaltungen am 28. Juni 2014, denen neben der politischen Spitze der Republika
Srpska und Serbiens, der Patriarch der Serbisch-Orthodoxen Kirche Irinej sowie Prinz Alek-
sandar Karađorđević beiwohnten. (vgl. Sundhaussen 2016a: 22) Die offizielle Zeremonie
begann mit einer heiligen Messe, in der die Kirche des Heiligen Zar Lazars gesegnet wurden.
Petrović-Ziemer (2016: 612) merkt an, dass die Jubiläumszeremonie an einen Gründungsakt
erinnerte, da am Vidovdan 2014 in Andrićgrad eine „Pseudo-Historiographie für eine Enti-
tät geschaffen [wurde], die auf symbolischer Ebene ihre Unabhängigkeit vollzieht und sich
aus der gemeinsamen Geschichte von Bosnien und Herzegowina ausschreibt.“ (ebd. 612f.)
Kusturica inszenierte anlässlich der Gedenkveranstaltungen ein Drama mit dem Titel ‚Die
rebellierenden Engel‘ (Pobunjeni anđeli),26 welches in der Retortenstadt aufgeführt wurde.
Die Inszenierung hatte nicht nur geringen künstlerischen Wert, sondern wies darüber hin-
aus auffällig nationalistische Botschaften und einen starken Beigeschmack der Volksverhet-
zung auf, was bestehende Spaltungen in Bosnien-Herzegowina nur noch weiter verstärkte.
24 Der Fürstbischof Petar II. Petrović-Njegoš zählt zu den bedeutendsten montenegrinischen Dichtern des 19. Jahrhunderts. Sein bekanntestes Werk ist der ‚Bergkranz‘ (Gorski vijenac, 1847). Das Volksepos ist geprägt vom historischen Hintergrund der Nationalgeschichte (dem Völkermord an der muslimisch slawischen Bevölke-rung), „einschließlich der mythisch verklärten Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 […].“ „Ebenso wie der Kosovo-Mythos diente auch Gorski vijenac wiederholt als eine Art geschichtliche Legitimation nationalisti-scher Gesinnung.“
(http://kll-aktuell.cedion.de/nxt/gateway.dll/kll/n/k0508300.xml/k0508300_020.xml?f=templates$fn=in-dex.htm$q=%5Brank,500%3A%5Bdmain%3A%5Band%3A%5Bfield,body%3Aje-gos%5D%5D%5D%5Bsum%3A%5Bfield,lemmatitle%3Anjegos%5D%5Bfield,body%3Anje-gos%5D%5D%5D$x=server$3.0#LPHit1 [24.09.19]) 25 Das Zitat stammt aus Gavrilo Princips Aussagen während der Gerichtsverhandlung: „Ja […] težim za
ujedinjenjem svih Jugoslovena u koju bilo državnu formu […].“ (Dedijer 1966: 560) 26 Das Drama wurde live vom Fernsehsender Radio Televizija Republike Srpske übertragen und kann auf der offiziellen Webseite von Andrićgrad eingesehen werden: http://www.andricgrad.com/en/2014/06/scenski-prikaz-sarajevskog-atentata-pobunjeni-andeli/ [07.04.2018].
39
Einen Tag vor der Gedenkveranstaltung in Višegrad wurde im überwiegend von bos-
nischen SerbInnen besiedelten „Istočno Sarajevo“ („Ost-Sarajevo“)27 im Beisein des serbischen
Mitglieds des Staatspräsidiums28 und des Präsidenten der Republika Srpska eine Statue von
Gavrilo Princip enthüllt. Der Untersuchung des Denkmals und seiner symbolischen Wirk-
kraft ist im analytischen Teil der Arbeit ein eigenes Kapitel (7.1.1) gewidmet.
5.3. Zusammenfassung
Auf den ersten Blick scheint es, als konkurriere das von der EU befürwortete Versöhnungs-
narrativ mit jenem der serbisch-nationalistischen Elite. Sarah Sajn (2018: 3) zeigt jedoch in
ihrem Artikel auf, dass beide Narrative schlussendlich die gleichen Grenzen – zwischen der
EU und Bosnien-Herzegowina auf der einen und die ethnischen Grenzen innerhalb Bos-
nien-Herzegowinas auf der anderen Seite – (re-)produzieren: Beide Sichtweisen basieren
auf einem gemeinsamen Denkansatz von in Konflikt stehenden ethnischen Gruppen. Wäh-
rend die Versöhnungsagenda darauf abzielt ethnische Spaltungen zu überwinden, will die
nationalistische Elite diese aufrechterhalten. Beide sind aber auf das Denken in geteilten
Gruppen angewiesen. (ebd. 4) Die Einigung auf die Verbreitung der Werte von Versöhnung
und Frieden für die Gedenkveranstaltung in Sarajevo bezieht sich eigentlich auf den Krieg
der 1990er Jahre und weist eher weniger Verbindung zum Beginn des Ersten Weltkriegs
auf, dem die eigentliche Aufmerksamkeit gelten sollte. Indem aber eine Verbindung zum
letzten Krieg geschaffen wird, wird Sarajevo und Bosnien-Herzegowina im Allgemeinen als
Ort des Krieges dargestellt, dem gegenüber sich Europa als zivilisierende und friedensstif-
tende Macht positioniert. (ebd. 7)
Dass man sich auf kein gemeinsames Gedenkkonzept einigen konnte, lag auch an den
in die Entscheidungsprozesse miteingebundenen EU-Mitgliedsstaaten. Diese verfolgten
27 Obwohl „Ost-Sarajevo“ zum Großraum Sarajevo zu zählen ist, ist es nicht Teil der heutigen Stadt Sarajevo. Seit 1995 liegt es auf dem Territorium der Republika Srpska, wohingegen die Stadt Sarajevo zur bosniakisch-kroatischen Föderation gehört. (vgl. Sundhaussen 2014: 10) 28 Das Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas besteht aus drei Mitgliedern, die jeweils eines der drei konsti-tutiven Völker des Landes (BosniakInnen, KroatInnen, SerbInnen) repräsentieren.
40
vorrangig eigene Interessen und widmeten sich der Bewahrung eigener nationaler Narra-
tive über das Ereignis.29 Das Zentenarium bot die Möglichkeit, ein Gedenkklima zu schaf-
fen, das offen für mehrere Interpretationen über die Vergangenheit ist. Stattdessen wurden
die Spannungen, die durch die konkurrierenden Narrative der beiden Gedenkveranstaltun-
gen in Sarajevo und Višegrad hervorgerufen wurden, dazu benutzt, um Bosnien-Herzego-
wina als Ort ethnischer Spannungen zu affirmieren und zu gestalten. (vgl. Sajn 2018: 5f.)
Die Ambiguität zwischen den Gedenkveranstaltungen anlässlich des Zentenariums
des Attentats von 1914 in Sarajevo und Višegrad zeigt deutlich, wie sehr Kunst und Kultur
im Zentrum von Erinnerungskämpfen und -politiken stehen. (vgl. Isanović 2017: 143) Die
Gedenkfeiern offenbarten die tiefe Kluft zwischen den einzelnen Erinnerungsdiskursen in
Bosnien-Herzegowina. Wie unterschiedlich die Erinnerung an ein und dasselbe Ereignis in
der Gegenwart interpretiert, genutzt und im kulturellen Gedächtnis verankert werden
kann, kann an den einzelnen Erinnerungsgruppen beispielhaft abgelesen werden.
Basierend auf den Darlegungen zu den Gedenkveranstaltungen und den darin gezo-
genen Schlüssen, wird von mindestens drei konkurrierenden kollektiven Erinnerungsnar-
rativen in Bosnien-Herzegowina in Bezug auf das Attentat und seine ProtagonistInnen aus-
gegangen: 1. der serbisch-nationalistische, 2. der europäisch-orientierte und 3. der antiimperialis-
tische Erinnerungsdiskurs. Der serbisch-nationalistische Erinnerungsdiskurs – der die Kunst-
stadt Andrićgrad dominiert – vereinnahmt Gavrilo Princip als Freiheitskämpfer des serbi-
schen Volkes, für dessen Vereinigung er gekämpft haben soll. Princip wird in die Reihen
der HeldInnen des Jahrhunderte andauernden Freiheitskampfes des serbischen Volkes auf-
genommen. An dieser aktuellen Interpretation Princips artikuliert sich der Wunsch nach
Abspaltung der Republika Srpska vom bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat. Die An-
passung Gavrilo Princips an das serbisch-nationalistische Narrativ erschwert eine objektive
Aufarbeitung des historischen Ereignisses. Der europäisch-orientierte Erinnerungsdiskurs –
wie er sich an den Gedenkveranstaltungen in der Stadt Sarajevo manifestierte – versucht
sein Gedenken um jeden Preis dem des europäischen kollektiven Gedächtnisses anzupassen.
Auch hier rückt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte in den Hin-
tergrund, was sich in einem verklärten Bild der Habsburgermonarchie und dem unreflek-
29 Sarah Sajn (2018: 14) merkt an, dass die österreichische Regierung besonders darum bemüht war, den Über-blick über die Organisation der Gedenkfeiern in Sarajevo zu behalten. Diese politische Beteiligung verweist darauf, dass Österreich seine eigene kollektive Erinnerung an das österreichisch-ungarische Reich in Gefahr sah. Daraus erklärt sich auch, warum eigens ein Gesandter für internationale kulturelle Projekte beauftragt wurde, um alle österreichischen Aktivitäten für die Gedenkfeier zu koordinieren.
41
tierten Hochhalten europäischer Werte niederschlägt. Die Protestaktion lokaler AktivistIn-
nen offenbart den letzten der drei Erinnerungsdiskurse, die durch die Untersuchung der
Gedenkveranstaltungen eruiert werden konnten. Der antiimperialistische Erinnerungsdis-
kurs legt seinen Fokus auf den antiimperialistischen Charakter der Tat und will Gavrilo
Princip nicht der Vereinnahmung durch das serbisch-nationalistische Narrativ überlassen.
Wenngleich auch im serbisch-nationalistischen Erinnerungsdiskurs ein antiimperialisti-
sches Moment auszumachen ist, unterscheidet sich dieses jedoch grundsätzlich von dem des
hier als antiimperialistisch bezeichneten Erinnerungsdiskurses: Die antiimperialistische
Auslegung des serbisch-nationalistischen Narrativs richtet sich gegen den bosnisch-herze-
gowinischen Gesamtstaat, der als Okkupationsmacht, von der es sich abzuspalten gilt, wahr-
genommen wird. Im Gegensatz dazu versteht der hier als antiimperialistisch bezeichnete
Erinnerungsdiskurs den von ihm verurteilten Imperialismus als eine von der EU und der
internationalen Gemeinschaft ausgehende Vormachtstellung gegenüber Bosnien-Herzego-
wina bzw. der gesamten Region, derer es sich entgegenzustellen gilt. Es wird aber auch Kri-
tik an den eigenen Reihen geübt. Das Narrativ richtet sich gegen Nationalismus und dabei
vor allem gegen eine ethno-nationalistische Spaltung der gesamten Region aufgrund herr-
schender Uneinigkeit über und der daran anschließenden Instrumentalisierung von Ver-
gangenheit.
Bereits anhand dieser kurzen Darlegung zeigt sich, dass die Erinnerungslandschaft
rund um das Attentat äußerst heterogen ist und die einzelnen Erinnerungsdiskurse in kras-
sem Gegensatz zueinander stehen.
6. Forschungsstand und Forschungsfragen
6.1. Forschungsstand
Das Gros der aktuellen Forschungsbeiträge zum Attentat von Sarajevo, die im Bereich der
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung angesiedelt sind, behandelt einerseits die
Gedenkveranstaltungen, die im Zuge des 100-jährigen Jubiläums abgehalten wurden und
andererseits die Wandlungsprozesse der kollektiven Erinnerung an das Ereignis seit dem
Attentat 1914. Einen solchen Überblick bieten die Arbeiten von Husnija Kamberović (2014),
42
Robert Donia (2014), Selma Harrington (2014), Tea Sindbæk Andersen (2016), Holm Sund-
haussen (2016a), Christine Punz und Florian Haderer (2016) sowie Paul Miller (2014).
Husnija Kamberovićs Beitrag (2014) beschäftigt sich vor allem mit den Gedenkveran-
staltungen anlässlich des Zentenariums des Attentats. Kritische Worte findet er dabei vor-
ranging für die VeranstalterInnen und die Stiftung „Sarajevo – Heart of Europe“ und schluss-
folgert, dass die Jubiläumsfeierlichkeiten die gespaltene Erinnerung einzelner Erinnerungs-
gruppen viel eher verstärken, als ihnen entgegenzuwirken.
Neben seiner Darstellung einer 100-jährigen Rezeptionsgeschichte des Attentats und
seiner ProtagonistInnen stellt Robert Donia (2014) die Vermutung auf, dass Princips zu-
künftige Auffassung der einer Celebrity entsprechen wird, die Aufmerksamkeit erregt und
Neugier weckt – nicht aus moralischen oder ideologischen Beweggründen heraus, sondern
als Figur eines der folgenreichsten Ereignisse der Weltgeschichte. Die vereinfachte dicho-
tome Interpretation der Figur Princip entweder als Held oder als Terrorist wird jener der
Celebrity weichen.
Selma Harrington (2014) zeigt in ihrer Untersuchung, wie anhand der visuellen Erin-
nerungskonstruktionen an das Attentat und die daran Beteiligten (Schauplatz des Attentats,
Grabstätte der Attentäter, ‚Mlada-Bosna-Museum‘ und Museum ‚Sarajevo 1878–1914‘) die
sich wandelnde Perzeption des Ereignisses abgelesen werden kann.
Tea Sindbæk Andersen (2016) stellt die Frage nach der gegenwärtigen Erinnerung an
den Ersten Weltkrieg in Bosnien, Kroatien und Serbien. Sie wählt, neben der kritischen
Reflexion der Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100. Jahrestages, einen erweiterten Zu-
gang zur Untersuchung einer 100-jährigen Wertebildung: Mithilfe der Analyse von Schul-
und Geschichtsbüchern, in Zeitungen und anderen Medien ausgetragenen Debatten sowie
Kommentaren politischer Akteure kommt sie zu dem Schluss, dass, während das serbische
Narrativ vor allem Heldentum und Selbstviktimisierung ins Zentrum seiner Erinnerung
stellt, sich die bosnische und kroatische Erinnerung universeller und auf die Notwendigkeit
des internationalen Friedens verweisend gestaltet.
Auch Holm Sundhaussen (2016a) widmet sich in seinem Beitrag, neben der Darstel-
lung einer 100-jährigen Rezeptionsgeschichte, vor allem auch der Frage, welche Gründe die
Entstehung einzelner, höchst konflikthafter Erinnerungsdiskurse motivierten. Die pro-
habsburgische Einstellung hat, seiner Auffassung nach, ihren Ursprung in der wirtschaftli-
chen, politischen und kulturellen Peripherisierung Bosniens im ersten Jugoslawien, was bei
einem Großteil der Bevölkerung zu einer gewissen Sehnsucht nach der Zeit unter der Herr-
43
schaft der Doppelmonarchie führte. Die Verklärung Princips zum serbischen Freiheits-
kämpfer sieht Sundhaussen als Reaktion auf den Umstand, dass nach den kriegerischen Aus-
einandersetzungen der 1990er Jahre mehr als ein Viertel der SerbInnen wiederum außer-
halb Serbiens lebte, wodurch Princips Tat erneut an Aktualität gewinnen konnte.
Auch der Artikel von Christine Punz und Florian Haderer (2016) befasst sich mit den
Erinnerungspolitiken in Bosnien-Herzegowina, die sich in den Gedenkveranstaltungen an-
lässlich des 100-jährigen Jubiläums des Attentats manifestierten. Darüber hinaus werfen
Punz und Haderer die Frage auf, ob die Revitalisierung der Erinnerung an Princip in Sara-
jevo nach den 1990er Jahren nicht vor allem aus touristischen Zwecken erfolgte, da man das
Attentat auf das Thronfolgerehepaar als „Unique-Selling-Point“ (ebd. 699) erkannte.
Paul Miller (2014) liefert den wohl umfangreichsten und am breitesten gefächerten
Beitrag zum Attentat von Sarajevo im kulturellen Gedächtnis Bosnien-Herzegowinas. Er
versteht das Attentat von Sarajevo als lieu de mémoire im Sinne Pierre Noras und nähert sich
ihm durch eine Analyse verschiedenster Ausformungen der Erinnerung an das Attentat an:
Den Großteil seiner Untersuchung nehmen Erinnerungsformen im öffentlichen Raum ein,
wie beispielsweise die erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes, die Kapelle,
in der die Attentäter begraben wurden, einstige, nach den Attentätern benannte Straßen,
das ehemalige ‚Mlada-Bosna-Museum‘ und das heutige Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘. Dar-
über hinaus finden aber auch Schulbücher und Jubiläumsbriefmarken Eingang in seine Ana-
lyse.
Es wurde viel Mühe auf die Darstellungen und Interpretationen des Attentats in ver-
gangenen Epochen aufgewendet; aktuelle Erinnerungslandschaften wurden nur spärlich be-
handelt und ihre Untersuchung stützte sich fast ausschließlich auf Schlussfolgerungen, die
durch die Analyse der Gedenkveranstaltungen gezogen wurden. Es gibt nur einige wenige
Beiträge, die sich mit kulturellen und künstlerischen Aufarbeitungen des Ereignisses aus der
Perspektive der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung beschäftigen. Jene richten
ihre Aufmerksamkeit dann meist auf nur eine einzige kulturelle Objektivation; verglei-
chende oder medienübergreifend angelegte Studien finden sich kaum.
Stijn Vervaets Beitrag (2016) unterzieht Biljana Srbljanovićs Drama Mali mi je ovaj
grob einer kritischen Reflexion. Den größten Schwachpunkt des Stücks sieht Vervaet in der
Konstruktion einiger beachtlicher historischer Widersprüche. Beim Versuch, einen Aktua-
litätsbezug durch den Vergleich des Attentats auf Franz Ferdinand mit jenem auf den ehe-
maligen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić herzustellen, lässt das Stück laut Ver-
vaet zwei völlig verschiedene historische und geopolitische Kontexte – die österreichisch-
44
ungarische Fremdherrschaft in Bosnien und die letzten Jahre der Regierung unter Milošević
– miteinander verschmelzen. Dabei schafft das Stück eine Illusion der historischen Konti-
nuität und lässt beinahe ein Jahrhundert historischer Entwicklungen außer Acht. (vgl. Ver-
vaet 2016: 560) Da sich die vorliegende Arbeit ebenfalls der Untersuchung von Srbljanovićs
Dramentext widmen wird, werden Vervaets Ausführungen an späterer Stelle noch ausführ-
licher diskutiert werden.
Auch Ljubinka Petrović-Ziemer (2016) widmet sich der Untersuchung von Srbljano-
vićs Dramentext. Sie findet vor allem lobende Worte für Srbljanovićs Bemühen, die Atten-
täter „jenseits der in der Öffentlichkeit dominierenden Narrative darzustellen“ (ebd. 611)
und sieht darin vordergründig „eine Einladung, das eigene Verhältnis zur Bewegung Mlada
Bosna und ihren Mitgliedern zu reflektieren.“ (ebd. 612) Auch ihre Gedanken zum Theater-
stück sollen an späterer Stelle noch Eingang finden. Als weitere Beispiele kultureller Aufar-
beitungen wählt Petrović-Ziemer die Retortenstadt Andrićgrad sowie das Dokumentarthe-
ater-Projekt „100 Jahre 1914/2014. Ein Ereignis – viele Perspektiven“. Petrović-Ziemers
Darlegungen zur Kunststadt wurden bereits in Kapitel 5.2.2 ausgeführt und werden daher
an dieser Stelle nicht wiederholt. Das Dokumentartheater-Projekt sieht Petrović-Ziemer
vorranging als ein Streben nach Perspektivenvielfalt. Das Projekt zielte auf keine vorgefer-
tigte Deutung des Attentats hin, sondern konfrontierte das Publikum mit einer derartigen
Dokumentarmasse, die eine pluralistische Betrachtung und ein kritisches Hinterfragen des
historischen Ereignisses unumgehbar macht. (vgl. Petrović-Ziemer 2016: 614f.) Mit ihrem
gegenüberstellenden und mehrere Medien des kollektiven Gedächtnisses miteinbeziehen-
den Ansatz kommt der Beitrag Petrović-Ziemers dem Anliegen dieser Arbeit am nächsten.
Angela Richter (2016) behandelt in ihrem Artikel den Dramentext Zmajeubice von
Milena Marković und das bereits genannte Stück Mali mi je ovaj grob von Biljana Srbljanović.
In der Reflexion des Letzteren hebt Richter, wie auch schon Petrović-Ziemer (2016), die
Konstruktion der Figur des Gavrilo Princip weder als Mörder noch als Helden hervor. Sie
erkennt in Srbljanovićs Figurenkonzeption Princip viel eher als Opfer höherer, nationalis-
tischer Kräfte und weist auf die unverkennbare Sympathie der Autorin für die Jungbosnier
hin. In Milena Markovićs Werk macht Angela Richter vor allem die Frage nach der Freiheit
– „nicht einfach die Freiheit der Serben oder Südslawen [...], sondern eine grundsätzliche,
die für alle und jeden gilt“ – aus (Richter 2016: 81).
Bisher wurde noch kein Versuch unternommen, ein wirklich umfassendes Bild der in
Bosnien-Herzegowina koexistierenden Erinnerungsdiskurse rund um das Attentat und
seine ProtagonistInnen zu zeichnen. Um aufzeigen zu können, wie das Ereignis und seine
45
ProtagonistInnen gegenwärtig von einzelnen Erinnerungsgemeinschaften bewertet wer-
den, will diese Arbeit ihre Analyse auf verschiedenste künstlerische und kulturelle Verar-
beitungen des Attentats im öffentlichen Raum, in Literatur sowie im Film stützen. Wie die
Darlegung der bestehenden Forschungsbeiträge gezeigt hat, gibt es nach wie vor keine Mo-
nographie, die sich dezidiert vergleichend und medienübergreifend mit Präsentationen des
Attentats in Kunst und Kultur beschäftigt. Das ist vor allem deshalb bedauerlich, da gerade
Kunst einen Anspruch des Widerspruchs stellen kann und die Möglichkeit hat, blinde Fle-
cken tradierter Wertemaßstäbe, Gewohnheiten und Denkmuster einer sozialen Gruppe
aufzuzeigen und zu hinterfragen, weshalb eine dahingehende Untersuchung überaus auf-
schlussreich scheint. Des Weiteren ist es auch nach dem hundertjährigen Jubiläum um die
Erinnerung rund um Gavrilo Princip und das von ihm verübte Attentat nicht ruhiger ge-
worden: Die Thematik war und ist auch danach häufig Gegenstand künstlerischer und kul-
tureller Verarbeitungen, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum in den Fokus wissen-
schaftlichen Interesses gerückt sind.
6.2. Forschungsfragen
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie dem Attentat und seinen ProtagonistInnen
in aktuellen Verarbeitungen aus Kunst und Kultur gedacht wird. Des Weiteren soll geklärt
werden, ob die in den künstlerischen und kulturellen Aufarbeitungen transportierten Erin-
nerungen einem der obengenannten Erinnerungsdiskurse (serbisch-nationalistisch, europä-
isch-orientiert oder antiimperialistisch) zugeordnet werden können. Wie bereits im Theorie-
teil erläutert, handelt es sich bei kollektiven Erinnerungsakten nicht nur um Träger kollek-
tiver Erinnerungen an ein bestimmtes vergangenes Ereignis, sondern sie wirken auch selbst
als Transformatoren des kollektiven Gedächtnisses und spielen eine zentrale Rolle bei des-
sen Formierung und Konstruktion. Daher werden die hier zu analysierenden künstlerischen
und kulturellen Verarbeitungen nicht nur als passive Repräsentanten kollektiver Erinne-
rungen verstanden, sondern auch auf die Frage hin untersucht, inwieweit sie bestehende
Erinnerungsdiskurse selbst beeinflussen und prägen und ob durch sie womöglich auch die
Entstehung gänzlich neuer Erinnerungsnarrative angeregt wird. Demnach soll also einer-
46
seits die passive Dimension der künstlerischen und kulturellen Aufarbeitungen, wie sie Er-
innerung inszenieren, und andererseits die aktive Dimension, wie durch sie Erinnerung for-
miert und konstruiert wird, behandelt werden.
Nicht berücksichtigt werden kann in dieser Arbeit jene transformierende Dimension
der aktiven Funktion von Medien des kollektiven Gedächtnisses, die aufzeigt, wie die neu
konstruierten Erinnerungsangebote auf die individuelle wie kollektive Erinnerung wirken
und Einfluss nehmen. Für die Untersuchung dieses Aspekts ergeben sich einige Hürden, die
der vorgegebene Rahmen einer Diplomarbeit nicht zu überwinden erlaubt: Zunächst ist
eine gewisse zeitliche Distanz Voraussetzung, die jedoch aufgrund der Aktualität der hier
untersuchen künstlerischen und kulturellen Objektivationen nicht gegeben ist. Des Weite-
ren würde das Eruieren des Einflusses der untersuchten Medien auf bestehende Erinne-
rungsdiskurse in den Untersuchungsbereich des kommunikativen Gedächtnisses fallen, das
zu untersuchen völlig andere Methoden als die hier verwendeten, wie beispielsweise Rezi-
pientInnenbefragungen, erfordern würde.
Wie zuvor dargelegt, fehlen wissenschaftliche Beiträge, die die Untersuchung der
Verarbeitungen des Attentats von Sarajevo und seiner ProtagonistInnen in Kunst und Kul-
tur explizit in einen komparativen und verschiedene Medien des kollektiven Gedächtnisses
miteinbeziehenden Kontext stellen. Die vorliegende Arbeit wird diese Forschungslücke kei-
neswegs schließen können. Sie soll jedoch als erster Versuch, die aktuelle Erinnerungsland-
schaft in Bosnien-Herzegowina in Bezug auf das Attentat von Sarajevo in diesem weiter
gefassten Kontext zu untersuchen, verstanden werden und sogleich als Anregung für wei-
tere Beschäftigung auf diesem Gebiet dienen.
7. Das Attentat und seine ProtagonistInnen in aktuel-
len künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen
Von dem in dieser Arbeit diskutierten theoretischen Hintergrund ausgehend, widmet sich
dieses Kapitel der praktischen Untersuchung aktueller Verarbeitungen des Attentats von
Sarajevo und seiner ProtagonistInnen in Kunst und Kultur. Bei der Zuordnung der einzel-
nen künstlerischen und kulturellen Objektivationen wurde eine Dreiteilung in Erinnerung
im öffentlichen Raum, Literatur und Film vorgenommen. Das erste Kapitel stellt zugleich auch
47
das umfangreichste dar: Untersucht werden das 2014 in Istočno Sarajevo errichtete Denk-
mal für Gavrilo Princip, die aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes,
das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ mit einem Exkurs zur Ausstellung ‚Sarajevo 1914–2014‘
in der Vijećnica, eine thematische Stadtführung zum Attentat sowie das Souvenirangebot
der Stadt Sarajevo in Bezug auf das historische Ereignis des Attentats. Das zweite Kapitel
widmet sich dem literarischen Text als Trägermedium des kulturellen Gedächtnisses. Darin
werden Miljenko Jergovićs jüngst erschienener Roman Nezemaljski izraz njegovih ruku und
Biljana Srbljanovićs Dramentext Mali mi je ovaj grob ausführlich diskutiert. Das letzte Kapitel
wird dem Film Smrt u Sarajevu von Danis Tanović gewidmet sein, der der kontroversen
Erinnerung an das historische Ereignis eine wesentliche Rolle in seinem Film zuschreibt.
7.1. Erinnerung im öffentlichen Raum
7.1.1. Erinnerung im öffentlichen Raum und kollektives Gedächtnis
Einige der von Cornelia Siebeck (2010) herausgearbeiteten Merkmale für Denkmäler und
Gedenkstätten können auch für die Beschreibung von Erinnerung im öffentlichen Raum im
Allgemeinen übernommen werden. Alle Formen von Erinnerung im öffentlichen Raum be-
zwecken in der Regel ein gedächtnispolitisches „agenda setting“ und sind „Bestandteil eines
institutionalisierten oder zu institutionalisierenden ‚kollektiven Gedächtnisses‘.“ (ebd. 177f.)
Durch die gedächtnispolitische Markierung eines Ortes im öffentlichen Raum soll eine be-
stimmte Darstellung der Vergangenheit als für eine Gesellschaft obligatorisch präsentiert
werden. Aufgrund ihrer unumgehbaren Präsenz erweckt jede Art von im öffentlichen Raum
visualisierter Erinnerung den Anschein allgemein gültiger kultureller Bedeutung. Daraus
folgend stellt auch jedes auf sie bezogene Handeln einen symbolträchtigen Akt dar. (ebd.
179) Die Geltung von im öffentlichen Raum markierter Erinnerung befindet sich immer in
Bewegung und ist von verschiedensten Faktoren abhängig. Mit anderen Worten, erinne-
rungskulturelle Bedeutung ist nie statisch, sondern immer variabel. (vgl. Burkhardt 2004:
240) Da nach politischen und gesellschaftlichen Umstürzen – wie bereits in Kap. 5.1 erläu-
tert – meist eine Anpassung des kulturellen Gedächtnisses an die neuen Gegebenheiten er-
folgt, wird auch die erinnerungskulturelle Markierung des öffentlichen Raums einer Umge-
staltung unterzogen.
48
Beim Nachdenken und Forschen über jedwede Form von Erinnerung im öffentlichen
Raum scheint eine diskursanalytische Untersuchung zur Erfassung gedächtnispolitischer Rah-
menbedingungen unabdingbar. Diese soll vor allem die Frage nach Motivation und Ziel ge-
dächtnispolitischer Akteure klären und offenlegen, welche Äußerungen im öffentlichen
Diskurs um sie artikuliert werden. Der Mehrwert der diskursanalytischen Untersuchung
wurde bereits in Kapitel 3.5 erläutert.
Neben dieser wohl am weitesten verbreiteten Vorgehensweise zur Erforschung von
erinnerungskulturell relevanten Markierungen im öffentlichen Raum, drängt sich jedoch
noch eine weitere Forschungsstrategie auf: Da es sich bei öffentlich zugänglicher Erinne-
rung nicht nur um hegemoniale Botschaften kultureller Objektivationen handelt, sondern
auch um Orte, an denen vielschichtige gesellschaftliche Auseinandersetzungen und soziale
Praktiken stattfinden, scheint eine Erforschung vor Ort als äußerst fruchtbar. (vgl. Siebeck
2010: 181f.) Bei jeder Form von im öffentlichen Raum visualisierter Erinnerung handelt es
sich um real existierende Orte, an denen Menschen „nicht nur kognitive, sondern auch emo-
tionale und physische Erfahrungen [machen].“ (ebd. 182) Auch Karl Schlögel (2003) spricht
sich in seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit für eine Erkundung vor Ort, für „Augenarbeit“,
wie er es nennt, aus. Er plädiert darauf, seinen eigenen Sinnen – allen voran dem Auge –
wieder mehr zu vertrauen und mehr zuzumuten. (ebd. 269) Dem 12 Meter hohen, steiner-
nen Denkmal für Franz Ferdinand und Sophie leibhaftig gegenüberzustehen, macht mit Si-
cherheit mehr Eindruck, als es nur auf Bildern oder einer Postkarte zu sehen. Bei diesem
Beispiel bleibt uns heute allerdings nur noch das Betrachten der Bilder. Für die in diesem
Kapitel zu untersuchenden Formen erinnerungskulturell relevanter, öffentlicher Markie-
rungen gilt dies allerdings nicht. Sie alle existieren noch und können hinsichtlich ihrer emo-
tionalen und physischen Wirkungsmacht untersucht werden.
Demgegenüber mag sich vielleicht der Einwand der Subjektivität aufdrängen. Karl
Schlögel (2003: 271) wendet allerdings ein, dass es nichts „Härteres als das subjektiv Erfah-
rene“ gäbe. Blindheit sei, so Schlögel (ebd. 273) ein Schicksal, aus der man keine Tugend
machen sollte. Wirkliches „Sehen“ setzt nach Verständnis Schlögels aber immer Wissen vo-
raus. Nur wer weiß, kann auch sehen:
Man beginnt sich für die Dinge erst zu interessieren, wenn man sie als Objektivationen des Geistes, der menschlichen Arbeit, der geschichtlichen Aktion ernst nimmt, wahr-
nimmt, zur Kenntnis nimmt. (ebd. 273)
Johanna Rolshoven vertritt einen ähnlichen Standpunkt. Im Gegensatz zum Diskurs des
Objektiven, sieht sie
49
[…] die Rede über das Subjektive in unserer Gesellschaft (nicht nur in der Wissen-
schaft) weniger mächtig und vor allem ungesicherter. Die Bereiche des Sensiblen, des individuell Erfahrenen und Erfahrbaren sind schwerer zu erfassen, da hier die Sprache,
das Vokabular weniger festgelegt und verbindlich sind. (Rolshoven 1996: 12)
Sie appelliert darauf, eben jene „Sprache des Sensiblen für sich zu üben“, da sich Empirie und
Theorie gegenseitig bedingen (ebd.).
Aus all den genannten Gründen schien für diese Untersuchung auch eine empirische
Forschung vor Ort – die sogenannte Augenarbeit – unverzichtbar, welche die im Theorieteil
herausgearbeiteten Methoden der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und der Dis-
kursanalyse für die in dieser Arbeit behandelten künstlerischen und kulturellen Objektivati-
onen des Attentats im öffentlichen Raum um viele wertvolle Beobachtungen ergänzen
sollte. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 2018 eine zweiwöchige Forschungsreise nach
Sarajevo unternommen. Die dabei gesammelten Eindrücke und Ergebnisse wurden in ei-
nem der Diplomarbeit angehängten Gedankenprotokoll beigefügt, auf dem ein Großteil der
Untersuchungen der kulturellen und künstlerischen Objektivationen im öffentlichen Raum
fußt. Ein Jahr später wurde dieses Gedankenprotokoll durch während eines weiteren, kür-
zeren Forschungsaufenthalts gesammelte Impressionen ergänzt.
7.1.2. Denkmal für Gavrilo Princip
Robert Musil (1978: 506) schreibt Denkmälern eine paradoxe Eigenheit zu. Obwohl sie mit
der Intention, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, errichtet werden, entziehen sie sich die-
ser – bis auf ein paar einzelne Ausnahmen, die als beliebtes Ziel von TouristInnen und Spa-
ziergängerInnen dienen – immer. Er spricht von der Unsichtbarkeit von Denkmälern, des-
sen Grund er in der Annahme, dass alles Beständige unserer Wahrnehmung im „Zeitalter
des Lärms und der Bewegung“ früher oder später zur „Kulisse“ (ebd. 508) wird, findet. Mo-
torisierter Verkehr trägt zu einer Beschleunigung des Lebens bei, schrille Werbung zieht
alle Aufmerksamkeit auf sich. (vgl. Assmann, A. 2016: 72) Das hat heute mit Sicherheit noch
mehr Gültigkeit als damals. Das Denkmal wirkt in dieser urbanen Umgebung rückständig.
Das Gesicht der in Stein Gehauenen verzieht keine Miene, Fahnen flattern ohne Wind, nie-
mand fürchtet sich vor einem gezückten Schwert. Die marmornen Figuren sollten doch we-
nigstens die Augen auf und zu klappen – so Musil in seinem durchaus satirischen Text. (vgl.
Musil 1978: 508) So unsichtbar und „gegen Aufmerksamkeit imprägniert“ (ebd. 506) wie er
50
behauptet, sind Denkmäler dann aber doch nicht. Musil bezieht sich in seinen Überlegungen
nämlich ausschließlich auf die Sicht der PassantInnen und blendet die „Dimension des kul-
turellen, politischen und sozialen ‚Handelns an Denkmälern‘ vollständig aus.“ (Assmann, A.
2016: 73) Denkmäler dienen als Träger von Erinnerungen an „schicksalhafte Ereignisse“ im
kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. (vgl. Assmann, J. 1988: 12) Auch wenn sie ein
Medium der Erinnerung sind, geben sie uns bei genauerer Betrachtung viel mehr preis als
das bloße historische Ereignis, auf das sie sich beziehen. (vgl. Knappitsch; Zifko 2007) Ei-
nerseits zeigen sie, welche Ereignisse für die Nachwelt aufbewahrt und konserviert werden
sollen und andererseits – und das ist vielleicht ihre interessanteste Eigenschaft – offenbaren
sie, „welche kollektiven Weltbilder und Wahrnehmungen sich für eine Gesellschaft zu ei-
nem bestimmten Zeitpunkt (dem der Errichtung) als prägend erwiesen haben.“ (ebd.) Ein
Denkmal bezieht sich in der Regel auf nur ein einzelnes schicksalhaftes Ereignis. Dement-
sprechend muss bei der Wahl des zu erinnernden Ereignisses auch äußerst selektiv vorge-
gangen werden. Somit kommt es zu einer Gewichtung von Vergangenem. Das Errichten
von Denkmälern setzt immer eine gewisse Machtposition voraus, die in der Regel der do-
minierenden Gruppe zugeordnet werden kann. (ebd.) So betrachtet, werden Denkmäler zu
„Visualisierungen hegemonialer Macht“ (ebd.), die versucht die Vergangenheit in einer Art
und Weise anzuordnen, die ihre Existenz legitimiert. Denkmäler präsentieren also
[…] subjektive Vergangenheits-Interpretationen, Momentaufnahmen aus dem Blick-winkel einer das kulturelle Gedächtnis dominierenden Gruppe, die sich von einer pla-
kativen, dauerhaften Besetzung des öffentlichen Raums Ausdruck und Sicherung ihrer führenden Rolle, Werte und Normen innerhalb der Gesellschaft verspricht. (ebd.)
Aus diesen Gründen darf auch eine Untersuchung des erst 2014 errichteten Denkmals für
Gavrilo Princip im überwiegend serbisch bewohnten Istočno Sarajevo in dieser Arbeit nicht
fehlen. Eine solche Untersuchung kann tiefe Einblicke in die aktuelle Erinnerungskultur der
Gemeinschaft der bosnischen SerbInnen gewähren und über gegenwärtige Identitäts-,
Werte- und Normkonzepte Aufschluss geben.
Durch die Beständigkeit des Steins erhoffen sich Denkmalstifter Beständigkeit ihrer
Ideen und Werte. (vgl. Knappitsch; Zifko 2007) Dazu kommt, dass Denkmäler keinen In-
terpretationsspielraum zulassen. Sie stellen das vergangene Ereignis oder die abgebildete
Person in nur einer möglichen Lesart dar. Mit der Denkmalsetzung wird eine verbindliche
Sichtweise, ein „Interpretationsmonopol der Geschichte“ (Bruchhausen 1999: 176) ange-
strebt. Damit stehen Denkmäler aber in Kontrast zum sich ständig in Wandel befindenden
kollektiven Gedächtnis. (vgl. Knappitsch; Zifko 2007) Somit ist nicht nur das Errichten von
51
Denkmälern für eine soziale Gruppe identitätsrelevant, sondern auch deren Umgestaltung,
Verwahrlosung oder Zerstörung nach einem Perspektivenwechsel. Daneben sind auch Ge-
brauch und Verankerung der Denkmäler im kulturellen Leben einer sozialen Gruppe von
großer Bedeutung. Riten, die an historischen Gedenktagen und Jubiläen an einem Denkmal
vollzogen werden, wie Kranzniederlegungen, Schweigeminuten und Reden tragen dazu bei,
Denkmäler immer wieder aufs Neue aus ihrem „Dornröschenschlaf des Vergessens“ heraus-
zuholen (Assmann, A. 2016: 73) und sie nicht zur „Kulisse“ werden zu lassen. Auch wenn es
sich dabei nur um punktuelle Erinnerungsakte handelt, verweisen sie dennoch auf eine Ver-
ankerung des Denkmals im kulturellen Gedächtnis einer sozialen Gruppe. (ebd. 74) Der As-
pekt der Verankerung des Denkmals für Gavrilo Princip im kulturellen Gedächtnis soll in
diesem Kapitel ebenfalls untersucht werden.
Einen Tag vor dem 100. Jubiläum des Attentats von Sarajevo, am 27.06.2014, wurde
in Istočno Sarajevo im Rahmen der Vidovdan-Feierlichkeiten im Beisein des damaligen ser-
bischen Mitglieds des Staatspräsidiums Nebojša Radmanović, des Präsidenten der Republika
Srpska Milorad Dodik und dem Bürgermeister von Istočno Sarajevo Ljubiša Ćosić ein
Denkmal für Gavrilo Princip enthüllt. Vor der Denkmalsetzung fand kein nennenswerter
medialer Diskurs, der über das geplante Denkmal informierte, statt. Auch im Nachhinein
informierte man lediglich über die bereits erfolgte Errichtung des Denkmals; ein gehaltvol-
ler Diskurs wurde nicht geführt. Alle untersuchten Online-Artikel, die über die Einweihung
des Denkmals berichten, unterscheiden sich kaum in Aufbau und Inhalt. Die Artikel setzen
sich überwiegend aus einer bloßen Aneinanderreihung von Ausschnitten aus den Reden
und Stellungnahmen der Politiker anlässlich der Einweihung des Denkmals zusammen,
ohne diese wirklich zu kommentieren. Die einen tun das, um die von den Rednern geäu-
ßerten Botschaften zu verbreiten (vgl. D1, D4),30 die anderen, um sich vom darin geäußer-
ten serbischen Nationalismus abzugrenzen (vgl. D2, D3, D5, D6, D7).
In den Reden zur Enthüllung des Denkmals stechen vor allem drei Aspekte hervor:
die Betonung der herausragenden Taten Gavrilo Princips (Kampf gegen die Fremdherr-
schaft für Freiheit); darauf basierend die Erhebung Princips zur Heldenfigur mit Vorbild-
und Inspirationsfunktion für das serbische Volk sowie die Dämonisierung der Anderen und
durch die dadurch geschaffene Abgrenzung Definierung des eigenen Selbstbildes.
30 Für Verweise auf die untersuchten Online-Artikel über das Denkmal von Gavrilo Princip in Istočno Sara-jevo wird hier und in der Folge die Sigle D mit fortlaufender Nummerierung verwendet. Die Quellenangaben zu den jeweiligen Siglen finden sich im Siglenverzeichnis.
52
„Der Schuss Gavrilo Princips war ein Schuss für die Freiheit“,31 so das damalige Mit-
glied des Staatspräsidiums Nejboša Radmanović in seiner Rede zur Denkmalseinweihung.
Weiters spricht Radmanović davon, dass Princip den Okkupator Franz Ferdinand ermor-
dete, um „seinem Volk“32 und allen, die mit ihm leben wollten, die Freiheit zu sichern. Prin-
cip wird in der Rede als jemand (bzw. als Serbe) dargestellt, der primär für die Freiheit und
Vereinigung der SerbInnen kämpfte. Alle anderen Völker waren zwar willkommen, aber
nicht das vorrangige Anliegen des Attentats. Die im Theorieteil erarbeiteten Funktionen
von HeldInnen innerhalb des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft sind hier klar er-
kennbar. Die historische Persönlichkeit Gavrilo Princip wird den Anliegen der serbisch-
nationalistischen Elite entsprechend angepasst: Die Tatsache, dass sich Princip und die ge-
samte Anhängerschaft der Mlada Bosna-Organisation als SerbokroatInnen deklarierten und
für die Vereinigung aller SüdslawInnen in einem jugoslawischen Staat einstanden, wird aus-
geblendet und ihre eigentliche Intention hinter dem Attentat bewusst verzerrt.
Der Bürgermeister von Istočno Sarajevo, der ein paar Tage vor der Enthüllung des
Denkmals noch am zur Versöhnung aufrufenden Radrennen teilnahm, welches im Zuge der
Gedenkfeierlichkeiten rund um das Zentenarium des Attentats von der Stiftung „Sarajevo –
Heart of Europe“ organisiert wurde, lobte in seiner Stellungnahme nun vor zahlreichen
JournalistInnen Gavrilo Princips heroische Taten und die heroische Vergangenheit der Ser-
bInnen. (vgl. Sajn 2018: 10) Mit diesen beiden Akten sendete Ćosić zwei völlig widersprüch-
liche Botschaften: Einerseits ruft er zur Versöhnung zwischen den ethnischen Gruppen Bos-
nien-Herzegowinas auf, andererseits bedient er sich bei der Einweihung der Princip-Statue
des serbisch-nationalistischen Narrativs und trägt somit zur weiteren Verfestigung der eth-
nischen Spannungen bei. Ćosić betonte weiters, dass das Denkmal „eine Verbindung von
Vergangenheit und Zukunft ist, einer Vergangenheit, auf die wir stolz sind und einer Zu-
kunft, die unsere Kinder hier in diesem Park aufbauen werden.“33 Auch Radmanović ver-
wies in seiner Rede auf die heldenhaften Taten Gavrilo Princips, an die sich die SerbInnen
mit großem Stolz erinnern und die bereits seit einem Jahrhundert inspirieren und mit Si-
cherheit auch zukünftige Handlungen inspirieren werden. (vgl. D4, D7) Die von den Politi-
kern gewählten Worte zeigen, dass Denkmäler nicht nur Dank und Erinnerung an histori-
sche Persönlichkeiten, die etwas Bedeutendes für die ZeitgenossInnen und Nachkommen
31 „Pucanj Gavrila Principa bio je pucanj za slobodu.“ (D4) 32 „svom narodu“ (D5) 33 „Princip je danas u Istočnom Novom Sarajevu spoj prošlosti i budućnosti, prošlosti na koju smo ponosni i buduć-nosti koju će graditi djeca ovdje u ovom parku.“ (D3)
53
geleistet haben, verkörpern, sondern dass sie auch zur Nachahmung ruhmreicher Taten an-
regen sollen. (vgl. Bruchhausen 1999: 177) Princips heldenhafte Leistungen, für die er res-
pektiert und bewundert wird, machen ihn zum Vor- und Leitbild der serbischen Gemein-
schaft und sollen also künftigen Handlungen als Inspiration dienen. Wenn Princip in die
Tradition des serbischen Freiheitskampfes gestellt wird und als Vorbild und Inspiration die-
nen soll, bedeutet das, dass sich auch zukünftige Generationen für die Freiheit der SerbInnen
einsetzen sollten. Dies ist insofern problematisch, als in diesem Kontext die auch schon zu-
vor mehrmals geforderte Abspaltung der Republika Srpska vom bosnisch-herzegowini-
schen Staat gemeint ist. Dass dieses Vorhaben ohne weitere Konflikte und Auseinanderset-
zungen gelingen würde, ist höchst unwahrscheinlich.
In der serbisch-nationalistischen Auslegung des Attentats verkörpert Gavrilo Princip
die Werte und Ideale der serbischen Nation – nämlich den mutigen Kampf für Freiheit und
Vereinigung aller SerbInnen. Die Heldenfigur hilft, das abstrakte Konstrukt der Nation
greifbar zu machen und erleichtert dadurch die Identifikation mit ihr. Princip wird in die
Reihen der HeldInnen, die seit Jahrhunderten für die Freiheit der SerbInnen kämpfen, auf-
genommen und in das gängige Motiv des Opfer-Narrativs eingearbeitet, wenn Radmanović
erklärt, dass „Gavrilo Princip, Mlada Bosna und wir [die SerbInnen – J.E.] Kämpfer für die
Freiheit sind und das auch immer sein werden.“34 Die Politiker verweisen in ihren Reden
auf die für das serbische Narrativ als besonders wichtig geltenden historischen Ereignisse
des Freiheitskampfes. Er beginnt mit der Schlacht auf dem Amselfeld und reicht über die
Befreiung von der osmanischen, später der habsburgischen, dann der faschistischen und zu-
letzt der jugoslawischen Herrschaft bis in die Gegenwart zu einem Land, das sie mit Völkern
teilen, mit denen sie es nicht teilen wollen. Warum aber bringt die serbisch-nationalistische
Elite vergangene und aktuelle Ereignisse, einschließlich derer, die in keinerlei Beziehung
zum Kosovo stehen, mit der Schlacht auf dem Amselfeld in Verbindung? Geht man von der
Behauptung Ivan Čolovićs aus, so gebührt der Schlacht auf dem Amselfeld ein besonderer
Platz im kulturellen Erbe der SerbInnen: „Die schiere Erwähnung dieser Schlacht hat sich in
der politischen Kommunikation“, so Čolović (2011: 62), „als Zeichen dafür etabliert, dass
der Diskurs an einen Punkt gelangt ist, an dem Meinungsverschiedenheiten aufhören,
Zweifel und Scherz als ungebührlich und unangemessen gelten.“ Čolović gibt aber noch eine
weitere mögliche Begründung: Einstige und jetzige Geschehnisse werden als Fortsetzung
der Tradition des Freiheitskampfes der SerbInnen gedeutet, da die Menschen schlichtweg
34 „Gavrilo Princip, Mlada Bosna i mi jesmo borci za slobodu i to ćemo uvijek i biti.“ (D6: 0:23–0:30)
54
gewöhnt sind, ihr Gefühl nationaler Zugehörigkeit mit dem Kosovo-Mythos zu verbinden.
(vgl. Čolović 2011: 62) Mit anderen Worten, man versucht also, das serbische Volk durch
die bloße Erwähnung des Kosovo-Mythos auf das Hervorrufen nationaler Gefühle zu kon-
ditionieren.
Anhand der in der Online-Berichterstattung zitierten Reden zur Enthüllung des
Denkmals geht auch hervor, wie die serbische Elite durch Dämonisierung der Anderen ver-
sucht, ein Feindbild der beiden anderen konstitutiven Völker Bosniens zu erzeugen bzw.
aufrechtzuerhalten. Feindbilder nehmen vor allem bei der Konstruktion von Nationen eine
wichtige Stellung ein, da diese stets durch Selbst- und Fremdzuschreibungen definiert wer-
den. Da in Bosnien drei Nationen versuchen, sich gegeneinander zu behaupten, stellt auch
die Konstruktion von Feindbildern ein wichtiges Instrument, dessen sich die nationalisti-
schen Eliten zur Identitätsbildung bedienen, dar. Durch Zuschreibung negativer Eigenschaf-
ten auf eine andere Gruppe und Abgrenzung von dieser, definiert die Gemeinschaft ihre
eigene, mit positiven Eigenschaften besetzte Identität. Diese Dämonisierung erlebt insbe-
sondere in Krisen- und Umbruchsituationen, wenn die eigene kollektive Identität in Frage
gestellt wird, Konjunktur. In den Reden zur Denkmaleinweihung wurde vor allem an den
Gedenkveranstaltungen anlässlich des Zentenariums in Sarajevo Kritik geübt. Diese würden
unter Ausschluss der SerbInnen stattfinden und nicht dem Gedenken an Gavrilo Princip
gewidmet sein. (vgl. D7, D6: 0:34–0:42) Kritik an den Gedenkveranstaltungen in Sarajevo
ist, wie in Kapitel 5.2.1 bereits erläutert, gerechtfertigt. An dieser Stelle muss jedoch präzi-
siert werden, dass die Äußerung Radmanovićs allerdings die Tatsache ausblendet, dass die
serbische Regierung nicht von den Feierlichkeiten ausgeschlossen wurde, sondern zum
Boykott dieser aufgerufen hat. Des Weiteren erinnert Radmanović in seiner Rede an das
Jahr 1941, als NS-Truppen die Gedenktafel Gavrilo Princips entfernten und anschließend
dem Führer überreichten. All jene, die Princip nicht als Helden feiern, stellt Radmanović als
Nachkommen der NationalsozialistInnen dar, wenn er behauptet, dass „diejenigen, die die
Gedenktafel Gavrilo Princips dem größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts und der Zivili-
sation überhaupt [Adolf Hitler – J.E.] überbrachten, heute noch ihre Nachkommen hier ha-
ben und in diesen Tagen aufs Neue versuchten die Erinnerung an ‚Mlada Bosna‘ und Gavrilo
Princip zu schänden […].“35 Seine Behauptung, dass Gavrilo Princip aus der Erinnerung der
Anderen gestrichen wurde, begründet er mit der Tatsache, dass die Gedenktafel für Gavrilo
35 „Тi kојi su оdniјеli plоču Gаvrilа Principа nајvеćеm zlоčincu 20. viјеkа i civilizаciје uоpćе, dаnаs imајu оvdје pоtоmkе i pоnоvо su оvih dаnа pоkušаli dа оskrnаvе sјеćаnjе nа ‚Мlаdu Bоsnu‘ i Principа […].“ (D7)
55
Princip entfernt wurde, dass heute keine Straße in Sarajevo mehr den Namen eines Mit-
glieds der Mlada Bosna trägt und dass das ‚Muzej Mlade Bosne‘ in ‚Muzej Sarajeva 1878–1918‘
umbenannt wurde und sich heute der Stadt Sarajevo während der habsburgischen Periode
widmet. (vgl. D7, D6: 0:34–0:59) Es ist unklar, auf welche Gedenktafel sich Radmanović nun
tatsächlich bezieht: auf jene, die während der Einnahme Sarajevos durch deutsche Truppen,
oder auf jene, die während der Belagerung Sarajevos entfernt wurde.
Die allgemeine Beobachtung Čolovićs (2011: 94), dass sich der Kampf der 1990er
Jahre um die ethnischen Grenzen von der militärischen auf die kulturelle Ebene verlagert
hat, kann auch an diesem spezifischen Fall abgelesen werden. In Bosnien fallen die Anstren-
gungen der KonstrukteurInnen kultureller „Andersartigkeit“ (Čolović 2011: 74) besonders
groß aus, da es kaum Unterschiede gibt. Milorad Dodik sieht die serbische Identität bedroht,
da die Anderen versuchen, alles, was zur serbischen Geschichte zählt, und alles, was sie
glaubten, gemeinsame Geschichte zu sein, zu zerstören. Deshalb muss die serbische Identität
auch verteidigt werden. Und dies geschieht u.a. mit Hilfe der Errichtung eines Denkmals für
Gavrilo Princip, das ihren Stolz auf die Geschichte und ihre Identität demonstriert. (vgl. D2)
Die serbische Machtelite bedient sich aber ebenfalls des Mittels der Reinigung unerwünsch-
ter kultureller Einflüsse, das Dodik in seiner Rede den anderen Völkern zum Vorwurf
macht, wenn er die Unterschiede zwischen „sich“ und „ihnen“ betont und davon spricht, dass
es nie eine Gemeinschaft mit den Anderen gab. (vgl. D6: 2:55–3:06) Eine solche Aussage
blendet jedoch die Tatsache aus, dass der Balkan immer schon ein stark heterogenes Gebiet,
geprägt durch wechselnde Imperien (Rom, Byzanz, osmanisches Reich, Habsburgermonar-
chie) und gegenseitigen Einfluss und Verschmelzung, war. Holm Sundhaussen (2008) macht
außerdem darauf aufmerksam, dass in der SFRJ – eine Zeit, die viele noch miterlebt haben
und auch noch gut in Erinnerung geblieben sein sollte – „die transnationalen Beziehungen
[…] bis in die 1980er Jahre hinein nicht konfliktreicher als in anderen Vielvölkerstaaten
[waren].“ Auch die interethnischen Beziehungen wurden von einem Großteil der jugosla-
wischen Bevölkerung noch bis zum Ende der 1980er Jahre, wenn nicht als gut, sodann zu-
mindest als befriedigend beurteilt. (ebd.) Die Aussage, dass es nie eine Gemeinschaft mit den
Anderen gab und demnach auch in Zukunft nicht geben kann, ist somit nicht haltbar.
Hier wird auch die von Ivan Čolović (2011: 21) hervorgehobene Problematik erkenn-
bar, dass nicht mehr bloß ein Diskurs über Unterschiede zwischen den Kulturen geführt
wird, sondern dass sich dieser mittlerweile zu einem Diskurs über Qualitäts- und Werteun-
terschiede entwickelt hat. Der Unterschied zwischen der eigenen und der fremden Kultur
56
wird zum Unterschied zwischen einer vermeintlich guten, entwickelten, einzig wahren Kul-
tur und einer vermeintlich schlechten, primitiven, zurückgebliebenen Kultur. In einer sol-
chen Konstellation hat die eigene Kultur nicht nur die Aufgabe, die eigene Identität zu be-
wahren und gegebenenfalls zu verteidigen, sondern sie übernimmt auch eine aufklärerische,
erzieherische Aufgabe gegenüber den anderen Kulturen. (vgl. Čolović 2011: 21)
Die Tatsache, dass in den Reden nie explizit erwähnt wird, wer genau diese Anderen
sind, lässt viel Interpretationsspielraum. Somit können sich die Fremdzuschreibungen so-
wohl auf die beiden anderen konstitutiven Völker Bosnien-Herzegowinas, aber auch gene-
rell auf alle Nicht-SerbInnen beziehen. Das lässt die Möglichkeit offen, entsprechende In-
terpretationen nach Belieben und aktuellem Bedürfnis anpassen zu können.
Über den Bildhauer des Gavrilo-Prin-
cip-Denkmals Zoran Kuzmanović und sei-
nen Entwurf wurde – zumindest in den On-
line-Medien – weder im Vorfeld noch direkt
nach der Errichtung berichtet. Erst ein Jahr
später, als die Republika Srpska Serbien ein
identisches Denkmal als Symbol ihrer ge-
meinsamen Geschichte und Zukunft zum
Geschenk machte, rückte das erste Mal die
Ästhetik des Denkmals in den Aufmerksam-
keitsstrahl der Medien. (vgl. D1) Kuzmano-
vić zufolge stellt die zwei Meter hohe Bron-
zestatue (siehe Abb. 1) Gavrilo Princip kurz
vor dem Attentat auf den Thronfolger dar.
Vor allem, so Kuzmanović (ebd.), wollte er
das psychologische Moment, das Drama, das
sich in Gavrilos Kopf vor dem Attentat ab-
spielen musste, herausarbeiten. Gavrilo Princip soll zwar auf den ersten Blick ruhig wirken,
bei genauerer Betrachtung erkenne man aber anhand der geballten Fäuste, der leicht ange-
hobenen Schultern und des festen Standes eine gewisse Anspannung. Kuzmanović wählte
seinen eigenen Aussagen zufolge Kleidung und Schuhwerk mit großer Sorgfalt, um Princip
authentisch darzustellen: Der Mantel, in dem er nicht nur zur Schule ging und das Attentat
verübte, sondern auch seine Gefangenschaft vor der Gerichtsverhandlung verbrachte, ist
Abbildung 1: Princip-Denkmal in Istočno Sarajevo
57
zerlumpt, die Schuhe sind ohne Schnürsenkel. (vgl. D1) Darüber hinaus betont der Bild-
hauer, dass es wichtig sei, die Wahrheit über Gavrilo Princip zu bewahren. Diese Aufgabe
liege in den Händen der PolitikerInnen und HistorikerInnen, die mit der Errichtung des
Denkmals einen ersten Schritt in die richtige Richtung taten. (ebd.) Dass der Bildhauer an-
dererseits jedoch von Princip als einem Atheisten, der für die jugoslawische Idee brannte,
spricht – eine Sichtweise, die nicht mit jener der Denkmalinitiatoren übereinstimmt –
scheint niemanden zu stören und wird auch im Artikel nicht thematisiert. Auf den ersten
Blick mag es also vielleicht den Anschein erwecken, als sehe Kuzmanović Gavrilo Princip
nicht mit den Augen des serbisch-nationalistischen Narrativs. Dass dieser Schein jedoch
trügt, zeigt sich spätestens in seinen Werken der darauffolgenden Jahre: In seiner Gießerei
fertigte Kuzmanović eine 8m hohe Statue des Fürsten Lazars für die Stadt Mitrovica im Ko-
sovo36 an und entwarf ein weiteres Denkmal für die Retortenstadt Andrićgrad.37 Dabei han-
delt es sich um Projekte, deren ideologische Wurzeln tief im serbisch-nationalistischen Nar-
rativ verankert sind.
Die Statue Gavrilos steht auf einem Sockel aus schwarzem Granit. Auf der Vorderseite
stehen in kyrillischer Schrift sein Name und eine Passage aus einem Gedicht (siehe Abb. 2),
das Princip angeblich in Gefangenschaft verfasst und in ein Stück Blech geritzt haben soll,
eingraviert (vgl. Dedijer 1966: 547):
Aber Žerajić der graue Falke hat es zuvor schon richtig gesagt:
„Wer leben will, muss sterben, wer sterben will, muss leben!“38
36 Siehe dazu: http://www.rts.rs/page/stories/sr/story/57/srbija-danas/2367450/spomenik-knezu-lazaru-iz-liven-u-smederevu.html [28.10.18]. 37 Siehe dazu: http://www.podunavlje.info/dir/2018/06/22/sokolovici-u-ponedeljak-putuju-iz-smedereva-u-andricgrad/ [28.10.18]. 38 „Ал’ право је рекао пре Жерајић соко сиви: ‚Ко хоће да живи нек мре, Ко хоће да мре нек живи!‘“ (Dedijer 1966: 547).
58
Bogdan Žerajić, den Princip in seinem Gedicht erwähnt, war ebenfalls Mitglied der Mlada
Bosna und verübte den ersten Anschlag der Organisation auf die politische Elite der Habs-
burgermonarchie. Im Jahr 1910 feuerte der serbische Student fünf Schüsse auf den österrei-
chischen Gouverneur Bosniens ab. Da alle fünf Kugeln ihr Ziel verfehlten, verübte Žerajić
mit der letzten Kugel Selbstmord. Žerajićs Grab am Friedhof von Sarajevo wurde schon bald
zur Kultstätte der Mlada Bosna-Anhänger. (vgl. Clark 20134: 71) Princips Faszination für
Žerajić und damit auch für die Figur des Selbstmordattentäters geht sowohl aus seinen Aus-
sagen vor Gericht als auch aus dem von ihm während seiner Gefangenschaft verfassten Ge-
dicht hervor. Der in den Sockel des Denkmals für Princip eingravierte Vers kann als weite-
rer Aufruf zur Nachahmung der Taten Princips verstanden werden, der sich lautlos in die
Aussagen der politischen Elite zur Denkmalseinweihung einfügt.
Das Princip gewidmete Denkmal steht im nach ihm benannten Stadtpark (gradski park
„Gavrilo Princip“) von Istočno Sarajevo. Um vom Zentrum Sarajevos das Denkmal zu errei-
chen, überquert man die „Grenze“ zwischen den beiden Entitäten Bosnien-Herzegowinas.
Obwohl die Grenze als solche nicht gekennzeichnet ist, ist sie auf anderer Ebene dennoch
erkennbar bzw. „spürbar“: Ein und dieselbe Straße wechselt beim Überqueren den Namen,
öffentliche Verkehrsmittel überqueren die Grenze nicht, was eine Anreise ohne Auto er-
schwert.
Die Bezeichnung „Stadtpark“ mag vielleicht etwas in die Irre führen, da damit für ge-
wöhnlich weitläufige Grünflächen mit altem Baumbestand und einem hohen Anteil an Ve-
getation assoziiert werden, die zum Spazierengehen, Verweilen, Picknicken oder sportlicher
Abbildung 2: Inschrift auf Sockel des Denkmals für Gavrilo Princip
59
Betätigung einladen. Die Fläche des Stadtparks von Istočno Sarajevo ist jedoch recht über-
schaubar und an drei Seiten von neu gebauten Wohnblöcken umgeben. Schattenspendende
Bäume sucht man noch vergebens, da der Park erst vor einigen wenigen Jahren neu angelegt
wurde. Neben der Bronzestatue Gavrilo Princips beherbergt der Park einen Brunnen, einen
Spielplatz, mehrere Parkbänke und ein Amphitheater. Dem Denkmal schenkte während der
im Zuge des Forschungsaufenthaltes unternommenen Besichtigung keine/r der Parkbesu-
cherInnen besondere Aufmerksamkeit; wohl aber der offensichtlichen Touristin, die ihre
Kamera auf Gavrilo Princip und seine Umgebung richtete. Anders als am Schauplatz des
Attentats, der sich in einem urbanen Umfeld befindet und ein beliebtes Ziel von Reisegrup-
pen ist, steht Princips Statue inmitten eines Wohngebiets (siehe Abb. 3), in welches sich
TouristInnen offenbar nur äußerst selten verirren, was in einem beinahe das Gefühl eines
Eindringlings weckt. (vgl. Gedankenprotokoll)
Abbildung 3: Umgebung des Denkmals
Die Statue steht in neutraler Pose, Princips Blick ist in die Ferne gerichtet. Er hebt
weder drohend die Faust noch schaut er mit finsterem Blick oder zeigt eine andere wütende
Geste. Dass Princip unter Spannung stehen sollte, wie der Bildhauer der Statue behauptet,
lässt sich, wenn überhaupt, dann nur anhand seiner leicht angespannten Hände erahnen.
(siehe Abb. 4)
60
Das Denkmal für Gavrilo Princip erfuhr bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein „update“ –
also keinerlei Art der Umgestaltung oder des Vandalismus. Daraus lässt sich die Schlussfol-
gerung ziehen, dass der Erinnerungskontext, der während der Errichtung des Denkmals in
Bezug auf das Attentat und Gavrilo Princip galt, auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch
Gültigkeit hat. Die Erinnerung an und die Interpretation der Figur Gavrilo Princip, die
durch die Denkmalsetzung in Bronze gegossen wurde, ist also auch einige Jahre später noch
aktuell und wird als Teil des kulturellen Gedächtnisses befürwortet oder zumindest akzep-
tiert.
Bekräftigt wird diese Schlussfolgerung durch die Tatsache, dass das Denkmal regel-
mäßig an historischen Gedenktagen genutzt und aus seinem „Dornröschenschlaf des Ver-
gessens“ (Assmann, A. 2016: 73) geweckt wird. In den Jahren 2017, 2018 und 2019 fanden
rund um das Jubiläum des Attentats von Sarajevo die Principovi dani (‚Princip-Tage‘)39 statt,
im Zuge derer verschiedenste Musik-, Freizeit- und Sportveranstaltungen stattfanden. Aus-
tragungsort war größtenteils der Gavrilo-Princip-Stadtpark. An den Jahrestagen des Atten-
tats wurden außerdem im Rahmen der Principovi dani im Gedenken an Gavrilo und seine
Tat von offizieller Seite Blumenkränze an seinem Denkmal niedergelegt.40
Anhand des Denkmals für Gavrilo Princip kann exemplarisch Geert Hofstedes (20094:
8) Modell der Kulturzwiebel veranschaulicht werden: Das Denkmal als kulturelles Symbol
erinnert an den zum Helden gewordenen Gavrilo Princip. Dieser verkörpert den vom ser-
39 Siehe dazu: https://www.princip.news/vijesti/istocno-sarajevo/u-istocnom-novom-sarajevu-poceli-quot-principovi-
dani-quot- [30.10.18] https://www.princip.news/vijesti/istocno-sarajevo/principovi-dani-u-istocnom-sarajevu [30.10.18] https://www.princip.news/vijesti/istocno-sarajevo/-principovi-dani-u-istocnom-novom-sarajevu-od-22-do-30-juna [30.10.18] 40 Siehe dazu: https://www.youtube.com/watch?v=DGqSF3wWDz4 [29.10.18]
Abbildung 4: Nahaufnahme der Hände des Gavrilo-Princip-Denkmals
61
bisch-nationalistischen Narrativ hochgehaltenen Wert des Freiheitskampfes. Kranznieder-
legungen und Reden an Gedenktagen können den Praktiken zugerechnet werden, die die
vom Denkmal gesendete Botschaft wachhalten und immer wieder aufs Neue affirmieren.
Ohne jeden Zweifel kann festgestellt werden, dass die von den serbischen Politikern
gesendeten Botschaften zur Enthüllung des Denkmals eindeutig nicht auf eine Versöhnung
zwischen den einzelnen Nationen innerhalb Bosniens abzielten, sondern im Gegenteil, die
ethnischen Grenzen noch verstärkten. Jedoch ließen nicht nur die Reden, sondern bereits
der bloße Akt des Errichtens eines Denkmals für eine Persönlichkeit, deren historische Dar-
stellung innerhalb Bosniens derart unterschiedlich und kontrovers ausfällt, die Hoffnung
auf eine mögliche Annäherung stark sinken. Auch das Zentenarium des Attentats brachte
keine dialogische Aufarbeitung des Ereignisses zwischen den einzelnen Erinnerungsgrup-
pen und ehemaligen KriegsgegnerInnen.
Die im Theorieteil beschriebene Thematik der Gedächtnisforschung kann anhand der
Errichtung der Gavrilo-Princip-Statue paradigmatisch abgelesen werden. Princip erhielt
durch die Errichtung eines ihm gewidmeten Denkmals und dessen öffentlicher Präsenz ei-
nen Platz im Erinnerungskanon der bosnischen SerbInnen und wurde zu einer positiven
Identifikationsfigur gemacht. Die Erinnerung an Gavrilo Princip wird den aktuellen Bedürf-
nissen und Wünschen, zumindest der serbischen Machthabenden, angepasst. Princip wird,
obwohl er eigentlich für einen jugoslawischen Staat einstand, zum Freiheitskämpfer der ser-
bischen Nation uminterpretiert und so in den serbisch-nationalistischen Erinnerungsdiskurs
eingearbeitet. Darin spiegelt sich ganz klar der Wunsch nach Abspaltung der Republika
Srpska vom bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat wider. Dieser Wunsch wird auf den
zur Heldenfigur hochstilisierten Princip projiziert. Er wird zum Repräsentanten der (bosni-
schen) SerbInnen gemacht; die Werte und Eigenschaften, die er eigentlich nicht verkörpert,
ihm aber vom serbisch-nationalistischen Erinnerungsdiskurs attribuiert werden, werden als
Essenz der kollektiven Identität wahrgenommen. Dass die vom Denkmal ausgehende Bot-
schaft von seinem Umfeld akzeptiert wird, zeigt sich anhand der bisherigen Unversehrtheit
des Denkmals: Spuren von Vandalismus am Denkmal wären ein Hinweis darauf, dass zu-
mindest ein Teil seiner Umgebung nicht mit dem konstruierten serbisch-nationalistischen
Erinnerungsbild einverstanden ist. Die Tatsache allerdings, dass das Denkmal bisher keine
„Aktualisierung“ erfahren hat, verweist darauf, dass Princip von seiner Umwelt als Reprä-
sentant des serbischen Freiheitskampfes, der sich heute in den Bestrebungen nach Unab-
hängigkeit vom bosnisch-herzegowinischen Staat äußert, wenn nicht befürwortet, sodann
zumindest akzeptiert wird.
62
7.1.3. Aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des Schauplat-
zes
„[W]as die Zeit unsichtbar macht, indem sie raubt und zerstört, halten die Orte immer noch
auf geheimnisvolle Weise fest. Aus der Chronologie wird eine Topographie der Geschichte,
die man durch Rundgänge abschreitet, die man Stück für Stück vor Ort entziffern kann.“
(Assmann, A. 1999: 311) Mit diesen Worten beschreibt Aleida Assmann in ihrem Band Er-
innerungsräume die spezifische Gedächtniskraft von Orten. Gerade beim Schauplatz des At-
tentats von Sarajevo, der im Laufe der vergangenen über 100 Jahre vielen erinnerungssym-
bolischen Veränderungen unterzogen wurde und bis heute ein Ort der Kontroverse bleibt,
drängt sich geradezu eine Untersuchung vor Ort auf. Wie bereits ausführlich im Kapitel zur
100-jährigen Erinnerungsgeschichte behandelt, fanden das Attentat von Sarajevo und seine
ProtagonistInnen bereits in zahlreichen steinernen Markierungen Niedergang: im Sühne-
denkmal für das ermordete Thronfolgerehepaar, in den verschiedensten Gedenktafeln so-
wie in Gavrilos Fußabdrücken.
„Je leerer der Ort von gegenwärtigem Leben, desto lesbarer die in ihm eingegrabenen
Spuren der Vergangenheit.“ (Assmann, A. 1999: 312) Eine ungestörte Spurensuche, wie sie
Aleida Assmann empfiehlt, ist am Ort des Attentats von Sarajevo jedoch fast unmöglich.
Durch den Schauplatz führt eine stark befahrene Straße; um alle Zeichen der Vergangenheit
abzugehen, muss eine Ampel überquert werden; Reisegruppen drängen sich aneinander
vorbei; das Erkunden des historischen Ortes gleicht beinahe einem Spießrutenlauf. Vergeb-
lich ist der Versuch, einen ruhigen, den gesamten Schauplatz umfassenden Blick zu erha-
schen, der es erlaubt, den Erinnerungsort auf sich wirken zu lassen; nur etappenweise er-
schließt er sich der/dem BesucherIn.
Die aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes ist überwiegend
neutral, beinahe schon unspektakulär. Die Schaufenster des Museums ‚Sarajevo 1878–1918‘,
welches in jenem Haus, vor dem Princip seine Schüsse abfeuerte, eingerichtet wurde, zeigen
Fotos vom Besuch Franz Ferdinands und Sophies, der Gerichtsverhandlung der Attentäter
und der feierlichen Einweihung des Sühnedenkmals. An der Fassade des Museums ist an
relativ niedriger Stelle eine Gedenktafel montiert, die folgenden zweisprachigen Text trägt:
Sa ovog mjesta 28. juna 1914. godine Gavrilo Princip je izvršio atentat na austrougarskog prestolonasljednika Franca Ferdinanda i njegovo suprugu Sofiju.
From this place on 28 June 1914 Gavrilo Princip assassinated the heir to the Austro-Hungarian throne Franz Ferdinand and his wife Sofia. (siehe Abb. 5)
63
Diese im Jahr 2004 neu errichtete Gedenkplatte am Ort des Attentats widmet sich, im Ge-
gensatz zu den vorhergehenden Gedenktafeln, ausschließlich den historischen Fakten des
Ereignisses. Das erste Mal seit der Entfernung des in der Doppelmonarchie errichteten Süh-
nedenkmals werden auch die Opfer Franz Ferdinand und Sophie wieder beim Namen ge-
nannt.
Tea Sindbæk Andersen (2016: 47) wendet jedoch ein, dass die neue Gedenktafel keine
völlig neutrale Botschaft vermittelt. Die englische Übersetzung der Inschrift, so Sindbæk
Andersen (ebd.), kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Platte im Grunde nicht
vorrangig für die lokale Bevölkerung, sondern vielmehr für TouristInnen errichtet wurde.
Mit dieser Behauptung spielt Sindbæk Andersen indirekt auf das Phänomen des sogenann-
ten Dark Tourism41 an. Sarajevo als Ort, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach, vor allem
aber auch als Ort, der in den Kriegen der 1990er Jahre beinahe vier Jahre lang belagert
wurde, kann als sogenannte Dark Site bezeichnet werden, die aus eben diesen Gründen ge-
zielt von TouristInnen aufgesucht wird. Aber auch das Tourismusangebot der Stadt selbst
setzt gezielt auf Sarajevo als Dark Site. Robert Donia (2014: 74) sieht dies in Hinblick auf die
in dieser Arbeit behandelte Thematik ähnlich, wenn er sagt, dass Princips „Promistatus“ (‚ce-
lebrity status‘) gezielt sowohl bereits vom sozialistischen Jugoslawien als auch vom heutigen
41 Dark Tourism wird definiert als „tourism involving travel to places historically associated with death and
tragedy. [...] The main attraction to dark locations is their historical value rather than their associations with death and suffering. (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Dark_tourism [15.04.19]) Das Dark-Tourismus-angebot Sarajevos wurde von Karl Douglas Jacobs im Zuge seiner Masterarbeit untersucht. Siehe: Jacobs, Karl Douglas (2017): Tourist Performance and the Commodification of Space: Dark tourism in Sarajevo. Graz: Master-arbeit.
Abbildung 5: Aktuelle Gedenktafel, angebracht an der Fassade des Museums
64
Bosnien-Herzegowina genutzt wurde bzw. wird, um TouristInnen und ihr Geld ins Land
zu locken.
Touristisches Verhalten unterliegt, Ueli Gyr (1992: 224f.) zufolge, einer gewissen Ri-
tualisierung. Zu diesem ritualisierten Touristenverhalten gehört u.a. auch das Erfüllen eines
bestimmten Sightseeing-Pflichtprogramms. Schauplätze wichtiger historischer Ereignisse,
wie jener des Attentats von Sarajevo, gehören in der Regel zum üblichen Repertoire touris-
tischer Sehenswürdigkeiten. (ebd. 229) Da den TouristInnen meist eine „vertiefte Kommu-
nikation mit Menschen und Gruppen im Reiseland nicht möglich ist, reduziert sich der
Kontakt weitgehend auf den Austausch und Konsum von kulturellen Symbolen […].“ (ebd.
236) Zu diesen kulturellen Symbolen zählt Ueli Gyr (ebd.) neben Folklore, kulinarischen
Spezialitäten, Souvenirs und Attraktionen auch Sehenswürdigkeiten, zu denen auch der
Schauplatz des Attentats gezählt werden kann.
Für die Gendenkveranstaltungen anlässlich des Zentenariums des Attentats von Sara-
jevo wurde ein etwa zwei Meter hohes Glasdenkmal (siehe Abb. 6) am Kopf der Lateiner-
brücke, die sich an der Straßenkreuzung, an der die folgenreichen Schüsse fielen, befindet,
installiert: Eine Glasplatte zeigt eine Zeichnung des früheren Sühnedenkmals und wurde um
die folgende zweisprachige Erklärung ergänzt:
Na ovom mjestu je 28. juna 1917. godine otkriven spomenik žrtvama sarajevskog
atentata austrougarskom nasljedniku prijestolja, nadvojvodi Franji Ferdinandu i njegovoj supruzi, vojvotkinji Sofiju od Hoenberga. Spomenik je uklonjen u februaru
1919. godine. The monument to the victims of the Sarajevo assassination, archduke Franz Ferdinand,
heir to the austro-hungarian throne, and his wife Sophie duchess of Hohenberg, was unveiled here on 28 June 1917, and removed in February 1919.
Autor Spomenik – Eugen Bory Author of the monument – Eugen Bory (siehe Abb. 6)
65
Der Text ist in neutralem Ton verfasst und gibt lediglich die historischen Fakten wieder.
Das Glasdenkmal befindet sich an genau jenem Platz, an dem das Sühnedenkmal am dritten
Todestag des Thronfolgerehepaars am 28. Juni 1917 errichtet wurde. Das ursprüngliche
Denkmal wurde bereits 1919 im Zuge der Nationenbildung des ersten Jugoslawiens wieder
abgetragen. (vgl. Harrington 2014: 121) Das Sühnedenkmal war eine asymmetrische Kom-
position bestehend aus dem eigentlichen zwölf Meter hohen Monument und einer ihm ge-
genüber angebrachten steinernen Bank, die einen uneingeschränkten Blick auf das Denkmal
erlaubte. (ebd. 118) Im Gegensatz zum Sühnedenkmal, das der Ideologie des neu gegründe-
ten jugoslawischen Staates weichen musste, wurde die steinerne Bank nicht entfernt und
steht bis heute unversehrt an ihrem ursprünglichen Ort. (siehe Abb. 7)
Abbildung 6: Glasplatte mit Illustration des Sühnedenk-
mals von 1917.
66
Die Glasplatte wurde einige Monate, nachdem sie in einem Verkehrsunfall beschädigt
wurde, erneuert und erinnert bis zum heutigen Zeitpunkt an das Sühnedenkmal für Franz
Ferdinand und Sophie. (vgl. SP 1)
Anlässlich des 70. Geburtstages des am Schauplatz des Attentats angesiedelten Muse-
ums ‚Sarajevo 1878–1918‘, welches zuvor das ‚Mlada-Bosna-Museum‘ war, ist eine Wie-
dererrichtung des Sühnedenkmals sowie das Einlassen von Princips Fußabdrücken in den
Asphalt geplant. (vgl. SP2) Die Errichtung von Denkmal und Fußabdrücken soll bis zum 28.
Juni 2019 – dem 105. Jahrestag des Attentats von Sarajevo – abgeschlossen sein.42 Hinter
diesen Plänen steht, dem Museumskurator Mirsad Avdić zufolge, der Wunsch, Sarajevo
seine Denkmalskultur zurückzubringen. (ebd.) Neben der generellen Frage nach dem Für
und Wider von Denkmalsrekonstruktionen drängt sich im hier vorliegenden Kontext au-
ßerdem die Frage auf, ob die Wiederherstellung dieser beiden steinernen Erinnerungstrig-
ger „im Sinne einer historischen Dokumentation als museal-pädagogische Maßnahme“
(www-denkmalsrekonstruktion) steht oder ob die Stadt Sarajevo mit der Initiierung der Re-
konstruktion der Denkmäler eigentlich auf ihr touristisches Image als Dark Site aufbaut bzw.
versucht, die „Marke“ des Attentats von Sarajevo touristisch zu nutzen und deshalb alle ihr
zur Verfügung stehenden, sprichwörtlichen, Geschütze auffährt, um den historischen
Schauplatz des Attentats noch attraktiver für TouristInnen zu gestalten.
Die Untersuchung des Schauplatzes des Attentats von Sarajevo zeigt also, dass dessen
ikonologische Markierung, zumindest auf den ersten Blick, in überwiegend neutralem Ton
gehalten ist. Angesichts der zweisprachigen Texte an Glasdenkmal und Gedenktafel sowie
42 Bis zur Drucklegung der Arbeit (07.01.20) wurde jedoch die geplante Errichtung des Denkmals und die Einbettung der Fußabdrücke Princips noch nicht umgesetzt.
Abbildung 7: Steinerne Bank. Teil der Denkmalskomposition von 1917
67
der geplanten Wiederherstellung des gewaltigen Sühnedenkmals und Princips Fußabdrü-
cken, drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass der Stadt immer mehr daran liegt, das
touristische Potenzial des historischen Ereignisses des Attentats von Sarajevo noch intensi-
ver auszuschöpfen. Ungeachtet dessen, ob sich nun die Stadt für oder gegen eine Rekon-
struktion der beiden Denkmäler entscheidet, wird der Ort des Attentats für aufmerksame
und informierte BesucherInnen immer auf das „Retuschieren“ der Geschichte aufmerksam
machen: entweder durch die Abwesenheit der steinernen Zeugen, die im Zuge der Ge-
schichte „wegretuschiert“ wurden, oder durch die Wiederherstellung der Denkmäler, die
sodann wiederrum darauf hinweisen, dass sie einst bewusst aus dem Blickfeld entfernt wur-
den. Die DurchschnittstouristInnen allerdings, die versuchen, „die allzu komplizierte und
undurchschaubar gewordene Welt wenigstens im Urlaub über ganz einfache Strukturen,
Zeichen, Symbole und Symbolzusammenhänge zu erleben […]“ (Gyr 1992: 237), werden die
künstlich aufbereiteten Erinnerungssymbole mit Hilfe von stark vereinfachten und redu-
zierten Deutungsmustern schnell und ohne großen intellektuellen Aufwand verarbeiten, sie
bereits vorgeformten Vorstellungen zuordnen und womöglich nicht einmal bemerken, dass
es sich dabei eigentlich immer um touristisch aufbereitete Symbole handelt. (ebd. 229ff.)
Die erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes kann keinem der im The-
orieteil ermittelten Erinnerungsdiskurse zugeordnet werden. Der Fokus der symbolischen
Ausgestaltung des Erinnerungsortes liegt eindeutig auf der touristischen Nutzung bzw. der
geplanten erinnerungssymbolischen „Ausschlachtung“ durch die Wiedererrichtung des
früheren Sühnedenkmals und Princips Fußabdrücken sowie den ökonomischen Vorteilen,
die daraus gezogen werden können. Aus diesem Grund wird hier die Einführung eines wei-
teren Erinnerungsdiskurses – dem des touristisch-motivierten – vorgeschlagen. Dieser ist zwar
sehr wohl an Geschichte, nicht aber an Geschichtsaufklärung interessiert. Eine viel wichti-
gere Rolle spielt in diesem Narrativ das sensationalistische Moment, das Sarajevo als ge-
schichtsträchtigen Ort darstellt, an dem Weltgeschichte geschrieben wurde. Eine kritische
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schließt ein solcher Zugang jedoch aus.
68
7.1.4. Das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘
Als „Ort par exellence, in dem sich das Gedächtnis der Gesellschaft materialisiert“, bezeich-
nen Martin Roth und Gilbert Lupfer das Museum (Roth; Lupfer 2010: 171). Lange Zeit galt
das Museum als Einrichtung, die hauptsächlich dingliche Quellen gesammelt und bewahrt
hatte. Diese Auffassung vom Museum als bloßes „Archiv des Gegenständlichen“ (ebd.) än-
dert sich jedoch zusehends. Das Museum selbst rückt immer stärker in den Fokus wissen-
schaftlicher Neugier und wird zum zentralen Untersuchungsgegenstand. (vgl. Eisler 2019:
2) Denn Museumsarbeit beschränkt sich nicht nur auf die passiven Kategorien des Sam-
melns und Bewahrens – also das, was Aleida Assmann zufolge den Aufgaben des Speicher-
gedächtnisses entspricht; eine ebenso wichtige Rolle spielen die aktiven Kategorien des For-
schens, Präsentierens, Systematisierens und Interpretierens – Aufgaben, die Assmann be-
kanntlich dem Funktionsgedächtnis zuschreibt. (vgl. Roth; Lupfer 2010: 171) In seiner pas-
siven Funktion agiert das Museum als „Kulturgut bewahrende ‚Gedächtnisinstitution‘“ (Eis-
ler 2019: 2); in seiner aktiven Funktion als kommunikative, konstruierende und interaktive
Institution stellt das Museum Geschichte nicht nur dar, sondern handelt auch als aktiver
Akteur der Geschichtsdeutung und -erzeugung. (ebd.) Die im Theorieteil herausgearbeite-
ten Funktionen von Medien des kollektiven Gedächtnisses lassen sich demnach auch am
Museum festmachen. In historischen Museen werden durch das Ausstellen und Präsentie-
ren materieller Objekte Geschichten erzählt. Das Geschichtsmuseum versucht „einen be-
stimmten Ausschnitt der Geschichte zu dokumentieren, zu illustrieren und zu interpretie-
ren.“ (Roth; Lupfer 2010: 172) Die historischen Gegenstände konfrontieren die BesucherIn-
nen mit der durch den Lauf der Zeit entstandenen zeitlichen Lücke. (vgl. Puttkamer 2016:
790) Sie können sowohl Emotionen als auch den Verstand der BesucherInnen ansprechen
und diese dazu bringen, nostalgischen Sehnsüchten nach der Vergangenheit nachzugeben.
Historische Exponate erzählen aber nur selten selbst eine Geschichte. Die historische Erzäh-
lung entfaltet sich erst durch die ästhetische Anordnung in der Ausstellung. (ebd.) Histori-
sche Ausstellungen können nicht nur der Konservierung von Erinnerung, sondern auch der
„Instrumentalisierung von Vergangenheit, zur Nutzbarmachung von Geschichte für Gegen-
wartszwecke“ dienen (Mittler 2007: 14). Die museale Präsentation von Geschichte kann also
den jeweiligen politischen Überzeugungen entsprechende Vergangenheitsbilder erzeugen
und sich ihrer, ihren Absichten entsprechend, bedienen. Solche, von den politischen Akt-
euren als erinnerungswürdig und sinnstiftend erachtete Vergangenheitsbilder sollen bei den
69
MuseumsbesucherInnen ein historisches Bewusstsein schaffen und durch die kollektiv ge-
teilte Erinnerung ein Gefühl kollektiver Identität hervorrufen. (vgl. Mittler 2007: 14) Durch
die museale Präsentation und Interpretation eines bestimmten Ausschnitts der Geschichte
im Einklang mit den gesellschaftspolitischen Bedürfnissen und Zielen der Machthabenden
wird das Museum somit selbst Teil der Erinnerungspolitik.
Gegenwärtig werden jedoch immer stärkere Tendenzen der Museumsarbeit erkenn-
bar, die keinen universalen Anspruch mehr auf die Vermittlung kanonischer Erzählungen
stellen, sondern viel eher versuchen, individuelle Erinnerungen und Interpretationen der
BesucherInnen zu integrieren und Kommunikation über historische Erfahrungen zu ani-
mieren. (vgl. Puttkamer 2016: 791)
Die Dauerausstellung des ‚Museums Sarajevo 1878–1918‘ (Muzej Sarajeva 1878–1918)43
erzählt von der vierzigjährigen österreichisch-ungarischen Fremdherrschaft in Bosnien-
Herzegowina. Ein Themenbereich der Ausstellung behandelt das Attentat von Sarajevo, das
bekanntlich den Ersten Weltkrieg und infolge dessen das Ende dieser Herrschaft einläutete.
Das ‚Museum Sarajevo 1878–1918‘ befindet sich in direkter Nähe des Schauplatzes des
Attentats auf das Thronfolgerehepaar, in jenem ehemaligen Kaffeehaus, in dem sich Princip
unmittelbar vor dem Attentat aufhielt. Gegründet wurde das Museum im sozialistischen
Jugoslawien 1953 als ‚Museum der Mlada Bosna‘ (Muzej Mlade Bosne). Der damaligen Auf-
fassung Princips und der Mlada-Bosna-Bewegung als Vorreiter der sozialistischen jugoslawi-
schen Ideologie entsprechend, wurde das Attentat als ein patriotischer Akt präsentiert und
die Anhänger der Mlada Bosna wurden als Patrioten gefeiert. (vgl. Serdarević 2014: 221) Die
Belagerung Sarajevos in den 1990er Jahren bedeutete auch die Schließung des ‚Mlada-
Bosna-Museums‘. Die Sammlung wurde in eine andere Zweigstelle des Museums der Stadt
Sarajevo überführt, um vor Granatenbeschuss und Vandalismus geschützt zu sein. (vgl.
Gunzburger Makaš 2012: 4) Während und nach dem Zerfall Jugoslawiens folgte ein Um-
bruch in der Perzeption der jugoslawischen Ideologie und somit auch der Wegbereiter eben
43 Das Museum ist eine von fünf Zweigstellen des ‚Museums Sarajevo‘ (Muzej Sarajeva). Da das ‚Museum Sara-
jevo‘ eine Einrichtung auf Entitäts- und Kantonsebene ist, ist auch sein rechtlicher Status eindeutig geklärt. Anders ist die Situation für gesamtstaatliche Kultureinrichtungen, die „den letzten Bestand gemeinsamen […] kulturellen Erbes und institutionalisierter kultureller Bildungs- und Vermittlungsarbeit“ Bosniens darstellen (Memić 2018: 193). Diese lassen sich nur schwer in die „ethnonationalistische geprägte politische Ordnung“ einfügen, wodurch auch ihr Erhalt nicht als erstrangig erachtet wird (ebd.). Unter diese gesamtstaatlichen Ein-
richtungen fallen etwa das Landesmuseum (Zemaljski muzej) und das Historische Museum von Bosnien-Her-zegowina (Historijski muzej Bosne i Hercegovine), die daher unter einem ungeklärten Rechtsstatus leiden. (vgl. Memić, Nedad (2018): „Zwischen Politik und Festival: Kultur in Bosnien-Herzegowina.“ In: Flessenkemper, Tobias; Moll, Nicolas (Hg.): Das politische System Bosnien und Herzegowinas. Herausforderungen zwischen Dayton-Friedensabkommen und EU-Annäherung. Wiesbaden: Springer, 177–198, hier 193).
70
jener Idee. Der gemeinsame jugoslawische Staat und infolgedessen auch dessen ideologische
Vorreiter wurden von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert. Damit hatte
auch das Fortbestehen eines der Mlada Bosna gewidmeten Museums keine Berechtigung
mehr. Das Museum blieb für einige Jahre geschlossen; im Jahr 2006 wurde es wiedereröffnet
oder eher durch das ‚Museum Sarajevo 1878–1918‘ ersetzt. (vgl. Miller 2016: 154)
Erklärtes Ziel bei der Konzipierung des Museums war die Sicherstellung der Objekti-
vität sowie das Vermeiden jeglicher politischen Wertung der Ausstellung im Allgemeinen
und bestimmter ausgestellter Exponate im Speziellen. (vgl. Serdarević 2014: 223) Bereits im
Vorfeld wurde kontrovers über die Komposition der Ausstellung diskutiert. Das Museum
hielt sich, der ehemaligen Museumsdirektorin Mevlida Serdarević (ebd.) zufolge, bewusst
aus dieser Diskussion heraus: einerseits aus Gründen der Integrität, andererseits um alle,
teilweise kontroversen Deutungen des Ereignisses vom 28. Juni 1914 gleichermaßen zu ach-
ten. Aus diesem Grund verzichtete man auch auf jegliche Art von Erklärungen zu den Ex-
ponaten; diese werden nur mit ihren Titeln, ohne Kommentare ausgestellt. Damit soll ver-
mieden werden, den BesucherInnen eine vorgefertigte Sicht auf die Dinge zu suggerieren.
(ebd.)
Die Dauerausstellung im Museum ist überschaubar; das Museum selbst umfasst nur
einen einzigen Raum. In Vitrinen an den Wänden werden die Exponate, die die Periode der
österreichisch-ungarischen Herrschaft präsentieren, ausgestellt. In chronologischer Reihen-
folge behandelt das Museum folgende Themenbereiche: 1. den Widerstand gegen die Ok-
kupation; 2. die neue administrative Verwaltung; 3. das kulturelle Leben; 4. die Kultur-,
Religions- und Bildungsvereine, Druckereien und Verlage; 5. die Industrie und Architektur;
6. die Annexion und das Bosnische Parlament; 7. das Attentat auf den Thronfolger Franz
Ferdinand und seine Frau Sophie; 8. den Ersten Weltkrieg. (vgl. www-museum)
Dominiert wird der Raum von zwei lebensgroßen Wachsfiguren Franz Ferdinands
und Sophies. Die Figuren zeigen das Thronfolgerehepaar beim Verlassen der Vijećnica nach
ihrem dortigen offiziellen Besuch am 28. Juni 1914 kurz vor dem Attentat. In der Mitte des
Raumes befindet sich ein in einen Tisch eingelassenes Display, das ein Vernetzen zu weite-
ren Sammlungen und zusätzlichen Informationen ermöglicht. Am Eingang des Museums
befindet sich eine Nachbildung von Princips Fußabdrücken, die in eine Betonplatte gegos-
sen wurden. Initiiert wurde die Replik vom damaligen Bürgermeister der Stadt Sarajevo
Muhidin Hamamdžić, der auch die dafür benötigten finanziellen Mittel zur Verfügung
stellte. Die Ankündigung der Rekonstruktion der Fußstapfen Princips lies Stimmen laut
71
werden, die neben den neuen Fußabdrücken auch eine Rekonstruktion des einstigen Süh-
nedenkmals für Franz Ferdinand und Sophie forderten. (vgl. Serdarević 2014: 226f.) Auch
aus dieser Diskussion hielt sich das Museum bewusst heraus, um wiederum seine Neutralität
den einzelnen Erinnerungsdiskursen gegenüber zu bewahren. (ebd. 227) Sich aus allen Dis-
kussionen herauszuhalten und keine Stellung zu beziehen, kann jedoch auch den Anschein
erwecken, nur über die nötigen finanziellen Mittel und genügend Einfluss verfügen zu müs-
sen, um dem Museum seinen eigenen erinnerungskulturellen Willen aufzudrücken. Mit ei-
ner solchen Passivität der Thematik gegenüber kann sich das Museum schnell zum Spielball
der Machthabenden machen, anstatt ein neutraler, wertfreier Ort zu sein. Ein Anbringen
der Fußabdrücke an ihrem ursprünglichen Platz – vor dem Museum – von dem aus Gavrilo
Princip das Attentat verübt haben sollte, wurde abgelehnt. Seitdem befindet sich die Nach-
bildung im Museum. Eine Neuerrichtung des Sühnedenkmals wurde – wie schon zuvor im
Kapitel über den Schauplatz des Attentats ausgeführt wurde – (noch) nicht initiiert. Anhand
dieser Darlegungen lässt sich bereits erkennen, dass das umstrittenste Thema im Museum
mit Sicherheit jenes des Attentats und seiner ProtagonistInnen ist.
Eine im Museum angebrachte Schautafel illustriert die Fakten des Ereignisses vom 28.
Juni 1914: die Route der Kolone des Erzherzogs, die Positionierung der sieben Attentäter
entlang dieser Strecke, der fehlgeschlagene erste Attentatsversuch Čabrinovićs, die geplante
und geänderte Route des Thronfolgers und schließlich das Attentat durch Gavrilo Princip.
(siehe Abb. 8)
Abbildung 8: Schautafel mit Fakten zum Attentat von Sarajevo
Was jedoch die möglichen Hintergründe und Ziele des Attentats betrifft, folgt die Ausstel-
lung ihrem Credo des Schweigens und verzichtet auf jede Art von Erklärungen:
72
Vitrina Gavrila Principa posebna je priča. Nema nikakvih naznaka o tome da li je i zašto
bio atentator, ko je i da li je stajao iza njega i njegovih drugova... Ostavljeno je posjeti-ocima da sami prosude. Nameće se samo pitanje atentata kao čina bilo kog, bilo gdje i
bilo kada i odnosa prema atentatoru, bilo kom, bilo gdje i bilo kada. (Serdarević 2014: 227)
Die frühere Museumsdirektorin Mevlida Serdarević argumentiert hier wiederum für die
Objektivität des Museums durch die bloße Darstellung und Benennung der Fakten, ohne
diese zu kommentieren, um in keiner Weise eine Wertung des Ereignisses vorzunehmen
oder den BesucherInnen eine vorgefertigte Meinung zu suggerieren.
Tatsächlich ist das Museum aber nicht der gänzlich objektive Ort, der es versucht oder
vorgibt zu sein. Die Ausstellung der österreichisch-ungarischen Periode in Bosnien-Herze-
gowina widmet sich – bis auf eine einzige Ausnahme44 – ausschließlich den positiven As-
pekten der Fremdherrschaft. Gezeigt werden die gesellschaftlichen, kulturellen und wirt-
schaftlichen Errungenschaften unter der Herrschaft des Doppeladlers und das friedliche Zu-
sammenleben verschiedener sozialer Gruppen. Ausgelassen werden die negativen Seiten der
Habsburgermonarchie in Bosnien-Herzegowina und damit die Hintergründe für die Unzu-
friedenheit in Teilen der Bevölkerung, wie die Diskriminierung vor allem der muslimischen
und serbischen Bevölkerung (vgl. Ruthner 2018: 17), das Fehlen eines flächendeckenden
Grundschulnetzes (vgl. Donia 2018: 161) oder die lang überfällige Reform des quasi-feuda-
len Agrarsystems (ebd. 149), – um nur einige wenige zu nennen. Im Museum wird das vier-
zigjährige „kakanische Intermezzo“ als ausschließlich fruchtbare Episode in der Geschichte
Bosniens und speziell der Stadt Sarajevo dargestellt. Folglich kann das Attentat, das das Ende
dieser Periode einläutete, nur negativ konnotiert sein. Diese Auffassung ist auch Emily
Gunzburger Makaš‘ Artikel zu Sarajevos Museen und ihrem Einfluss auf die Identität der
Stadt zu entnehmen, wenn sie schreibt, dass
[…] the exhibit broadly discusses the entire forty-year period and stresses the accom-
plishments of the era and the peaceful cooperation among religious-cultural groups, rather than presents it as a repressive occupation […]. (Gunzburger Makaš 2012: 5)
Die prominent platzierten und makellos gekleideten Wachsfiguren Franz Ferdinands und
seiner Frau Sophie und die im Gegensatz dazu eher lieblos in einer Ecke des Museums de-
ponierten Betonplatte mit Princips Fußabdrücken unterstreichen diese Sichtweise.
44 Der erste im Museum behandelte Themenbereich des Widerstands gegen die Okkupation zeigt die durchaus gewalttätige und blutige Übernahme durch die Doppelmonarchie. Siehe dazu auch den Museumsführer: Avdić [o.J.].
73
Die genauere Untersuchung des Museums zeigt eine Diskrepanz zwischen Text und
Bild der Ausstellung: Während der Text, von dem es bekanntlich recht wenig gibt, da auf
Erklärungen und Kommentare weitgehend verzichtet wurde, einen überwiegend neutralen
und sachlichen Ton beibehält, zeigt das Bild – also die ausgestellten Exponate – eine Ten-
denz hin zur Verklärung der österreichisch-ungarischen Periode. Mit anderen Worten:
Text und Bild der Ausstellung sind nicht deckungsgleich und widersprechen sich zumindest
teilweise. Dass das Museum die österreichisch-ungarische Periode in Bosnien-Herzegowina
nicht völlig wertneutral präsentiert, ist auch im Museumsführer und anhand des Online-
Auftritts erkennbar: Beide stellen die Herrschaft unter der Doppelmonarchie als Zivilisie-
rungs- und Kulturmission dar; die bereits erwähnten negativen Seiten werden ausgelas-
sen.45
Im Zuge der während der Entstehung dieser Arbeit unternommen Forschungsreisen
nach Sarajevo diente auch das ‚Museum Sarajevo 1878–1918‘ als zweimaliger Untersu-
chungsraum.
Das Museum war an beiden Besuchstagen gut besucht. Das Besucherbild ist deutlich
durch TouristInnen geprägt, auch wenn die Angaben zu den Herkunftsländern der größten
Besuchergruppen stark variieren.46 Der hohe Anteil an touristischen BesucherInnen ist dem
Kurator der Ausstellung Mirsad Avdić zufolge der Tatsache geschuldet, dass das Attentat
von 1914 zu einer „Marke“ Sarajevos geworden ist. (vgl. MS1)47 Die BesucherInnen sind, so
Avdić (ebd.), an Sarajevo als dem Ort, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach, interessiert und
wollen im Museum eine Antwort auf die stark vereinfachte Frage, ob Princip nun Held oder
Terrorist sei, finden. Dementsprechend liegt auch der Fokus der MuseumsbesucherInnen
hauptsächlich auf dem Themenbereich des Attentats und nicht auf der Darstellung der ge-
samten vierzigjährigen Periode der österreichisch-ungarischen Herrschaft. (vgl. MS1) Hie-
ran lässt sich auch die bereits weiter oben geäußerte Vermutung über Sarajevo als Ort des
dark tourism konstatieren.
45 Vgl. Avdić [o.J.] und www-museum. 46 Als stärkste Besuchergruppen werden u.a. KoreanerInnen, ChinesInnen und KroatInnen genannt. (vgl. MS1, MS2, MS3, Gedankenprotokoll) 47 Für Verweise auf die untersuchten Online-Artikel über das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ wird hier und in der Folge die Sigle MS mit fortlaufender Nummerierung verwendet. Die Quellenangaben zu den jeweiligen Siglen finden sich im Siglenverzeichnis.
74
Wie bereits erwähnt, wird der Aus-
stellungsraum von den beiden kitschigen
Wachsfiguren Franz Ferdinands und So-
phies (siehe Abb. 9) dominiert. Daran und
an den eher stiefmütterlich behandelten
Fußabdrücken Princips (siehe Abb. 10) lässt
sich der erinnerungskulturelle Perspekti-
venwechsel auf das Attentat aufgrund ge-
sellschaftspolitischer Umbrüche gut erken-
nen: Dienten im sozialistischen Jugoslawien
die in den Asphalt eingelassenen Fußabdrücke Princips PassantInnen dazu, das Attentat auf
den Erzherzog an genau jenem historischen Ort nachzuspielen und für ein Foto zu posieren
(vgl. Donia 2014: 72), wurde das strahlende Thronfolgerehepaar mittlerweile das beliebtere
Fotomotiv, mit dem sich die MuseumsbesucherInnen gerne ablichten lassen. (vgl. Gedan-
kenprotokoll) Princips Fußabdrücken wurde – zumindest während der beiden Museums-
besuche im Zuge dieser Forschungsarbeit – nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine
Tatsache, die wohl auch dem Umstand ihrer Platzierung im Museum geschuldet ist: Die
Fußabdrücke sind streng genommen gar nicht Teil der Komposition der Ausstellung. Sie
wurden zwischen Eingang und Ticketschalter des Museums platziert; die eigentliche Aus-
stellung beginnt erst danach.48 Wurden Princip und die anderen Mitglieder der Mlada Bosna
im sozialistischen Jugoslawien als Pioniere der jugoslawischen Idee gefeiert, deutet die heu-
tige Popularität Franz Ferdinands und Sophies als Symbole der K.-u.-k.-Monarchie auf eine
gewisse Habsburg-Sehnsucht hin, die sich durch eine positiv besetzte Erinnerung an die
48 Eine 360°-Ansicht des Museumsinnenraumes liefert ein detailliertes Bild des Arrangements. Siehe dazu: http://tiny.cc/museum_innenraum [22.10.19].
Abbildung 9: Wachsfiguren des Thronfolgerehepaars
Abbildung 10: Princips Fußabdrücke
75
Fremdherrschaft als Kulturmission äußert. Dementgegen stellt sich der in der Forschung
unter Bezugnahme auf Ansätze der Postcolonial Studies entwickelte, postkoloniale Zugang
zur K.-u.-k.-Monarchie,49 der insbesondere „im Kontext von Bosnien/Herzegowina frucht-
bar gemacht werden [kann], wo militärische Eroberung, Verwaltung und Kulturpolitik ko-
loniale Züge trugen.“ (Prutsch 2003: 42) Diese postkoloniale Herangehensweise an das bos-
nisch-herzegowinische Intermezzo der Doppelmonarchie hat
[…] eine Sichtweise konstruiert und verfeinert, die sich ebenso als Alternative zur Mul-
tikulti-Nostalgie des ‚Habsburgischen Mythos‘ […] wie zu den Opfer-Narrativen nati-onalistischer Geschichtsschreibung versteht: gleichsam als dritter Weg, der diese
Denkfallen überspringt. (Ruthner 2018: 10)
Da das Museum auf jedwede Erklärungen der Exponate verzichtet, erschließt sich den
BesucherInnen nur schwer die Bedeutung der einzelnen Ausstellungsstücke. Die Auswahl
der Exponate wirkt eher wahllos, als gut durchdacht. Neben einem metallenen Bierkrug sind
u.a. Taschenuhr, Zither, Mobiliar und das Emblem des bosnisch-herzegowinischen Auto-
mobilklubs ausgestellt. Zweifellos handelt es sich dabei um kulturelle Einflüsse, die die Re-
gierung der Doppelmonarchie nach Bosnien-Herzegowina brachte, ohne weiterführende
Kommentare oder Blick in den, separat zu erwerbenden, Museumsführer wird es allerdings
schwer, den Sinngehalt dieser Gegenstände zu entschlüsseln.
Das Museum versucht, moderne Technologien in seine Ausstellung einzubauen. Ei-
nige Vitrinen sind mit QR-Codes versehen, die zusätzliche Informationen zu den Expona-
ten bereitstellen (sollten). (vgl. Gedankenprotokoll) Bedauerlicherweise funktionierten
diese jedoch an beiden Besuchstagen nicht. Der in der Mitte des Raumes installierte Touch-
screen war zwar intakt, durch die äußerst mühsame Bedienung geht jedoch schnell das In-
teresse daran verloren, die darauf zugänglichen Verweise auf andere Sammlungen und zu-
sätzliche Informationen zu erkunden. (vgl. Gedankenprotokoll)
Das Museum gibt vor, völlige Objektivität zu bieten. Um keine wertende Stellung-
nahme gegenüber der österreichisch-ungarischen Periode beziehen zu müssen, hat sich das
Museum das Credo des Nicht-Kommentierens auferlegt. Es positioniert sich weder gegen-
über kritischen Stimmen von außen noch gegenüber den ausgestellten Exponaten. Gerade
49 Siehe dazu u.a. die einschlägigen Sammelbände von Müller-Funk, Wolfgang; Plener, Peter; Ruthner, Cle-
mens (Hg.) (2002): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Franke (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Feichtinger, Johann; Prutsch, Ursula; Csáky, Moritz (Hg.) (2003): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studien-Ver-lag; Ruthner, Clemens; Scheer, Tamara (Hg.) (2018): Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878–1918. An-näherungen an eine Kolonie. Tübingen: Narr Francke Attempto.
76
am Beispiel der fehlenden Partizipation an der Diskussion um die Fußabdrücke Princips und
die Rekonstruktion des Sühnedenkmals für das Thronfolgerehepaar lässt sich der dünne
Grad zwischen objektiver Institution mit eigenem Standpunkt und der selbstauferlegten
Rolle des machtlos ausgelieferten Spielballs, der den Bedürfnissen der Machthabenden folgt,
erkennen. Allerdings drängt sich auch die Vermutung auf, dass das Museum sich ganz be-
wusst für eine pro-habsburgische Auslegung der Ereignisse entschieden hat und an keiner
der Diskussionen partizipiert, um den Schein der Objektivität zu wahren.
Ist das höchste angestrebte Ziel des Museums die Akzeptanz und Toleranz aller beste-
hender Meinungen und Einstellungen gegenüber der habsburgischen Regierung und vor
allem gegenüber dem Attentat von Sarajevo, so wäre das Nicht-Kommentieren seiner Ex-
ponate tatsächlich eine der sachlichsten und wertfreisten Methoden. Die ausgestellten Ge-
genstände würden somit dem/der BesucherIn lediglich als Erinnerungstrigger individueller
Vergangenheitsdeutungen dienen. Dadurch würde das Museum aktuellen Tendenzen der
Museumsarbeit weg von der Vermittlung kanonischer Erzählungen hin zur Einbettung in-
dividueller Erinnerungen und Interpretationen der BesucherInnen folgen. Die Initiierung
eines Dialogs zwischen konkurrierenden und sich oftmals widersprechenden Erinnerungs-
diskursen kann so allerdings nicht oder nur äußerst schwer erreicht werden. Den Besuche-
rInnen werden keine neuen Denkanstöße geboten, um ihre Meinung überdenken oder re-
vidieren zu können. Ein solcher Dialog wäre jedoch auch nur dann wirklich denkbar, wenn
sich das Museum tatsächlich neutral gegenüber der Thematik positionieren würde. Dies ist
allerdings nicht der Fall. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, erzählen Exponate
nur in den seltensten Fällen eine eigene Geschichte, sondern sie dienen vielmehr als Erin-
nerungstrigger. Sinn erhalten die ausgestellten Gegenstände durch ihre Präsentation und
Anordnung. Darüber hinaus lässt nicht nur das wie des Präsentierens und Beschreibens, son-
dern auch das was Rückschlüsse auf die Interpretation der Vergangenheit und somit auf die
Selbstverortung des Museums zu. Mit anderen Worten, auch das, was in der durch die Ex-
ponate erzählten Geschichte ausgelassen wird, gibt Auskunft darüber, wie das Museum zu
diesem historischen Abschnitt steht bzw. diesen interpretiert und (be-)wertet. Im Falle des
‚Museums Sarajevo 1878–1918‘ werden, bis auf eine einzige Ausnahme, die bereits erwähn-
ten negativen Seiten der K.-u.-k.-Monarchie in Bosnien-Herzegowina gänzlich ausgeblen-
det. Damit ist das Museum nicht die wertneutrale Institution, die es vorgibt zu sein. Durch
das Auslassen negativer Folgen der Fremdherrschaft wird vor allem verabsäumt aufzuzei-
gen, worin die Unzufriedenheit in der Bevölkerung gründete, woraus schlussendlich das
Attentat von Sarajevo resultierte. Wenn die Fremdherrschaft in Bosnien ausschließlich als
77
fruchtbare, fortschrittliche und modernisierende Zivilisierungsmission dargestellt wird,
muss das Attentat negativ gewertet werden, da es das Ende dieser Periode bedeutete. Im
theoretischen Teil der Arbeit zu kollektiver Erinnerung und Mythos (vgl. Kap. 3.6) wurde
bereits Holm Sundhaussens Erklärungsansatz für dieses Phänomen dargelegt: Die EU wird
heute als die der Habsburgermonarchie nachfolgende Modernisierungsmission gesehen.
Durch die angestrebte Aufnahme in die EU nimmt diese auch wesentlichen Einfluss auf die
Ausgestaltung der Erinnerungskulturen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. (vgl. Sund-
haussen 2016b2: 303) Die angestrebte Aufnahme in die EU beeinflusst demnach offenbar
auch die Ausstellung des Museums, das seine Erinnerung – bewusst oder unbewusst – an
die europäische Erinnerung anpasst und somit dem europäisch-orientierten Erinnerungsdis-
kurs zugeordnet werden kann. Da es aber in der Natur der Sache liegt, dass Museen nicht
nur auf die lokale Bevölkerung, sondern auch auf ausländische TouristInnen ausgerichtet
sind, lassen sich in der Untersuchung des Museums auch Merkmale des touristisch-motivier-
ten Erinnerungsdiskurses ausmachen. Das touristisch-motivierte Narrativ legt seinen Fokus
vorrangig auf das sensationalistische Moment des Attentats von Sarajevo, das aus Sarajevo
den Ort machte, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Da das Museum sowohl Merkmale
des einen als auch des anderen Erinnerungsdiskurses trägt, wird es hier zwischen europäisch-
orientiertem und touristisch-motiviertem Narrativ verortet.
Die über das Museum verfassten Online-Artikel liefern ein ähnliches Bild. Die Kon-
zeption der Ausstellung wird von keiner Seite kritisiert. Eher im Gegenteil: Die österreich-
ungarische Periode in Bosnien wird zum „unbezahlbaren Reichtum“50 verklärt oder folgt
zumindest dem vermeintlichen neutralen Ton der Ausstellung. (vgl. MS1, MS3)
Exkurs: Die Ausstellung ‚Sarajevo 1914–2014‘ in der Vijećnica
Die neu errichtete Vijećnica beherbergt eine Dauerausstellung (‚Sarajevo 1914–2014‘),51 die
sich, wie der Name schon vermuten lässt, der Zeit vom Attentat von Sarajevo bis zum 100-
jährigen Jubiläum 2014 widmet. Anders als im Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ setzt sich die
Ausstellung hauptsächlich aus auf Tafeln gedruckten Texten und Bildern zusammen. Ein
50 „Neprocjenjivo bogatstvo“ (MS2) 51 Die Ausstellung gehört, wie auch das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ zur Institution ‚Muzej Sarajeva‘. (vgl. Bajić 2014: 62)
78
genauerer Blick auf das Präsentierte offenbart auch hier den bereits gewohnten, die Periode
der Habsburgermonarchie verklärenden Tenor des europäisch-orientierten Erinnerungsdis-
kurses. Anders als das Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ setzt die Ausstellung in der Vijećnica
vor allem auf Text. Dadurch wird die Ausstellung in ihren nostalgischen Ausführungen viel
expliziter und kommuniziert diese auch – im Gegensatz zum Museum, wo diese durch eine
erklärte Objektivität verschleiert werden – ganz offen.
Ausführlich wird die unerschütterliche Liebe zwischen Franz Ferdinand und Sophie
geschildert, die allen Missbilligungen und Anfeindungen standhielt. (vgl. Bajić 2014: 5f.) Die
Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie in Bosnien-Herzegowina wird als au-
ßerordentlich fruchtbare Periode, sowohl in architektonischer, wirtschaftlicher, gesell-
schaftlicher als auch kultureller Hinsicht, hervorgehoben, durch die Sarajevo von einem
„Städtchen“ zu einer „europäischen Landeshauptstadt“ 52 wurde (ebd.).
Die Attentäter werden entgegen der historischen Tatsachen als serbische Nationalis-
ten, die eine Vereinigung Bosniens mit Serbien anstrebten, bezeichnet. (ebd. 7) Dies ist eine
Behauptung, die, wie in Kapitel 4 zu Gründen, Zielen und Ablauf des Attentats dargelegt, so
nicht der Wahrheit entspricht – strebten die Anhänger der Mlada Bosna-Organisation genau
genommen eine Vereinigung aller SüdslawInnen in einem gemeinsamen Staat an; eine Dar-
stellung, die offensichtlich der Pflege der Habsburg-Sehnsucht dienen soll.
Wiederum werden die Ursachen für den Unmut gegenüber der Fremdherrschaft, der
dazu führte, dass sich vor allem SchülerInnen und StudentInnen zu Geheimorganisationen
gegen die österreichisch-ungarische Monarchie zusammenschlossen und dass eine dieser
geheimen Gruppen schlussendlich ein Attentat auf den Thronfolger verübte, bewusst oder
unbewusst ausgeblendet.
Die Ausstellung der Vijećnica präsentiert den Beginn des Ersten Weltkrieges als tra-
gische, nahezu kitschige Liebesgeschichte. Das Attentat am glücklich verliebten Thronfol-
gerehepaar, deren Liebe allen Widrigkeiten standhielt, beendete nicht nur das Leben der
beiden schillernden Figuren, sondern auch die ruhmvolle Zeit der K.-u.-k.-Monarchie in
Bosnien, während der zumindest Sarajevo Teil Europas war.
52 „Sarajevo je od šehera postalo europski, ‚zemaljski glavni grad‘.“ (Bajić 2014: 3)
79
7.1.5. Thematische Stadtführung zum Attentat von Sarajevo
Neben der bereits erwähnten Ritualisierung zählt Ueli Gyr (1992: 225) den ständigen Rol-
len- und Rhythmuswechsel als zweites wesentliches Merkmal touristischen Verhaltens auf.
Bei diesem Rollen- und Rhythmuswechsel verlagern sich bisherige Gewohnheiten,
wodurch es, so Gyr (ebd. 226f.),
[…] zu einer Distanzierung vom Alltag [kommt], den man im Urlaub bewusst zu ver-
gessen oder zu überwinden anstrebt. […] Allgemein deutet sich an, dass der Rahmen bisheriger Gewohnheiten gesprengt und dass dies markiert wird. […] Das Prinzip einer ‚verkehrten Welt‘ manifestiert sich vielfach. Es ist an der einfachen Tatsache ablesbar,
dass man im Urlaub häufig Dinge unternimmt und besondere Interessen entwickelt, die dort (und nur dort) gelten […].
Zu diesen, den Alltag sprengenden Dingen zählt Gyr (ebd.) neben Museumsbesuchen, dem
Fotografieren und dem Versenden von Postkarten u.a. auch geführte Besichtigungen. Frem-
denführerInnen solcher Rundgänge ist es in der Regel nicht freigestellt, was und wie sie et-
was präsentieren, sondern sie sind dazu angehalten, sich an einen vorgegebenen Leitfaden
zu halten. Somit können durch ihre Analyse ebenfalls Einblicke in das kulturelle Gedächtnis
einer Gesellschaft erlangt werden. Interessant ist in dieser Hinsicht vor allem das, was un-
gesagt, das, was ausgespart bleibt. Da in Sarajevo einige Tourismusbüros thematische Stadt-
rundgänge zum Attentat von Sarajevo anbieten, war es naheliegend, auch diese als eine Ana-
lysekategorie in die vorliegende Arbeit mitaufzunehmen.
Angeboten werden solche Stadtrundgänge in Sarajevo von fünf verschiedenen Agen-
turen.53 Die Preise variieren zwischen 18€ und 30€, die Dauer der Touren beträgt drei bis
viereinhalb Stunden. Die im Internet aufgelisteten Programmpunkte der Stadtführungen
sind bei allen Touren ähnlich. Die von Meet Bosnia angebotene „Shot that changed the world
tour“ ist geographisch am weitesten gefasst: Neben den markantesten, während der Doppel-
monarchie errichteten Gebäuden, der Route des Thronfolgers entlang des Appel-Kais (heute:
Obala Kulina bana), dem Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ und der Vijećnica führt die Route
53 Nämlich die „Assassination Tour“ von Insider City Tours & Excursions mit einer angegebenen Dauer von drei Stunden für 19€ (vgl. http://www.sarajevoinsider.com/tour-detail.php?id=7 [10.06.19]); die „Shot that chan-ged the world tour“ von Meet Bosnia um 30€ für ebenfalls drei Stunden (vgl. https://meetbos-nia.com/tour/shot-changed-world-tour/ [10.06.19]); die „Sarajevo 1914 Assassination Tour“ von Adis Hamzic - Licenced tourist guide mit einer Dauer von drei Stunden für 18€ (vgl. http://touristguide-sara-
jevo.com/Tours/Sarajevo-1914-Assassination-Tour [10.06.19]); die von Spirit Tours Sarajevo angebotene „The Last Day of Franz Ferdinand Tour“ mit einer Dauer von zwei Stunden für den Preis von 20€ (vgl. https://www.freetour.com/sarajevo/the-last-day-of-franz-ferdinand-tour [10.06.19]) und die „First world war - Assassination in Sarajevo“ Tour von Bestination mit einer Dauer von viereinhalb Stunden für 20€ (vgl. http://www.bestinationtours.com/en/first-world-war-assassination-in-sarajevo [10.06.19]).
80
der Stadtführung außerdem zum Gavrilo-Princip-Denkmal in Istočno Sarajevo und nach
Ilidža – einem Vorort Sarajevos, wo das Thronfolgerehepaar seinen Aufenthalt in Sarajevo
verbrachte. Da dem für diese Arbeit unternommenen Forschungsaufenthalt nur ein sehr
begrenzter finanzieller Rahmen zur Verfügung stand, fiel die Wahl für die Untersuchung
auf die von Insider City Tours & Excursions angebotene „Assassination Tour“. Aus eben ge-
nannten Kostengründen konnte auch an keiner von einer der anderen Agenturen angebo-
tenen Tour zu Vergleichszwecken teilgenommen werden. Solch eine vergleichende Studie
der thematischen Stadtrundgänge wäre aber mit Sicherheit lohnend gewesen. Das trifft ins-
besondere auf die „Shot that changed the world tour“ von Meet Bosnia zu, die – vor allem in
Hinblick auf den Besuch des Gavrilo-Princip-Denkmals in Istočno Sarajevo – einen weite-
ren aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand dargestellt hätte.
An dieser Stelle sollte betont werden, dass die Analyse der Stadtführung allein auf
während der Tour gewonnenen und später in ein Gedankenprotokoll54 übertragenen Ein-
drücken und Empfindungen basiert. Obwohl versucht wurde, die gesammelten Impressio-
nen kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen sowie eine gewisse Distanz zu wahren, muss
ganz klar betont werden, dass die nachfolgende Untersuchung natürlich auch eine subjek-
tive Sichtweise darstellt. Eine klare Trennung zwischen subjektiver und objektiver Darstel-
lung ist im vorliegenden Fall aber weder möglich noch sinnvoll, da Stadtführungen be-
kanntlich bewusst so angelegt sind, emotionale und persönliche Reaktionen beim Publikum
zu wecken. Die subjektive Ebene auszublenden, würde in diesem Kontext bedeuten, einen
wichtigen Aspekt der Analyse des geführten Stadtrundgangs zu vernachlässigen.
Die Stadtführung fand in relativ intimer Atmosphäre statt – neben unserem Tour-
guide – einem jungen Studenten – und einer Praktikantin bestand unsere Gruppe aus ledig-
lich zwei TeilnehmerInnen. Die Wahl der Sprache zwischen Englisch oder Bosnisch über-
ließ man uns. Wir entschieden uns für Letzteres. Um zu keinem verfälschten Ergebnis zu
gelangen, wurde der Guide nicht darüber informiert, dass die Stadtführung später Gegen-
stand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden sollte.
Ausgangspunkt des thematischen Stadtrundgangs war das Büro der Insider City Tours
& Excursions, welches sich direkt am Schauplatz des Attentats, gegenüber des Museums ‚Sa-
rajevo 1878–1918‘ befindet. Erster Programmpunkt war jedoch nicht der Erinnerungsort
des Attentats; zur besseren zeitlichen und historischen Einordnung des historischen Ereig-
nisses wurde zuerst das Sarajevo Meeting of Cultures-Zeichen besucht – eine in das Pflaster
54 Dieses ist der Diplomarbeit angehängt.
81
eingelassene Markierung des Übergangs zwischen osmanischer und österreichisch-ungari-
scher Altstadt, der sich vor allem an der Architektur der Gebäude manifestiert. Von dort aus
führte die Route über die durch österreichisch-ungarische Architektur geprägte Ferhadija-
Straße vorbei an der katholischen Kathedrale, die unter der Habsburgermonarchie errichtet
wurde, zur Markale (vom deutschen ‚Markthalle‘, wie uns erklärt wurde). Dieser Teil der
Stadtführung diente, so der Fremdenführer, vor allem der Kontextualisierung des histori-
schen Ereignisses und wurde mit Informationen ausgeschmückt, wie beispielsweise dem
Hinweis, dass Sarajevo – dank der Doppelmonarchie – als erste Stadt Europas über eine
Straßenbahn verfügte. Erst nach dieser historischen Kontextualisierung begann die eigent-
liche Tour zum Attentat, deren Route sich an der chronologischen Abfolge der Ereignisse
des 28. Junis 1914 orientierte. Die kleine Gruppe wurde zum Fluss Miljacka zur Ćumurija
Brücke geführt, von wo aus Nedeljko Čabrinović den ersten Attentatsversuch auf Franz Fer-
dinand unternahm. Wir setzten uns auf eine Parkbank im nahegelegenen At Mejdan Park,
von wo aus wir sowohl die Ćumurija Brücke als auch die Lateinerbrücke mit dem davor
liegenden Schauplatz des Attentats und dem Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ im Blick hatten.
(siehe Abb. 11)
Während dieser kurzen Rast klärte uns der Tourguide darüber auf, dass die Mlada
Bosna, der die sieben Attentäter angehörten, keine terroristische Organisation war und die
Abbildung 11: Blick von At Mejdan Park auf Lateinerbrücke, Schauplatz des Attentats und Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘
82
jungen Aufrührer daher von der Crna ruka – die im Gegensatz dazu sehr wohl als terroris-
tische Vereinigung bezeichnet werden kann – Waffen und Schießunterricht erhielten. Er
erwähnte auch die leichtsinnige Entscheidung, den detaillierten Zeitplan inklusive der
Route, die der Thronfolger und seiner Frau während ihres offiziellen Besuchs in der Stadt
nehmen sollten, in der Zeitung abzudrucken, durch die die Aufrührer erstmals von ihrer
Chance, ein Attentat auf Franz Ferdinand zu verüben, erfuhren. Das Flussufer der Miljacka
entlang Richtung Vijećnica – dem nächsten Zwischenstopp des Thronfolgerehepaars und
somit auch unserer Route – spazierend, beachteten wir die Lateinerbrücke und den davor
liegenden Schauplatz des Attentats vorerst nicht. Vor der Vijećnica machten wir Halt und
wurden vom Fremdenführer über den Ablauf des offiziellen Empfangs des Thronfolgerehe-
paars im Rathaus aufgeklärt. Anschließend ging es zurück zur Lateinerbrücke, zu jenem Ort,
an dem Gavrilo Princip die folgenschweren Schüsse auf das Thronfolgerehepaar abfeuerte.
Auf dem Weg dorthin weihte uns unser Tourguide über die beiden Theorien, wie es zu der
verhängnisvollen Begegnung zwischen Attentäter und Thronfolger überhaupt kommen
konnte, ein: Beim Empfang in der Vijećnica äußerte Franz Ferdinand den Wunsch, die
durch Čabrinovićs‘ Anschlag Verletzten im Spital besuchen zu wollen. Dafür wurde die
Route der Wagenkolonne geändert. Statt wie geplant am Appelkai an der Lateinerbrücke
rechts abzubiegen, einigte man sich darauf, den Kai wieder zurückzufahren. Der Fahrer des
Thronfolgers hielt sich allerdings an die ursprüngliche Route, was dazu führte, dass der Wa-
gen angehalten werden musste, um ihn zurückzuschieben. Das hatte zur Folge, dass sich
Gavrilo Princip direkt vor dem Thronfolger wiederfand und die beiden Schüsse aus direkter
Nähe abfeuern konnte. Eine der Theorien, wie es zu diesem Unglück kommen konnte, be-
sage dem Tourguide zufolge, dass der (tschechische) Fahrer von Franz Ferdinands Wagen
die Anweisungen zur Änderung der Route einfach nicht verstanden hatte. Eine zweite, bei-
nahe schon konspirativ anmutende Theorie, besage allerdings, dass der Chauffeur selbst
Mitglied der Mlada Bosna oder Crna ruka gewesen sei und sich deshalb absichtlich an die
ursprüngliche Route hielt.
Am eigentlichen Schauplatz hielten wir uns vergleichsweise kurz auf – eine Tatsa-
che, die wohl auch den zahlreichen anderen, wesentlich größeren Touristengruppen und
der alles andere als einladenden Atmosphäre (stark befahrene Straße mit lärmenden Autos,
siehe dazu auch Kapitel 7.1.2) geschuldet war. Wir wurden kurz auf das einstige Sühnedenk-
mal aufmerksam gemacht, an das heute nur noch seine auf Glas gedruckte Abbildung erin-
nert. Im Preis des Stadtrundgangs war auch der Eintritt ins Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘
83
mitinbegriffen. Die Eindrücke, die dort gesammelt wurden, wurden bereits im vorangegan-
genen Kapitel (7.1.3) detailliert dargelegt und untersucht. Nach dem Museumsbesuch ging
es wieder zurück zur Vijećnica, vor der der Guide der Gruppe für Fragen zur Verfügung
stand. Da sich unsere Gruppe aus lediglich zwei TeilnehmerInnen zusammensetzte, waren
diese schnell beantwortet. Nach etwa zwei Stunden war der für eigentlich drei Stunden an-
gesetzte Stadtrundgang beendet.
Dem bereits in den Kapiteln zum Museum (7.1.3) und dem Schauplatz des Attentats
(7.1.2) ermittelten Schema folgend, zeichnen sich in der Untersuchung der thematischen
Stadtführung ebenfalls zwei wesentliche Merkmale ab, die nach einer genaueren Diskussion
verlangen: einerseits das „branding“ des Attentats, das die Stadt Sarajevo gezielt für touristi-
sche Zwecke nutzt und andererseits eine vorgetäuschte Objektivität, die jedoch bei genaue-
rer Betrachtung eine unreflektierte, überhöht positive Einstellung gegenüber der Periode
der Habsburgermonarchie in Bosnien offenbart.
Die erste Station des Rundgangs, die Markierung des architektonischen Übergangs
zwischen Osmanischem und Habsburgerreich, soll das Zusammentreffen zweier Kulturen
sowie das reiche kulturelle Erbe der Stadt symbolisieren. Im Kontext der Stadtführung stand
diese Markierung jedoch viel eher für das Aufrufen stereotyper Erinnerungen. Wie bereits
die Untersuchung des Museums ‚Sarajevo 1878–1918‘ und der Ausstellung ‚Sarajevo 1914–
2014‘ gezeigt haben, wurden auch während der Stadtführung nur die positiven Leistungen
der österreichisch-ungarischen Monarchie präsentiert; alles Negative der damaligen Zeit
wurde ausgeblendet. Wenn das Beispiel der Straßenbahn angesprochen wird, muss jedoch
auch kritisch reflektiert werden, warum Sarajevo noch vor Wien mit einem Straßenbahn-
netz ausgestattet wurde. Nähert man sich dieser Frage unter dem Gesichtspunkt postkolo-
nialer Ansätze, so wird deutlich, dass die Doppelmonarchie Bosnien als Experimentierfeld
nutzte – ein Phänomen, das auch in anderen europäischen Kolonien hinreichend zu be-
obachten ist. (vgl. Ruthner 2018: 41f.) Bevor in der Hauptstadt der Monarchie ein Tram-
way-System eingeführt wurde, konnte dieses zuvor in Sarajevo erprobt werden. Der ein-
führende Teil der Stadtführung war dazu gedacht, ein besseres Verständnis der damaligen
Umstände zu vermitteln, und sollte damit eigentlich einer objektiven Darstellung des Ereig-
nisses des Attentats dienlich sein. Tatsächlich offenbarte es nur einmal mehr, wie unreflek-
tiert der Zeit der Habsburgerherrschaft gedacht wird. Durch diese überhöht positive Her-
ausarbeitung der österreichisch-ungarischen Fremdherrschaft wird es – wie auch schon im
Museum und der Ausstellung in der Vijećnica – verabsäumt aufzuzeigen, worauf die Ursa-
chen hinter dem Attentat gründeten. In diesem Zusammenhang kann das Attentat auf den
84
österreichisch-ungarischen Thronfolger, das das Ende dieser fruchtbaren und modernisie-
renden Periode einleitete, wiederum nur negativ konnotiert sein. Auch das kürzlich für Ga-
vrilo Princip errichtete Denkmal in Istočno Sarajevo blieb unerwähnt. Dass das Denkmal
nicht thematisiert wurde, scheint im Nachhinein logisch, würde eine solche Erwähnung
nach Erklärungen dafür verlangen, warum das historische Ereignis des Attentats und vor
allem die Figur Gavrilo Princips heute derart kontrovers erinnert und diskutiert wird.
Weiters machte es den Eindruck, als wäre die Thematik des Attentats von Sarajevo
nicht geeignet, einen dreistündigen Stadtrundgang zu füllen. Dies ergab sich einerseits aus
der Tatsache, dass die Tour anstatt nach drei, bereits nach zwei Stunden beendet war, was
womöglich aber auch dem Umstand geschuldet ist, dass es sich um eine äußerst kleine
Gruppe von gerade einmal zwei TeilnehmerInnen handelte. Bei größeren Gruppen muss
gewiss mehr Zeit einberechnet werden. Andererseits stellt sich in diesem Zusammenhang
jedoch die Frage, ob die einleitende Kontextualisierungsphase nicht vielleicht auch als Zeit-
füller genutzt wird. Diese Frage schließt an die Behauptung an, dass Sarajevo die ökonomi-
schen und finanziellen Vorteile erkannt hat, die das ‚branding‘ des Attentats für die Stadt
bringt und diese nun auch (aus)nutzt.
Demnach würde eine Zuordnung des Stadtrundgangs dem zuvor eingeführten touris-
tisch-motivierten Erinnerungsdiskurs auf der Hand liegen. Eine übertrieben positive Darstel-
lung der Habsburgermonarchie verweist allerdings auf den europäisch-orientierten Erinne-
rungsdiskurs. Der thematische Stadtrundgang kann somit – wie zuvor das Museum ‚Sara-
jevo 1878–1918‘ – zwischen diesen beiden Narrativen verortet werden: Das für den touris-
tisch-motivierten Erinnerungsdiskurs typische, sensationalistische Moment, das auf Sara-
jevo als Ort, an dem Weltgeschichte geschrieben wurde, aufbaut, ist hier eindeutig zu er-
kennen. Dabei wird jedoch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte
stark ausgeblendet, was es ein Leichtes macht, in ein pro-habsburgisches bzw. pro-europä-
isches Narrativ zu verfallen.
7.1.6. Souvenirs
Da sich aus der Untersuchung des Schauplatzes, des Museums und des thematischen Stadt-
rundgangs die Erkenntnis ergab, dass alle drei untersuchten Medien u.a. touristischen Zwe-
cken dienen und Sarajevo die „Marke“ des Attentats von 1914 ganz bewusst touristisch
85
nutzt, drängte sich eine weitere Untersuchungsebene im Bereich der Tourismuskultur auf
– nämlich jene der Souvenirs.55 Wie bereits erwähnt, reduziert sich der Kontakt und die
Kommunikation zwischen TouristInnen und Einheimischen vorrangig auf den Austausch
und Konsum kultureller Symbole. (vgl. Gyr 1992: 236) Neben dem Sightseeing zählt auch
der Einkauf von Souvenirs zum „obligaten Touristenprogramm“ (ebd. 234). Ueli Gyr (ebd.)
deutet den Kauf von Souvenirs als „demonstrativen Erlebnis- und Erfahrungskonsum“. Wer
solche Erinnerungsstücke
erwirbt, sie aufbewahrt, dauerhaft präsentiert oder bisweilen hervorholt, schafft für sich selbst und für andere Belege für gemachte Erfahrungen und Erfolge, demonstriert
eventuell den eigenen Geschmack und möglicherweise auch Reichtum gegenüber der sozialen Umwelt […]. (Evers, Holbach 20162: 10)
Souvenirs haben demzufolge Beweischarakter: Sie dienen als Beleg dafür, an einem be-
stimmten Ort gewesen zu sein. (vgl. Meiners, Werner 20162: 41) Die ersteigerten Erinne-
rungsstücke erhalten demnach also erst nach erfolgter Rückkehr in die eigene Gesellschaft
Bedeutung und verhelfen in dieser zu Prestigezuwachs. (vgl. Gyr 1992: 234) Die soeben ge-
nannten Motivationen hinter einem Souvenirkauf wären jedoch Kategorien zur Untersu-
chung des kommunikativen Gedächtnisses. In Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis könnte
eine Untersuchung der zum Verkauf angebotenen Erinnerungsstücke deshalb aufschluss-
reich sein, da sie auf Erinnerungshoheiten und gewisse Erinnerungsinteressen in einer Ge-
sellschaft verweisen.
Mit dem Aufkommen des Massentourismus wandelte sich auch die Produktion der
Andenken „[…] in eine gewaltige Souvenirindustrie, welche heutzutage die Urlaubsanden-
ken für Touristinnen und Touristen als Massenware herstellt und vertreibt.“ (Meiners,
Werner 20162: 44) Eine solche Souvenirindustrie setzt vor allem auf die Ideologie und Öko-
nomie des Exotischen. (vgl. Velikonja 2014: 152) Um es mit den Worten Mitja Velikonjas
(ebd.) auszudrücken, der eine altbekannte Redensart neu interpretiert hat: past sells – Ver-
gangenheit verkauft sich immer gut, egal welcher Art sie ist. Die massenhaft produzierten
Erinnerungsstücke sind jedoch nicht immer ideologisch neutral, sodass der Tourismuskul-
tur eigentlich die Aufgabe zukäme, seine eigene Position und die Folgen seiner Taten stän-
dig zu reflektieren. (ebd.)
55 Unter Souvenirs werden hier käuflich erworbene Erinnerungsstücke verstanden. Nicht in die Untersuchung miteinbezogen wurden Ansichtskarten, die aufgrund ihrer enormen Fülle und Untersuchungsmöglichkeiten häufig als eigene Analysekategorie behandelt werden.
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Wenn das Attentat und seine ProtagonistInnen einen so wichtigen Stellenwert für
den Tourismus der Stadt Sarajevo einnehmen, wäre es naheliegend, dass sich diese Tendenz
auch in den in Sarajevo angebotenen Souvenirs niederschlägt. Für eine solche Untersuchung
wurde das Verkaufsangebot der Souvenirläden in der historischen Altstadt Sarajevos unter-
sucht. Aufgrund der in den vorherigen Kapiteln (7.1.3; 7.1.4; 7.1.5) erlangten Erkenntnisse,
verwunderte es zu einem gewissen Grad, auf kein einziges, diesem historischen Ereignis
zuordbares Souvenir gestoßen zu sein.
Die Suche nach Souvenirs in Bezug auf das Attentat von Sarajevo blieb zwar ohne
Ergebnis; auf den Streifzügen durch die Innenstadt Sarajevos konnten jedoch zwei weitere
Zeugen der Tourismus- und Alltagskultur, die sich der positiv besetzten Erinnerung an die
K.-u.-k.-Monarchie bedienen, ausgemacht werden: das Teegeschäft „Franz & Sophie“56 so-
wie das „Franz Ferdinand Hostel“.57 Das Hostel versucht, mithilfe von Schautafeln und Bil-
dern die Geschichte des Attentats zu erzählen. Die Hotelgäste können in verschiedenen,
thematisch möblierten und dekorierten Zimmern, wie beispielsweise dem Franz Ferdinand,
Sophie Chotek, Mlada Bosna oder Gavrilo Princip Zimmer, nächtigen.
Auch wenn die Tourismuskultur Sarajevos (noch) nicht so weit geht, BesucherInnen
Andenken an das Attentat von Sarajevo in Form von Souvenirs anzubieten, zeugen jedoch
die Beispiele des Teegeschäfts und des Hostels, neben dem Schauplatz, dem Museum, der
Ausstellung in der Vijećnica und der Stadtführung von der positiv besetzten Erinnerung an
das Thronfolgerehepaar und der Zeit der Habsburgermonarchie in Bosnien. Anhand dessen
kann abgelesen werden, wie die erinnerungssymbolische Aufbereitung dieser Zeit dazu ge-
nutzt wird, sich selbst als – zumindest einst – europäisch darzustellen, was den Wunsch der
Aufnahme in die EU zum Ausdruck bringt.
Äußerst interessant wäre ein Besuch im Souvenirladen der eingangs erwähnten Re-
tortenstadt Andrićgrad gewesen, den jedoch der eng gesteckte finanzielle Rahmen dieser
Arbeit nicht erlaubte. Da die Attentäter und vor allem Gavrilo Princip dort offenkundig als
Helden gefeiert werden, darf die Vermutung aufgestellt werden, im dortigen Souvenir-
angebot auch Erinnerungsstücke an die Jungbosnier zu finden.
56 Siehe: http://www.franz-sophie.ba/ [01.05.19] 57 Siehe http://franzferdinandhostel.com/ [01.05.19]
87
7.2. Literatur
7.2.1. Literatur und kollektives Gedächtnis
Neben Denkmälern, Museen, der visuellen Markierung von erinnerungsrelevanten Orten
und dergleichen kann auch literarischer Text Medium des kollektiven Gedächtnisses wer-
den. Literatur weist ein vielschichtiges erinnerungskulturelles Potenzial auf. (vgl. Erll 20112:
173) Wie bei allen Medien des kollektiven Gedächtnisses geht es auch bei Literatur nicht
nur um ihre passive Funktionsweise, also, wie literarische Darstellungen Vergangenes in-
szenieren, sondern auch darum aufzuzeigen, wie die literarischen Texte aktiv auf kollektive
Erinnerungen und Identitäten wirken und „den gesellschaftlichen Kampf um Erinnerung
aktiv mitgestalten“ können (Neumann 2003: 51):
Fiktionale Texte können nicht nur Elemente der präexistenten Erinnerungskultur auf
verschiedenen textinternen Ebenen inszenieren, sie in neue Zusammenhänge überfüh-ren und so symbolisch verdichtet, oftmals alternative Vorstellungen kollektiver Erin-nerungen vermitteln. Vielmehr können sie auch auf textexterner Ebene als zentrale
Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses wirksam werden und hiermit einen ak-tiven Beitrag zur gesellschaftlichen Erinnerungspraxis und Identitätsfindung leisten.
(ebd. 50)
Als grundlegendes Denkmodell des komplexen Zusammenhangs zwischen kollektivem Ge-
dächtnis, Literatur und ihrer erinnerungskulturellen Wirkung kann der von Paul Ricœur
in Zeit und Erzählung (1988–91; zit. nach Erll 20112: 179f.) entworfene „Kreis der Mimesis“
herangezogen werden. Die literarische Welterzeugung stützt sich Ricœur zufolge auf ein
dreidimensionales Modell der Präfiguration (Mimesis I), Konfiguration (Mimesis II) und Re-
figuration (Mimesis III). (vgl. Erll, Gymnich, Nünning 2003: iv) Erstens sind literarische
Werke von einer extraliterarischen Wirklichkeit präformiert: „Literarische Werke entste-
hen im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Versi-
onen und Konzepte von Erinnerung und Identität […] kursieren.“ (ebd.) Zweitens kann Li-
teratur Erinnerung und Identität konfigurieren. Elemente der extratextuellen Wirklichkeit
können neu strukturiert, „[…] aber auch bestehende Strukturen durch neue Elemente ange-
reichert werden. Der literarische Konfigurationsvorgang ist somit ein Formungsprozess, bei
dem bestimmte Versionen von Kollektivgedächtnis auf poietische Weise konstruiert wer-
den.“ (Erll 20112: 182) Wie Gedächtnis selbst, stellt auch Literatur eine spezifische „Weise
der Welterzeugung“ (Goodman 1984; zit. nach: Erll 20112: 173) bzw. der „Gedächtniserzeu-
gung“ (Erll 20112: 173) dar. Der literarische Text konstruiert eigene Wirklichkeits- und
Vergangenheitsversionen. Diese Inszenierung von Erinnerung und Identität bzw. diese
88
konstruierte Vergangenheitsversion kann drittens durch den Rezeptionsakt Rückwirkungen
auf die extraliterarische Wirklichkeit haben:
Bedeutungszuschreibungen des Lesers wirken sich [...] nicht nur auf sein Textver-ständnis aus. Die literarische Darstellung verändert auch seine Wirklichkeitswahrneh-
mung und letztlich – durch seine Handlungen, die von literarischen Modellen beein-flusst sein können – auch die kulturelle Praxis und damit diese Wirklichkeit selbst. (Erll 20112: 183)
Eine Analyse der Mimesis III, also der Rückwirkung eines literarischen Textes auf die au-
ßertextuelle Wirklichkeit, kann aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz zu Entstehung
und Veröffentlichung der hier untersuchten literarischen Werke nicht Gegenstand dieser
Arbeit sein. Eine solche Untersuchung des literarischen Textes wäre des Weiteren dem
kommunikativen Gedächtnis zuzuordnen und nur durch RezipientInneninterviews oder -
befragungen, auf die die vorliegende Arbeit jedoch nicht ausgerichtet ist, möglich.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Literatur, wie auch andere
Medien des kollektiven Gedächtnisses, eine passive sowie eine aktive Funktion aufweist.
Durch die Untersuchung literarischer Texte können einerseits Rückschlüsse auf die Erinne-
rungskultur ihrer Entstehungszeit gezogen werden. Sie kann jedoch andererseits auch zum
Medium der Konstruktion von Erinnerung werden, wenn die in ihr entworfenen Alterna-
tivwelten auf kollektive Vergangenheitsversionen einer Erinnerungskultur Einfluss neh-
men. (vgl. Neumann 2003: 71)
Bei der literarischen Gedächtnisbildung können darüber hinaus zwei Funktionspo-
tenziale unterschieden werden. Die „Konstruktion und Affirmation“ einerseits, sowie die
„Dekonstruktion und Revision“ bestehender Erinnerungsstrukturen andererseits (Erll
20112: 197). Neu entworfene Vergangenheitsversionen können sich mehr oder weniger an
vorherrschende anschließen oder aber versuchen, diese zu hinterfragen, zu dekonstruieren
und umzugestalten. (ebd.) Der fiktionale Text ermöglicht es, sowohl dominierende als auch
marginalisierte, vergessene oder verdrängte Kollektivgedächtnisse zusammenzuführen und
somit blinde Flecke vorherrschender Vergangenheitsversionen offenzulegen und alterna-
tive Erinnerungsformen anzubieten. (vgl. Neumann 2003: 71.) Literarische Texte haben
dadurch das Potenzial, zum kritischen Reflexionsinstrument zu werden und den Kampf um
Erinnerung aktiv mitzugestalten. (ebd.)
89
7.2.2. Nezemaljski izraz njegovih ruku von Miljenko Jergović
Miljenko Jergovićs58 Roman Nezemaljski izraz njegovih ruku59 (‚Der nicht von dieser Welt
stammende Ausdruck seiner Hände‘) entstand während des Gedenkjahres 2014 (vgl. NINR:
Klappentext) und wurde erstmals 2017 veröffentlicht.
Der Aufbau des Werkes ist relativ ungewöhnlich: Es setzt sich aus zwei voneinander
unabhängigen Teilen zusammen. Während der zweite Teil eindeutig als Novelle charakte-
risiert werden kann, stellt sich eine literarische Genrezuteilung des ersten Teils als schwie-
riger dar. Im Klappentext wird der Roman als dokumentarno-igrani roman (‚Dokumentar-
spielroman‘) beschrieben (NINR: Klappentext) – eine bisher nicht definierte Textsorte. Der
erste Teil kann jedoch nicht – wie vielleicht zunächst angenommen werden möchte – der
Dokumentarliteratur zugerechnet werden, da diese einerseits einen Authentizitätsanspruch
stellt und andererseits mit den Verfahren der Montage und Collage arbeitet; Merkmale, die
auf Nezemaljski izraz njegovih ruku eindeutig nicht zutreffen. Auch handelt es sich nicht um
Semidokumentarismus, der zwar im Gegensatz zum klassischen Dokumentarismus keinen
Authentizitätsanspruch stellt, sich aber dennoch der Montage- und Collageverfahren be-
dient. (vgl. Blödorn 20073: 164) Viel eher kann der erste Teil von Jergovićs Werk als histo-
rischer Roman bezeichnet werden. In einem solchen werden „authentische historische Er-
eignisse, Orte, Personen und Verhältnisse in unterschiedlichen Graden der Fiktionalisie-
rung erzählerisch gestaltet.“ (Lampart 2009: 360) Des Weiteren zeichnet sich der historische
Roman durch eine scheinbar nahtlose Verknüpfung von Fiktion und Historie aus (ebd.);
beides Merkmale, die auch auf den ersten Teil von Jergovićs Roman zutreffen, da er darin,
wenn auch nur in äußerst geringem Ausmaß, die Wirklichkeit fiktionalisiert. Jergović kom-
biniert Fakten und Fiktion sowie offizielle und private Geschichte rund um das Attentat von
Sarajevo. Reale Menschen und Ereignisse, die in irgendeiner Art und Weise mit dem At-
tentat in Verbindungen stehen, werden miteinander verstrickt und in Beziehung gesetzt.
(vgl. Artić 2018)60 Dadurch zeichnet Jergović ein ausführliches Bild, nicht nur von Gavrilo
Princip und Franz Ferdinand, sondern auch wichtiger Umstände und Menschen in ihrem
58 Miljenko Jergović ist freier Schriftsteller und Journalist. Internationale Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine Kurzgeschichtensammlung Sarajevski Marlboro (‚Sarajevo Marlboro‘). Zu seinen bekanntesten Werken zählen u.a. Mama Leone, Buick Rivera, Freelander, Dvori od oraha (‚Das Walnusshaus‘) und Otac (‚Vater‘).
(vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/Miljenko_Jergovi%C4%87 [12.11.19]) 59 Für Zitate aus dem Werk Nezemaljski izraz njegovih ruku von Miljenko Jergović aus dem Jahr 2017 wird hier und in der Folge die Sigle NINR mit Angabe der Seitenzahl verwendet. 60 Der Roman war bisher noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Aus diesem Grund beschränkt sich die hier vorliegende Analyse ausschließlich auf Literaturkritiken als Sekundärliteratur.
90
Umfeld, die sie prägten und zu dem machten, was sie waren, und schlussendlich zu dem
folgenreichen Zusammentreffen am 28. Juni 1914 führten. Dies geschieht mit der für Jergo-
vićs Stil typischen Raffinesse, sodass sich den LeserInnen immerzu die Frage nach Fiktion
und Wirklichkeit stellt.
Die Erzählung beginnt mit der Gegenüberstellung Gavrilo Princips und Franz Ferdi-
nands, die Ähnlichkeiten sowie Unterschiede in den Lebensläufen der beiden Männer auf-
zeigt. Sie verweilt allerdings nicht nur bei Attentäter und Thronfolger, sondern geht sodann
zu zahlreichen weiteren Menschen über, die auf die eine oder andere Weise mit dem Atten-
tat verbunden waren, beginnend in der Zeit einige Jahre vor dem Attentat bis hin zu den
1970er Jahren. (vgl. www-ninr) Mit einem dünnen Faden verbindet Jergović die beiden
Protagonisten u.a. mit Nedeljko Čabrinović, Danilo Ilić, Ivo Andrić, Vladimir Dedijer, Leo
Pfeffer, der Geheimorganisation Crna ruka und zwei Spielfilmen über das Attentat sowie
den beiden Schauspielern, die die Rolle Gavrilos verkörperten. Aus Gründen des Platzman-
gels kann hier jedoch nur auf die Darstellungen Princips und Franz Ferdinands genauer ein-
gegangen werden.
Der zweite, kürzere Teil des Romans setzt sich aus einer Aneinanderreihung von Mo-
nologen fiktiver, „gewöhnlicher“ miteinander verbundener Menschen, die das schwierige
Leben in Sarajevo nach dem Attentat leben, zusammen. Immer drei Personen kommen zu
Wort: das Geschwisterpaar Marko und Mara Besarović sowie Anton (Toni) Šlejer, dessen
Platz später Alija Piro einnimmt.
Diese ungewöhnliche Komposition des Romans kann auch als Einblick in Jergovićs
Arbeit als Autor verstanden werden. Einem ausführlichen Quellenstudium (= erster Teil)
folgt die fiktionale Sicht des Autors (= zweiter Teil). Zudem offenbarte der Autor selbst, dass
er gerne einen großen Roman über das Attentat von Sarajevo geschrieben hätte. Für einen
solchen Roman fehlen ihm jedoch Dinge, die nie in Erfahrung gebracht und auch nicht
durch Imagination ersetzt werden können. Daher entschied sich Jergović, das Material für
diesen Roman, der nie geschrieben werden wird, zu sammeln. Und eben jenes Material stellt
den ersten Teil von Nezemaljski izraz njegovih ruku dar. (vgl. www-gespräch: 27:30–29:10)
Im ersten Teil des Romans mit dem Titel Atentat (‚Attentat‘) werden Gavrilo Princip
und Franz Ferdinand entgegen bisher dominierender Erinnerungen dargestellt. Jergović be-
müht sich um ein Bild, das die Menschen hinter den Rollen, die Princip und Franz Ferdi-
nand meist von außen zugeschrieben werden, offenbart. So zeigen die beiden in Nezemaljski
izraz njegovih ruku auch völlig andere Facetten und Züge als jene, mit denen sie üblicher-
weise assoziiert werden. Gavrilo Princip ist in Jergovićs Werk weder Held noch Terrorist,
91
Franz Ferdinand weder großzügiger Modernisierer noch Tyrann. Mit seinem Werk zeich-
net er ein umfangreiches literarisches Bild von Gavrilo Princip und Franz Ferdinand, frei
von jeglicher ideologischen Färbung. Dazu hebt er auch die Gemeinsamkeiten der beiden
heraus. Seit den Schüssen sind Täter und Opfer untrennbar miteinander verbunden. Jedoch
immer in einer solchen Konstellation, in der der eine dämonisiert und der andere idealisiert
wird. Da die beiden heute von niemandem „mit gleichen Augen“61 betrachtet werden, wird
über Princip und Franz Ferdinand immer nur aus einem ideologischen Blickwinkel heraus
geurteilt. Jergović (www-gespräch: 27:30–29:10) kritisiert, dass heute niemand sowohl ge-
genüber dem einen als auch dem anderen „elementares, menschliches Verständnis“62 zeigt.
Alles, was im Jahr 2014 über das Attentat gesagt und geschrieben wurde, war gefärbt vom
Hass, abhängig vom „ideologischen Geschmack“,63 so der Schriftsteller. Für sein Buch
musste er aber beide Positionen – die des Täters und die des Opfers – einnehmen, wodurch
es ihm gelungen ist, beide Figuren den LeserInnen empathisch zu öffnen.
An dieser Stelle wird auch das zuvor erwähnte Wirkungspotenzial von Literatur als
Medium des kollektiven Gedächtnisses sichtbar. Jergović zeigt in seinem Roman margina-
lisierte und vergessene bzw. verdrängte Erinnerungspositionen auf und verbindet sie mit
vorherrschenden Kollektivgedächtnissen, wodurch blinde Flecke in der Erinnerung an das
Attentat und seine ProtagonistInnen aufgezeigt werden und sich den LeserInnen eine völlig
neue Perspektive auf das Vergangene eröffnet.
Jergović konzentriert sich also nicht nur auf die Unterschiede zwischen den Lebens-
läufen von Gavrilo Princip und Franz Ferdinand, sondern auch auf ihre Gemeinsamkeiten:
Beide Männer litten an Tuberkulose, beide wuchsen unter dominanten Müttern auf und
beide waren – und das ist wahrscheinlich die wichtigste Überschneidung in ihren Lebens-
läufen – prädestinierte Versager und Außenseiter, die in vielfacher Hinsicht von ihrem ge-
sellschaftlichen und privaten Umfeld nicht verstanden wurden. (vgl. Žiković 2018) Beiden
teilte das Schicksal ihre Rolle in der Geschichte zu: Als Neffe des österreichisch-ungarischen
Kaisers Franz Joseph war Franz Ferdinand nie als Thronfolger angedacht, was sich jedoch
mit dem Tod aller anderen, potentiellen Thronfolger änderte. Genauso war es auch nie ge-
dacht, dass Gavrilo Princip den Thronfolger ermorden sollte. Er war der letzte in der Reihe
der sieben Attentäter, die sich entlang der Route von Franz Ferdinands Konvoi positionier-
ten und sollte nur dann einschreiten, wenn alle anderen vor ihm versagten. (vgl. NINR 9)
61 „istim očima“ (www-gespräch.: 34:45–34:50) 62 „elementarno, ljudsko razumijevanje“ (www-gespräch: 34:50–35:00) 63 „zavisi od ideološkog ukusa“ (www-gespräch: 35:25-35:35)
92
Als weitere Gemeinsamkeit beschreibt Jergović, dass sowohl Franz Ferdinand als auch Ga-
vrilo Princip etwas Ritterliches an sich hatten: Franz Ferdinand verteidigte hartnäckig seine
Liebe zu einer vom Kaiser als dem Thronfolger nicht ebenbürtig angesehenen Frau. Sophie
Chotek wurde vom kaiserlichen Hof offen brüskiert, was sowohl sie als auch Franz Ferdi-
nand zutiefst kränkte. Die gemeinsame Reise nach Sarajevo kann als Trotzreaktion Franz
Ferdinands gegenüber seinem Onkel, dem Kaiser, gesehen werden und stellte für ihn eine
Gelegenheit dar, Sophie der Welt endgültig als zukünftige Kaiserin zu präsentieren. (vgl.
Žiković 2018) Das, so schreibt der Autor in seinem Roman, war jedoch die einzige Sache,
der sich der Thronfolger uneingeschränkt verschrieben hatte und die einzige Angelegen-
heit, in der er dem kaiserlichen Hof die Stirn bot. (vgl. NINR 18) Princips Mission hingegen
bestand darin, sich für eine gemeinsame Sache, für den gemeinsamen südslawischen Staat
einzusetzen und sich schlussendlich dafür zu opfern.
Das Buch zeigt aber auch die gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Män-
nern auf. Jergović beschreibt Franz Ferdinands Schulbildung als recht oberflächlich. Er cha-
rakterisiert den Thronfolger als Mann ohne jedweden Intellekt, der nicht belesen war und
dessen Kunstgeschmack dem eines Wiener Kleinbürgers glich. Franz Ferdinands Gemüt
vergleicht Jergović mit dem eines Fußballfans, dem die UngarInnen mit ihrem Verlangen
nach Unabhängigkeit schnell lästig wurden und für den die SlawInnen ein nebensächliches
Problem darstellten. (vgl. NINR 89f.) Der Thronfolger wird als nahezu einfältig dargestellt,
wenn der Autor Folgendes schreibt:
Aber Franz Ferdinand schaute auf sie [die Serben – J.E.] und ihren Widerstand mit
einer Kombination aus Verachtung und Unterschätzung. Was sind überhaupt diese Serben und wo ist überhaupt dieses Serbien, dass man sich um sie kümmern müsste? Und woher kommen eigentlich die Serben in Bosnien? Warum sind die Serben nicht
in Serbien, so wie, sagen wir, Afrikaner in Afrika, Chinesen in China, Mäuse in Mau-sefallen? Darüber denkt Franz Ferdinand während der Annexionskrise nach, worauf-
hin ihn noch mehr der Zorn packt.64
Franz Ferdinands Kleingeist kommt auch an anderer Stelle zum Ausdruck: Die Freude des
Thronfolgers darüber, dass seine geliebte Frau Sophie in Sarajevo so herzlich empfangen
und ihm ebenbürtig behandelt wird, ist überaus groß. Denn diese „primitive und ordinäre
64 „Ali Franjo Ferdinand je na njih [Srbe – J.E.] i na njihov otpor gledao s kombinacijom prezira i podcjenjivanja. Što su, uopće, ti Srbi, i gdje je, uopće ta Srbija, da bi se o njoj vodilo računa? I odakle, zapravo, Srbi u Bosni? Zašto Srbi nisu u Srbiji, kao što su, recimo, Afrikanci u Africi, Kitajci u Kini, miševi u mišolovci? Razmišlja o tome Franjo Ferdinand u vrijeme aneksione krize, i nakon toga, pa ga sve više hvata gnjev.“ (NINR 92)
93
Welt“65 kennt keine jahrhundertealten höfischen Regeln und Vorschriften und macht kei-
nen Unterschied zwischen den beiden. Dadurch schafft Jergović einen Zustand der Umkeh-
rung der beiden Welten, in der die angeblich primitive Welt, plötzlich viel fortschrittlicher
wirkt als die angeblich fortschrittliche Welt aus der Franz Ferdinand stammt.
Princips Bildung unterschied sich hingegen völlig von jener Franz Ferdinands. Er
ging, wie die meisten anderen Jungbosnier, aufs Gymnasium, liebte die Poesie, versuchte
sich sogar selbst als Dichter und war überaus belesen. (vgl. NINR 15–18) Princip wird als
überzeugter Atheist beschrieben, dessen Poesie und politische Selbstständigkeit bereits als
Kind seinen Glauben ersetzten. (vgl. NINR 12f.) Von klein an war Gavrilo ein Idealist mit
einem ausgesprochen hohen Grad an Selbstreflexion. (vgl. NINR 13) Sein leidenschaftliches
Verhältnis zur Literatur entfaltete sich während seiner Zeit auf dem Gymnasium in vollem
Ausmaß. Er begann alles zu lesen, was ihm in die Hände fiel. Das meiste davon galt zur
damaligen Zeit als „Schundliteratur“. Doch genau diese „Schundliteratur“ bewirkte nicht nur
in Princip, sondern in einem Großteil der gebildeten bosnischen Jugend im Allgemeinen,
sich frühe Vorstellungen gesellschaftlicher Vorbilder zu machen. (vgl. NINR 15f.)
Auch in Sachen Liebe unterschieden sich die beiden Männer völlig voneinander.
Während sich Franz Ferdinand beharrlich für seine große Liebe Sophie einsetzte, unermüd-
lich für ihre Anerkennung kämpfte und lieber auf den Thron, denn auf seine Frau verzichtet
hätte, interessierte sich der spätpubertäre Princip wenig für Frauen oder die Liebe. (vgl.
NINR 18f.)
Wie zuvor erwähnt, nähert sich Jergović den Menschen und Ereignissen in seinem
Buch ohne jegliche ideologische Intention. So wehrt sich der Autor auch gegen die serbisch-
nationalistische Vereinnahmung Princips, die u.a. auch in der Verbindung der Mlada Bosna
zur großserbischen Crna ruka wurzelt. Dass eine solche Verbindung bestand, steht – wie
bereits an früherer Stelle (vgl. Kap. 4) gezeigt – außer Frage, umstritten ist jedoch deren
Motivation.
Der Unterschied zwischen der jungbosnischen und austrophilen Legende über das At-tentat von Sarajevo besteht darin, dass die Jungbosnier auf ihre jugoslawischen Ideale
insistieren, während ihnen die Austrophilen eine großserbische Ideologie zuschrei-ben.66
65„ovaj svijet, primitivan i prost“ (NINR 22) 66 „Razlika između mladobosanske i austrofilske legende o Sarajevskom atentatu sastoji se u tome što mladobosanci instistiraju na svojim jugoslavenskim idealima, dok im austrofili priprisuju velikosrpsku ideologiju.“ (NINR 45)
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Während Austrophile, wie auch das serbisch-nationalistische Narrativ, die Verbindung der
Mlada Bosna zur Crna ruka als Zeichen großserbischer Neigungen der Jungbosnier deuteten
bzw. deuten, betont Jergović, dass die Attentäter diese Verbindung nur eingingen, um an
Waffen für das Attentat zu gelangen67 und insistiert – genau wie die Jungbosnier selbst –
auf ihre jugoslawische Gesinnung. (vgl. NINR 45) Nichtsdestotrotz spielte der Anschlag auf
die Doppelmonarchie der Crna ruka und ihren großserbischen Bestrebungen in die Hände,
die die damit einhergehende destabilisierte, politische Lage strategisch für sich zu nutzen
versuchte. Im Gegensatz dazu verfolgte die Mlada Bosna weder ein stringentes ideologisches
Programm noch hatte sie genaue Vorstellungen von der Staatsform, in der sich ihre jugo-
slawische Idee verwirklichen sollte, und hatte dementsprechend auch keine Pläne für das
weitere strategische Vorgehen nach dem Attentat.
Zum Zeitpunkt des Attentats war Princip 19 Jahre alt. Aus Gründen der Schuldzuwei-
sung an der Tat scheint es überaus interessant zu beleuchten, ob der Attentäter in Jergovićs
Werk als Kind oder als Erwachsener gezeichnet wird. Während einem Kind zumindest nur
teilweise Schuld für sein Tun zugesprochen werden könnte, müsste ein Erwachsener die
volle Verantwortung für seine Tat übernehmen. Auf die Frage der Schuldzuweisung will
Jergović jedoch keine absolute Antwort geben. In Jergovićs Werk werden er und seine Mi-
tattentäter nicht eindeutig als Kinder oder Erwachsene dargestellt. Vielmehr befinden sie
sich an der Schwelle zum Erwachsensein.
In den frühen Jahren, und er [Gavrilo – J.E.] ist noch ein Junge, vergeht die Zeit lang-sam, da Körper und Geist sich in ständigem Wandel befinden und einige Wochen aus-reichend sind, dass sich der Mensch völlig umformt.68
Obwohl Jergović Princip als Jungen bezeichnet, porträtiert er ihn dennoch nicht als un-
schuldiges, naives Kind, das sich der Folgen, die seine Tat nach sich ziehen würde, nicht
bewusst war. Vielmehr drängt sich einem das Bild Princips als Spätpubertierender auf. Im
Roman wird Princip vor allem während der Gerichtsverhandlung und seiner Gefangen-
schaft mit einem Verhalten dargestellt, das sowohl als ausgeprägtes Verantwortungsbe-
wusstsein und Willensstärke als auch als spätpubertierende Engstirnigkeit und Sturheit aus-
gelegt werden kann.
Er verhielt sich einwandfrei, wie der vorbildlichste Revolutionär, seinen Platz in der
Geschichte und Ewigkeit sorgfältig gestaltend. Es war ihm wichtig, in keinem Moment
67 Vgl. dazu NINR 138: „Od Apisa su htjeli samo oružje.“ [Von Apis wollten sie nur die Waffen.] Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, war serbischer Offizier und Gründungsmitglied der Crna ruka. 68 „U ranim godinama, a on [Gavrilo – J.E.] je još dječak, vrijeme prolazi sporo, jer su tijelo i duh u stalnim mijenjama, pa je nekoliko tjedana dovoljno da se čovjek sasvim preobrazi.“ (NINR 31)
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gedemütigt zu werden und aus allem sauber hervorzugehen. Er empfand keine Reue,
er beschwerte sich über nichts im Gefängnis, außer darüber, dass sie ihm keine Bücher gaben, dass sie ihn davon abhielten zu lesen… Und gleich zu Beginn der Ermittlungen
zeigte er Reue am Tod der Herzogin Sophie. Das war ein unglücklicher Zufall. Er wird sie für immer in seiner Seele tragen… Ihr Tod belastete ihn, er ging zu weit, das war
kein Tyrannenmord mehr, für sie konnte er sich nicht rechtfertigen. Nicht ihnen ge-genüber, denn es gibt keinen Grund sich ihnen gegenüber zu rechtfertigen, sondern sich selbst und seinem Glauben gegenüber.69
Hinsichtlich der Ermordung Franz Ferdinands war Princip auch in den Jahren seiner Ge-
fangenschaft reinen Gewissens. Er stand weiterhin hinter seinen Idealen und seiner Tat.
Einzig der Tod Sophies plagte ihn mit Gewissensbissen. Diesen Tod konnte er vor sich selbst
nicht rechtfertigen, da sie keine Tyrannin, kein Symbol der Fremdherrschaft, sondern Opfer
eines unglücklichen Zufalls war. Die Jungbosnier vertraten – wie so viele andere ihrer Zeit-
genossInnen im damaligen Europa – die Theorie des Tyrannenmordes, die auf der Meinung
beruht, dass ein politischer Mord leichter zu verantworten sei, als seine MitbürgerInnen der
Unterdrückung und Gewalt eines/einer Tyrannen/Tyrannin auszusetzen. (vgl. NINR 31)
Obwohl Franz Ferdinand selbst nicht unbedingt als Tyrann bezeichnet werden kann, stellte
er für die Attentäter als Thronfolger jedoch ein Symbol der tyrannischen Fremdherrschaft
dar. Aus Sicht der Attentäter schossen sie nicht auf den Menschen Franz Ferdinand, sondern
auf den Thronfolger der unrechtmäßigen Fremdherrschaft. (vgl. NINR 27, 31) Princips Be-
ständigkeit kann sowohl als Charakterzug als auch als Zeichen spätpubertierender Dickköp-
figkeit, die seinem Alter geschuldet ist, gedeutet werden. In dieser Hinsicht ist in der Figur
eine gewisse Tragik angelegt: Wenn Princip sein „größtes Werk“ – also den Mord an Franz
Ferdinand – in Frage stellen würde, würde das auch seine Gefangenschaft, seine Aufopfe-
rung und in letzter Konsequenz seinen gesamten Lebenssinn auf den Prüfstand stellen. Die
These von Princip als Spätpubertierendem wird durch sein Desinteresse an und seiner Un-
erfahrenheit mit Frauen noch bekräftigt.
Jergović versucht in Nezemaljski izraz njegovih ruku Verständnis für Princip und die
anderen Attentäter aufzubringen, nicht aber Princips Tat zu relativieren oder gar zu ver-
herrlichen. Die Jungbosnier werden als eine Gruppe junger Dichter und Idealisten darge-
stellt, die trunken vom Glauben an eine jugoslawische Vereinigung und begeistert von der
69 „Držao se besprijekorno, kao najuzorniji revolucionar, oblikujući pažljivo svoje mjesto u povijesti i vječnosti.
Ili mu je samo bilo stalo da se nijednog trenutka ne ponizi i da iz svega izađe čist. Nije se pokajao, nikada se ni na što u zatvoru nije žalio, osim na to što mu ne daju knjige, brane mu da čita… I jasno se, već na početku istrage, pokajao za ubojstvo vojvotkinje Sofije. To je nesretan slučaj. On će je zauvijek nositi na duši… Njezina smrt ga je opterećivala, bila mu je višak, nije to više bilo tiranoubojstvo, nije se za nju mogao opravdati. Ne pred njima, jer se pred njima nema razloga pravdati, nego pred sobom i svojom vjerom.“ (NINR 43f.)
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Idee, sich für etwas Größeres zu opfern, waren. Jergović versucht zu erläutern, woher dieser
Gedanke, für etwas Größeres sterben zu wollen, rührt. Dies veranschaulicht er anhand Ivo
Andrićs (ebenfalls Mitglied der Mlada Bosna) Lebenslauf: In einer Zeit, in der der Tod, vor
allem auch aufgrund zahlreicher Tuberkuloseerkrankungen, allgegenwärtig war, schien es
ein guter Anlass, etwas in seinem Leben zu finden, für das es sich zu Sterben lohnte. Dies
galt besonders dann, wenn man selbst an dieser Krankheit litt, was bekanntlich auf Ivo
Andrić sowie Gavrilo Princip zutraf.
[…] Ivo litt an einer Krankheit, an der auch seine Schulkollegen verstarben, in jeder Generation Maturanten starben zwei, drei, man lebte umgeben von Tod und so gab es
einen guten Grund dafür Ideen zu finden für die man im Anschluss sterben würde. Die Jungbosnier, jugoslawische Nationalisten und Idealisten aus dem Gymnasium begrün-
deten ihre revolutionären und idealistischen Sehnsüchte in der Idee eines nahen Mär-tyrertodes.70
Anstelle eines unehrenvollen Todes nach langer Krankheit zog der Attentäter von Sarajevo
den ruhmreichen Märtyrertod vor.
Eindeutig sind in Nezemaljski izraz njegovih ruku zwiespältige Gefühle gegenüber dem
Attentäter selbst auszumachen. Für Jergović ist es durchaus heldenhaft, für seine Überzeu-
gungen und Ideale wie Gavrilo Princip einzustehen und für sie zu kämpfen. Die Art und
Weise aber wie er das tat – mit einem Mord aus dem Hinterhalt – kann für Jergović keines-
wegs als heldenhaft gelten. (vgl. NINR 42) Auch die Rechtfertigung des Mordes durch die
Theorie des Tyrannenmords teilt Jergović nicht mit den Attentätern. Franz Ferdinand mag
vielleicht nicht der strategische Modernisierer Bosniens, als der er heute gerne angesehen
und inszeniert wird, gewesen sein; als Tyrann, der sein Volk unterdrückt und terrorisiert,
kann er aber mit Sicherheit auch nicht bezeichnet werden.
Eine der wichtigsten Kernaussagen von Jergovićs Roman besteht darin, dass die Tat
des Attentats nicht aus dem Gesichtspunkt heutiger, sondern ausschließlich damaliger mo-
ralischer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Kriterien betrachtet werden darf.
(vgl. NINR 26f.)
[…] alle, die heute über Princip mit Hass sprechen, wenden auf ihn die moralischen, kulturellen und politischen Kriterien der heutigen Welt an. Nicht berücksichtigt wird
70 „[…] Ivo je bio zaražen bolešću, od koje su umirali i njegovi školski drugovi, u svakoj generaciji maturanata pala bi ih dvojica-trojica, živjelo se s bliskom smrću, i postojao je dobar razlog da se traži i nalazi ideja za koju će se napoprijeko umrijeti. Mladobosanci, jugoslavenski nacionalisti i idealisti iz Velike gimnazije svoje su revolucionarne, idealističke žudnje sjedinjavali s pjesničnim ambicijama upravo u ideji bliske, mučeničke smrti.“ (NINR 105f.)
97
das, was Gavrilo Princip im Sinn hatte als er schoss, an was er glaubte und wie er sich
seine ideale Welt vorstellte […].71
Dazu gehört auch die Tatsache, dass das Konzept des Tyrannenmords zu jener Zeit – salopp
gesagt – nichts Außergewöhnliches darstellte. (NINR 32f.) Das Attentat von Sarajevo war
nur eines von vielen Attentaten der damaligen Zeit. So tief im Gedächtnis verwurzelt ist es
aufgrund der weitreichenden und furchtbaren Folgen, die es auslöste.
Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers versteht Jergović als pa-
radoxe Folge der Modernisierungs- und Aufklärungsmission der Habsburgermonarchie in
Bosnien-Herzegowina. Mit seinen Schüssen beendete Gavrilo Princip dieses einzig ernst-
hafte Modernisierungsprojekt in der Geschichte Bosniens. Das Attentat sieht Jergović je-
doch als eine Folge eben dieses gesellschaftlichen Wandels, denn bei denjenigen, die auf den
Thronfolger schossen, handelte es sich um Kinder genau dieses Modernisierungsprozesses,
um Kinder, denen die Fremdherrschaft Zugang zum österreichischen Schulwesen ver-
schaffte und die in eben diesem Schulwesen auch ihre Bildung erhielten. (vgl. www-ge-
spräch 05:00–05:40) Dieser gesellschaftliche Wandel und die breitere schulische Bildung der
Jugend, die er mit sich brachte, musste zwangsläufig in einem Attentat gegen die Fremd-
herrschaft enden.
Folgt man der Auffassung von Jergovićs soeben beschriebenem Paradoxon, so scheint
es völlig absurd, für eine Seite Partei zu ergreifen, da das Attentat eine logische Schlussfol-
gerung des Modernisierungsprozesses der Habsburgermonarchie in Bosnien darstellte. Der
Autor zeigt hiermit auf, dass weder eine Heroisierung Princips noch eine Verklärung der
Fremdherrschaft, die sich in einer heutigen Habsburg-Sehnsucht und einer Hochstilisierung
derselben äußert, begründet ist. Damit wirkt sein Text allen bisherigen Interpretationsar-
ten, die eine der beiden Hauptfiguren dämonisieren und die andere idealisieren, entgegen.
Aber nicht nur sein Hinweisen auf dieses Paradoxon trägt zur Dekonstruktion ideologisch
gefärbter Erinnerungsdiskurse bei. Gerade die im Buch spürbare schizophrene Haltung ge-
genüber dem Attentat und seinen ProtagonistInnen ist dafür verantwortlich, allen im Werk
auftretenden Charakteren eine Seele einzuhauchen und sie so weit zu vermenschlichen, dass
die LeserInnen sie als reale Personen mit all ihren Tugenden und Schwächen erleben kön-
nen. (vgl. Blažević 2018) Dieses gänzlich menschliche und keineswegs verklärte Bild bietet
die Möglichkeit einer völlig neuen Perspektive des kollektiven Gedächtnisses. Der Roman
71 „[…] svi koji danas o Principu govore s mržnjom, primjenjujući na njega moralne, kulturne i političke kriterije današnjega svijeta. Ne vodeći računa o tome što je imao na umu Gavrilo Princip kada je pucao, u što je vjerovao i kako je zamišljao idealni svijet […].“ (NINR 26f.)
98
ermöglicht seinen LeserInnen den ProtagonistInnen gegenüber gleichzeitig sowohl kritisch
als auch empathisch zu reagieren und lädt damit zum Nachdenken ein.
Beim zweiten Teil von Nezemaljski izraz njegovih ruku, der den Titel razrada (‚Ausar-
beitung‘) trägt, handelt es sich um einen zur Gänze fiktiven Text, komponiert aus einer An-
einanderreihung von Monologen. (vgl. www-gespräch 1:07:20–1:07:35) Erzählt wird aus
der Perspektive dreier bzw. vier gewöhnlicher Menschen: dem Geschwisterpaar Marko und
Mara Besarović sowie Toni Šlejer, der später durch Alija Piro ersetzt werden wird. Gezeigt
wird das schreckliche und höllische Leben im Sarajevo nach dem Attentat. Die Monologe,
aus denen sich die Novelle zusammensetzt, haben die Folgen des Attentats zum Inhalt und
werden aus einer gewissen zeitlichen Distanz erzählt.
In diesem zweiten Teil des Romans blickt Jergović unter dem Aspekt der kriegeri-
schen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre auf das Attentat zurück. Die ProtagonistIn-
nen stehen repräsentativ für die heutigen drei konstitutiven Völker Bosniens. Marko und
Mara sind orthodox, Toni Katholik und Alija Muslim. Für keinen der Charaktere spielt die
Religion allerdings eine große Rolle. Die ProtagonistInnen sind weder überaus religiös noch
zeigen sie dezidiert irgendeine Art der Abneigungen gegenüber Mitgliedern anderer Kon-
fessionen. Alle Figuren – und somit auch die Glaubensgemeinschaften, denen sie angehören
und die sie repräsentieren – sind auf natürliche Art und Weise miteinander im gemeinsa-
men städtischen Leben und Alltag verbunden und verwoben. Jergović verweist auch darauf,
dass bereits die Elterngeneration friedlich zusammenlebte und gibt uns keinen Grund zur
Annahme, dass dies jemals zuvor anders gewesen wäre. (vgl. NINR: 189) Als aber nach dem
Attentat der serbischen Bevölkerung die Kollektivschuld für den Tod des Thronfolgerehe-
paars zugesprochen wird, beginnt dieses natürlich gesponnene Gewebe löchrig zu werden.
Das gemeinsame Leben wird nun zum Problem für die Bevölkerung Sarajevos im Speziellen
und Bosniens im Allgemeinen. Im Attentat von Sarajevo und dem Umgang damit sieht Jer-
gović das Grundübel der kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er und der heutigen
Zeit. Für den Schriftsteller stellt die schreckliche Zeit nach dem Attentat ein wichtiges Mo-
ment in der Geschichte der Stadt dar. Diese Zeit wird im heutigen Sarajevo allerdings nicht
thematisiert, da sie einen Schatten auf Sarajevo als die oftmals postulierte Stadt der Koexis-
tenz verschiedener Konfessionen und der zwischenvölkischen Liebe werfen würde. Und aus
genau diesem Grund, so Jergović (vgl. www-gespräch 01:03:20–01:04:20), versucht man es
zu vermeiden, sich mit eben jenem blinden Fleck der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
99
Auf den ersten Blick mag es vielleicht paradox wirken, das Grundübel der kriegeri-
schen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre in einem Akt zu sehen, der eigentlich das
genaue Gegenteil – nämlich eine Vereinigung aller südslawischen Völker – erreichen wollte.
Dieser Widerspruch konnte nur deshalb entstehen, weil die für das Attentat Verantwortli-
chen sich nicht im Klaren darüber waren, was die Tat tatsächlich bezwecken sollte. Somit
bot die antiimperialistische, aber ideologisch nicht ausgefeilte Tat einen Nährboden für zwei
völlig konträre Deutungen: Einerseits wurde und wird sie als nationalistische, alle SerbIn-
nen vereinende und andererseits als transnationale, alle SüdslawInnen vereinende Tat in-
terpretiert.
Der Roman zeigt – wie bereits erläutert wurde – marginalisierte und vergessene bzw.
verdränge Erinnerungspositionen auf und verbindet bzw. konfrontiert sie mit vorherr-
schenden Kollektivgedächtnissen. Auf diese Weise werden blinde Flecke in der Erinnerung
an das Attentat und seine ProtagonistInnen sichtbar gemacht. Die ProtagonistInnen tun sich
ohne jedwede ideologische Intention mit all ihren Tugenden und Schwächen vor den Lese-
rInnen auf, was eine völlig neue Perspektive auf das Vergangene eröffnet. Das ist Jergović
vor allem deshalb wichtig, da er im noch nicht aufgearbeiteten historischen Ereignis des
Attentats den Ursprung heutiger interethnischer Spannungen sieht. Dadurch erklärt sich
auch die ungewöhnliche Komposition des Werks: Im akribisch recherchierten und als his-
torischer Roman angelegten ersten Teil betreibt Jergović intensives Quellenstudium, das
den RezipientInnen eine wertneutrale Sicht auf das historische Ereignis bietet. Im zweiten,
als Novelle konzipierten Teil denkt sich der Autor sodann in seinem Metier – in einer rein
fiktiven Sicht auf die Dinge, die bestehende Erinnerungsstrukturen kritisch hinterfragt und
dekonstruiert sowie eine Neugestaltung der Erinnerung an das Attentat vornimmt.
Auch gegen eine Vereinnahmung Princips durch das serbisch-nationalistische Narra-
tiv kämpft der Roman an. Er betont die jugoslawische (und nicht die serbische) Gesinnung
der Attentäter, die eindeutig aus ihren Zeugenaussagen während der Gerichtsverhandlun-
gen hervorgeht. Darauf basierend nimmt er auch eine Revision des Verhältnisses zwischen
der Mlada Bosna und der Crna ruka vor. Während manche Erinnerungsdiskurse in dieser
Verbindung Beweise für eine großserbische Gesinnung der Anhänger der Mlada Bosna se-
hen, besteht Jergović auf das Verhältnis der beiden Geheimorganisationen, welches aus-
schließlich im gegenseitigen Nutzen bestand. Das Ziel des Anschlags mag das gleiche gewe-
sen sein, die Intention dahinter allerdings nicht.
100
Das Bild der Attentäter wird ebenfalls einer Revision unterzogen: Es handelte sich
nicht um fanatische Aufrührer mit kriminellem Hintergrund, sondern um gebildete Jugend-
liche an der Schwelle zum Erwachsenenalter, deren Aufopferungsbereitschaft für einen ge-
meinsamen jugoslawischen Staat möglicherweise auch ihrer spätpubertierenden Dickköp-
figkeit geschuldet war.
Obwohl der Text äußerst detailliert und historisch genau geschrieben ist, darf er den-
noch nicht als tatsächliche Rekonstruktion des Ereignisses und seiner ProtagonistInnen, als
eine Abbildung der Wahrheit, verstanden werden. Er ist vielmehr ein Appell, sich der The-
matik und der Persönlichkeiten nicht aus einem ideologisch gefärbten Blickwinkel heraus
anzunähern, sondern eine wertneutrale Position gegenüber dem Ereignis einzunehmen.
Mit diesem Roman schafft es Jergović, das historische Ereignis des Attentats in einem neuen
Gewand zu präsentieren – als ein Geflecht von Gegebenheiten und Koinzidenzen, das eine
Flut an Folgen mit sich brachte. (vgl. Blažević 2018) Daher lässt sich die literarische Kom-
position auch nur schwer einem der zuvor herausgearbeiteten Erinnerungsdiskurse zuord-
nen. Der Roman weist mehrere Parallelen zum antiimperialistischen Erinnerungsdiskurs
auf: Wie das antiimperialistische Narrativ verfolgt auch Jergović in seinem Werk die Inten-
tion, die historische Figur des Gavrilo Princip nicht der Vereinnahmung des serbisch-nati-
onalistischen Narrativs zu überlassen. Darüber hinaus äußert der Roman starke Kritik am
in der Region herrschenden Nationalismus, dessen Ursprung Jergović im bis heute nicht
ausreichend aufgearbeiteten Ereignis des Attentats sieht. In Nezemaljski izraz njegovih ruku
ist zwar deutlich ein antiimperialistisches Moment auszumachen, dieses steht jedoch nicht
im Vordergrund. Der Aufmerksamkeitsstrahl des Werks richtet sich viel mehr auf eine
wertneutrale und differenzierte Sicht auf die beiden Persönlichkeiten Franz Ferdinand und
Gavrilo Princip. Jergović nähert sich in seinem Roman empathisch den beiden
Protagonisten an und bemüht sich um ein menschliches Bild der beiden, mit all ihren Stär-
ken und Schwächen, das sie nicht nur auf ihnen bisher zugeschriebene Rollen wie Held oder
Terrorist und Tyrann oder Modernisierer beschränkt. Eine solche Herangehensweise für
die Aufarbeitung des historischen Ereignisses des Attentats ist in keinem der bisher ermit-
telten Erinnerungsdiskurse auszumachen. All die gerade genannten Merkmale von Jergo-
vićs Roman sprechen viel eher für die Einführung eines neuen Diskurses, der hier vermensch-
lichender Erinnerungsdiskurs genannt werden soll. Dieser ist vor allem an den Persönlich-
keiten der ProtagonistInnen interessiert und nicht an der Instrumentalisierung des vergan-
genen Ereignisses.
101
Ob und inwieweit Jergovićs Nezemaljski izraz njegovih ruku auf die Erinnerungskultu-
ren zurückwirken wird, wird sich erst aus größerer zeitlicher Distanz zeigen. Aufgrund der
durchwegs positiven Kritiken und Reaktionen72 auf den Roman kann jedoch angenommen
werden, dass Jergovićs Komposition zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit
dem Attentat und seinen ProtagonistInnen – allen voran Gavrilo Princip und Franz Ferdi-
nand – anregen und ermuntern wird. An dieser Stelle muss jedoch wiederholt werden, dass
Literatur nur dann zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden kann, wenn sie auch
gelesen wird und in einer sozialen Gruppe zirkuliert. Eine solche Rezeption und Zirkulation
wird vermutlich vorrangig in einer bildungselitären Erinnerungsgemeinschaft geschehen.
Wenig wahrscheinlich ist hingegen, dass der Roman Eingang in andere Erinnerungsnarra-
tive finden wird. Somit wird er seine erinnerungskulturelle Wirkung vermutlich auch nur
in solchen Kollektivgedächtnissen entfalten können, deren Vergangenheitsversion des At-
tentats bereits ohnehin derjenigen, die Miljenko Jergović in seinem Text konstruiert, ähnelt.
72 Siehe dazu: Artić, Miroslav (2018): „Čiji su to ruke prve načinile ključni sudbonosni zamah u Sarajevu?“, in: arteist – prvo slovo kulture vom 19.02.2018. https://arteist.hr/miljenko-jergovic-nezemaljski-fraktura/ [17.05.2018]; Blažević, Magdalena (2018): „Posljednji Jergovićev roman ‚Nezemaljski izraz njegovih ruku‘: Dan
kada je Gavrilo Princip promijenio svijet“, in: dnevnik.ba vom 19.01.2018. https://www.dnevnik.ba/teme/ posljednji-jergovicev-roman-nezemaljski-izraz-njegovih-ruku-dan-kada-je-gavrilo-princip [07.10.19]; o.A. (2016): „Jergovićev roman o sarajevskom atentatu obavljen u Crnoj Gori“, in: cdm vom 10.09.2016. https://www.cdm.me/kultura/jergovicev-roman-o-sarajevskom-atentatu-objavljen-u-crnoj-gori/ [17.05.2018]; o.A. (2018): „Jergović u novom romanu pisao o sarajevskom atentatu: ‚On je izazvao nešto krajnje tragično i
loše, što traje do danas‘“, in: net.hr. vom 28.02.2018. https://net.hr/danas/kultura/jergovic-u-novom-romanu-pisao-o-sarajevskom-atentatu-on-je-izazvao-nesto-krajnje-tragicno-i-lose-sto-traje-do-danas/ [07.10.2019]; o.A. (2018): „Nezemaljski izraz njegovih ruku – Miljenko Jergović“, in: O priči i pričanju vom 20.03.2018. http://opriciipricanju.blogspot.com/2018/03/nezemaljski-izraz-njegovih-ruku.html [17.05.2018]; Špišić, Davor (2017): „Nova knjiga Miljenka Jergovića. Pedantna i strasna kronika sarajevskog atentata 1914.
godine“, in: Jutarnji List vom 22.12.2017. https://www.jutarnji.hr/kultura/knjizevnost/ nova-knjiga-miljenka-jergovica-pedantna-i-strasna-kronika-sarajevskog-atentata-1914-godine/6867375/ [07.10.19]; Žiković, Doris (2018): Mržnja kojoj mi danas svjedočimo svoju je klicu zametnula još u ljeto 1914. https:// www.jergovic.com/ppk/mrznja-kojoj-mi-danas-svjedocimo-svoju-je-klicu-zametnula-jos-u-ljeto-1914/ [07.10.2019].
102
7.2.3. Mali mi je ovaj grob von Biljana Srbljanović
Im Jahr 2013 beauftragte das Wiener Schauspielhaus die serbische Dramaturgin Biljana
Srbljanović73 anlässlich des 100. Jahrestages des Attentats von Sarajevo mit einem Auftrags-
werk.74 Mit ihrem Theaterstück Mali mi je ovaj grob75 (dt. Titel Dieses Grab ist mir zu klein)76
wollte Srbljanović die einseitigen Darstellungen Gavrilo Princips entweder als Held oder als
Terrorist dekonstruieren. Uraufgeführt wurde das Drama am 16. Oktober 2013 im Wiener
Schauspielhaus. An der bosnischen/kroatischen/serbischen Koproduktion wirkten das Ka-
merni Theater 55 in Sarajevo, das Ulysses Theater der Insel Brijun, das Bitef Theater, die Testa-
ment films und der Heartefact Fonds aus Belgrad mit. (vgl. www-mmjog1) Aufgeführt wurde
das Stück u.a. in Belgrad, Sarajevo, Zagreb, Wien und Berlin.
Im ersten der zwei Teile des Dramentexts finden sich die Hauptcharaktere Gavrilo
Princip, Nedeljko Čabrinović, Danilo Ilić, dessen Schwester Ljubica77 und Dragutin Dimit-
rijević, genannt Apis, in der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, in einer
Zeit verstärkter Unruhen als Folge der Annexion Bosniens durch die Habsburgermonarchie,
wieder. Den Szenen in Sarajevo, die das Teenagerleben der drei Freunde Gavrilo, Nedeljko
und Ljubica zeigen, werden Szenen aus Belgrad gegenübergestellt, wo Danilo von Apis zum
Mitglied der Geheimorganisation Ujedinjenje ili smrt, auch bekannt als Crna ruka, gemacht
wird. Das Attentat an sich wird ausgelassen; das Stück setzt erst im Anschluss daran wieder
ein. Die Charaktere von Gavrilo, Nedeljko und Ljubica berichten sodann, wie sie am Atten-
tat beteiligt waren bzw. es miterlebt hatten. Der zum Tode verurteilte Danilo trägt Aus-
schnitte aus einem Brief an seine Mutter vor. Es folgt ein Zwischenspiel aus Zeitungsaus-
schnitten und Zitaten hoher Beamter und Beamtinnen sowie einfacher BürgerInnen aus der
unmittelbaren Zeit kurz nach dem Attentat.
73 Biljana Srbljanović gilt als international renommierte Dramaturgin. Bekannt wurde sie bereits durch ihr erstes Theaterstück ‚Belgrader Trilogie‘ (Beogradska trilogija). Häufig wird in ihren Texten Geschichte thema-tisiert, die sie vor allem als Kampfplatz der Erinnerungen begreift. (vgl. http://bit.ly/38R1Yv5 [12.11.19]) 74 Für die Untersuchung künstlerischer und kultureller Verarbeitungen des Attentats von Sarajevo und seiner ProtagonistInnen würde sich auch noch Milena Markovićs Dramentext Zmajeubice (dt. Titel ‚Drachentöter‘)
aus dem Jahr 2014 anbieten. Aus Gründen des Platzmangels muss in dieser Arbeit jedoch auf eine Analyse dieses Dramas verzichtet werden. 75 Für Zitate aus der Originalfassung von Mali mi je ovaj grob wird hier und in der Folge die Sigle MG_o mit Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl verwendet. Verwendete Ausgabe: Srbljanović, Biljana (2014): Mali mi je ovaj grob. Beograd: Samizdat B92. 76 Für Zitate aus der deutschsprachigen Übersetzung von Dieses Grab ist mir zu klein wird hier und in der Folge die Sigle MG_d mit Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl verwendet. Verwendete Ausgabe: Srbljanović, Biljana (2013): Dieses Grab ist mir zu klein. Aus dem Serbischen von Vukan Mihailović de Deo und Aleksandra Pejović, bearbeitet von Renata Britvec. Berlin: henschel Schauspiel. 77 Die Figur der Ljubica Ilić ist zur Gänze fiktiv; sie basiert auf keinerlei historischer Grundlage.
103
Der zweite Teil des Stücks spielt im Gefängnis in Theresienstadt, wo die beiden At-
tentäter Gavrilo und Nedeljko inhaftiert sind und ihre Strafe absitzend auf ihren Tod warten
sowie in Thessaloniki, wo Apis vom Militärgericht zum Tode verurteilt wird.
Das sich am stärksten abzeichnende Motiv des Stücks ist eindeutig jenes der Infan-
tilität der Attentäter. Wie ein roter Faden zieht es sich durch das gesamte Werk. Bevor die
folgenreichen Schüsse auf das Thronfolgerpaar, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs
einläuten werden, abgefeuert werden, begleitet das Publikum im ersten Teil des Dramas die
Freunde Gavrilo, Nedeljko und Ljubica. Srbljanović skizziert das Leben der drei Freunde als
Leben dreier Teenager, die jung, verliebt und vor allem naiv sind. Zu Beginn des Stücks
trifft man auf die beiden Schüler Gavrilo und Nedeljko, die nach der Teilnahme an einer
Demonstration in Sarajevo eine Wohnungsbesichtigung bei der 15-jährigen Ljubica nutzen,
um sich vor der Gendarmerie zu verstecken. Das kindliche Wesen der drei Freunde tritt
deutlich in Szenen hervor, in denen sie sich gegenseitig nachäffen (MG_o I/1: 16), Gavrilo
sich darüber ärgert von Nedeljko immerzu mit „Gavrica“ (‚Gavrilein‘) angesprochen zu wer-
den (ebd. I/7: 76, 83, 84), Gavrilo sich die Nase wie ein Kind mit dem Ärmel putzt (ebd. I/3:
50), Ljubica Gavrilo durch Kokettieren mit Nedeljko eifersüchtig machen will (ebd. I/7: 74)
oder sie sich alle drei Marihuana rauchend über das Thronfolgerehepaar lustig machen (ebd.
I/9: 105–107). Die Theaterautorin insistiert regelrecht auf die Infantilität und Unerfahren-
heit der späteren Attentäter. Srbljanovićs Intention ist es offensichtlich, die Jungbosnier als
gewöhnliche Menschen bzw. als gewöhnliche Teenager zu porträtieren, um beim Publikum
Sympathien und Mitgefühl für sie zu wecken.
Stijn Vervaet (2016: 564) zufolge verpasst es das Stück allerdings, die Attentäter in all
ihren Facetten darzustellen, da der Fokus eindeutig auf der Betonung ihres unreifen Wesens
liegt. Völlig außer Acht gelassen werden ihm zufolge das damalige Schulsystem78 sowie die
literarischen und kulturellen Aktivitäten der Jungbosnier. Die Mitglieder der Mlada Bosna
als Teenager darzustellen, die es bevorzugen ins Kino zu gehen und gemeinsam Gras zu
rauchen, statt tiefgründige Diskussionen über Politik zu führen, stellt sie – nach Auffassung
Stijn Vervaets (2016: 564) – in falschem Licht dar, bedenkt man die Ernsthaftigkeit, mit der
sich die jungen Revolutionäre dem Studium zeitgenössischer westlicher und russischer Li-
teratInnen und PhilosophInnen widmeten.
78 Srećko Džaja (vgl. 2002: 138f.; zit. nach Vervaet 2016: 562) weist darauf hin, dass die Matura in Bosnien als eine der schwierigsten in der gesamten Doppelmonarchie galt.
104
Tatsächlich ist es nun aber – wie auch schon im vorangegangenen Kapitel zu Jergovićs
Nezemaljski izraz njegovih ruku (vgl. Kap. 7.2.1) herausgearbeitet wurde – unmöglich festzu-
stellen, ob der Entschluss der Attentäter, den Thronfolger zu ermorden, nun aus sorgfältiger
Überlegung resultierte oder ob ihre Willensstärke bloß Ausdruck spätpubertierender Dick-
köpfigkeit war.
Dem kindlichen Wesen der Attentäter wird der im Grunde einzige erwachsene Cha-
rakter des Stücks Dragutin Dimitrijević – ein serbischer Offizier und Gründungsmitglied
der großserbisch-nationalistischen Geheimorganisation Ujedinjenje ili smrt – gegenüberge-
stellt.79 Eine Figur, der im Stück viel Platz eingeräumt und die auffallend negativ dargestellt
wird.80 Die Dämonisierung Apis‘ dient der Betonung seiner dominanten, manipulativen
und skrupellosen Art. (vgl. Delač 2014: 6) Danilo Ilić wird von Apis in die Geheimorganisa-
tion Ujedinjenje ili smrt eingeführt. Dies passiert aber nicht auf einer bewussten Entschei-
dung Danilos. Er verpflichtet sich viel eher aus Naivität und dem Wunsch heraus, endlich
als erwachsen angesehen zu werden, was auch anhand seiner Reaktion auf das Einführungs-
zeremoniell in die Organisation deutlich wird, wenn ihn eine „unsägliche Angst“ über-
kommt, er „schweißgebadet“ ist, „zittert wie Espenlaub“ und sich schlussendlich übergeben
muss (MG_d I/6: 42).81 Offensichtlich realisiert Danilo erst zu spät, in welch Unheil er hin-
eingeschlittert ist. Ein Revidieren seiner Entscheidung ist jedoch nicht mehr möglich, da
sich die Mitglieder von Ujedinjenje ili smrt der Organisation ein Leben lang verpflichten, ein
Austritt kann nicht geltend gemacht werden. (ebd. I/6: 69) Durch die Aufnahme in die Crna
ruka hat Danilo das Pech, zur Marionette Apis‘ gemacht zu werden und darüber hinaus die
einzige Verbindung zwischen ihm und Mlada Bosna zu sein. (vgl. Vervaet 2016: 555) Apis
übernimmt eine Art bizarre Vaterrolle82 für Danilo und macht ihn zu seinem Spion, der ihm
von den Geheimtreffen der Mlada Bosna berichtet. Dadurch erfährt Apis auch vom Wunsch
79 Es gibt zwar neben Apis noch eine weitere erwachsene Figur im Stück – die Mutter von Ljubica und Danilo – die jedoch nie die Bühne betritt und auch nie zu Wort kommt. Sie ist lediglich als disziplinierende und rü-gende Kraft im Hintergrund bemerkbar. 80 „Jedan debili čudan čovek, s nogama u zavojima, brkovima i crnom kapom, [...]“ (MG_o I/2: 29), [Ein dicker, merkwürdiger Mann, mit bandagierten Beinen, mit Schnauzbart und einer schwarzen Kappe auf dem Kopf,
(…)] (MG_d I/2: 17); „Apis je krupan, neprijatan čovjek.“ (MG_o I/2: 31), [Apis ist ein korpulenter, unange-nehmer Mensch.] (MG_d I/2: 18); „Apis se osmehuje kao negativac u ratnim filmovima. Kao hijena, ona sa uzice. Samo što uzicu niko ne priteže.“ (MG_o I/2: 35), [Apis grinst, so wie ein Bösewicht aus einem Kriegs-film, wie eine Hyäne an der Leine. Nur dass diese Leine keiner hält.] (MG_d I/2: 20); „Apis je ružan kao đavo.“ (MG_o I/8: 96), [Apis ist hässlich wie die Nacht.] (MG_d I/8: 55). 81 „Danilo obuzima jeziv strah. Mokar je od znoja, trese se kao prut. Povrati.“ (MG_o I/6: 71) 82 „Apis protrlja glavu Danilu, kao detetu ili psu.“ (MG_o I/2: 40), [Apis krault Danilos Kopf, wie einem Kind oder einem Hund.] (MG_d I/2: 23); Nennt ihn „sine“ (u.a. MG_o I/6: 65), [mein Junge] (u.a. MG_d I/6: 39); „Apis se smeje očinski.“ (MG_o I/6: 67), [Apis lacht väterlich.] (MG_d I/6: 40); „Apis grli Danila, kao otac ili sveštenik.“ (MG_o I/6: 71), [Apis umarmt Danilo, wie ein Vater oder Priester.] (MG_d I/6: 42).
105
der Jungbosnier, etwas „Großes“, „Heldenhaftes“ (MG_d I/4: 32)83 zu vollbringen. Diesen
Wunsch nutzt Apis für sich und die Ziele der Crna ruka und stattet die späteren Attentäter
mit Waffen, Bomben und Zyankali aus. Anders als in Jergovićs Roman, in dem die Jungbos-
nier viel eher als diejenigen dargestellt werden, die sich bewusst der Mittel der Crna ruka für
ihre Zielerreichung bedienen, machen sich die Attentäter in Srbljanovićs Stück unbewusst
zu Opfern des großserbischen Nationalismus.
Apis und die Crna ruka verkörpern im Stück den bösen (groß)serbischen Nationalis-
mus, der nicht vor terroristischen Methoden für das Erreichen seiner Ziele zurückschreckt.
Dem wird der gute bzw. „edle Jugoslawismus“84 der Attentäter und der Mlada Bosna im All-
gemeinen gegenübergestellt. (vgl. Vervaet 2016: 555)
Die Geheimorganisation Mlada Bosna wird in Srbljanovićs Text – den historischen
Tatsachen entsprechend – als eher unorganisiert, fast schon chaotisch dargestellt, deren
Mitglieder keine einheitliche politische Agenda verfolgen. Ihre geheimen Treffen finden
u.a. im Hinterzimmer eines Billardsalons statt, bei denen sowohl feurig diskutiert als sich
auch – ganz pubertär – gepiesackt wird. (vgl. MG_o I/5: 57-60) Nicht alle Jungbosnier teilen
die Meinung Serbokroaten, Demokraten und Atheisten zu sein – dennoch sind sie Mitglie-
der der Organisation. (ebd. I/5: 58) Die Mehrheit der Jungbosnier aber – wie auch Gavrilo
und Nedeljko – steht hinter der Idee des Jugoslawismus und dem Ziel, sich von der Fremd-
herrschaft zu befreien und alle SüdslawInnen zu vereinen:
STIMME 1 Wie alle Völker unter der Fremdherrschaft, haben auch wir ein Recht auf Selbstbestimmung. Unser Wunsch ist die Vereinigung al-ler Jugoslawen in einer beliebigen Staatsform und die Befreiung von
Österreich! STIMMEN So ist es! (MG_d I/5: 35)85
Neben der Charakterisierung der Jungbosnier als gewöhnliche Teenager wird vor al-
lem Gavrilo Princip als überzeugter Jugoslawe dargestellt. Durch das Paraphrasieren von
Selbstzeugnissen Princips vor Gericht, in denen er sich zu den Motiven seiner Tat äußerst,
arbeitet die Autorin ein Bild von Princip als dem edlen Jugoslawen heraus:
83 „[…] nešto veliko. Nešto onako herojsko.“ (MG_o I/4: 56) 84 Die Bezeichnung des „edlen Jugoslawismus“ stammt von Biljana Srbljanovic selbst: „[…] čvrsto verujem u plemenitost Principovog i mladobosanskog jugoslovenstva.“ (Nikčević 2013) 85 GLAS JEDAN Kao i svi narodi pod osvajačem i mi imamo pravo na samoopredeljenje. Naša je
želja ujedinjenje svih Jugoslovena u bilo koju državnu formu i da se oslobodimo Austrije!
GLASOVI Tako je! (MG_o I/5: 59)
106
GAVRILO Gavrilo Princip, 19 Jahre alt. Nationalität jugoslawisch. Ich fühle
mich nicht schuldig und ich bin kein Verbrecher. [...]
Ich bin kein Verbrecher, denn ich habe denjenigen aus dem Weg ge-räumt, der Böses getan hat. Sie wollte ich nicht umbringen. Die Erz-
herzogin habe ich ohne Absicht getötet und das bereue ich. [...] Ich bin ein jugoslawischer Nationalist und mein Bestreben ist es, alle
Jugoslawen in irgendeiner Form zu vereinigen und von Österreich zu befreien. Das wollte ich mit dem terroristischen Akt erreichen.
[...] Das bedeutet – all jene zu töten, zu beseitigen, die die Vereinigung behindern und die Böses tun. Das Motiv für diese Tat war Rache für
all das Leid, das mein Volk erdulden muss. (MG_d I/11: 70f.)86
In einem Interview unterstreicht die Autorin auch die Grundlage, auf der ihrer Meinung
nach Princips edler Jugoslawismus basiert: Während Princip das Attentat als einen politi-
schen Akt des Tyrannenmordes mit Stolz trägt und seine Tat nicht bereut, quält ihn der
unbeabsichtigte Mord an Sophie als menschliche Tragödie bis zu seinem Tod. (vgl. Nikčević
2013) Princip ist demnach kein kaltblütiger Mörder; die Philosophie des Tyrannenmordes
rechtfertigt das Attentat auf Franz Ferdinand, seine Reue am Tod der Herzogin zeigt seine
Menschlichkeit.
Gavrilo und Nedeljko werden zu Repräsentanten der Ideologie des edlen Jugoslawis-
mus, der etwas Großes erreichen möchten, aber angeblich nichts mit dem bösen serbischen
Nationalismus zu tun haben will:
NEDELJKO […] Weißt du noch, wie wir in den Kneipen am Zeleni Venac (Grü-
ner Kranz, Stadtteil von Belgrad, Anm. d. Übers. RB) in Belgrad ge-sessen haben, und überall um uns herum diese verfetteten Typen mit
Bärten, so Typen mit Messern, die eben von der Front gekommen waren, mit ihren gruseligen Gesichtern, Typen, die nach Blut und Hölle stinken? Erinnerst du dich?
GAVRILO Ich erinnere mich.
86 GAVRILO Gavrilo Princip, devetnaest godina. Po nacionalnosti Jugosloven. Ne osećem se
krivim i nisam zločinac. […] Nisam zločinac jer sam uklonio onog koji je činio zlo. Nju nisam hteo. Vojvotkinju
sam nehotice usmrtio i žao mi je zbog toga. […]
Ja sam nacionalista Jugosloven. Moja težnja je ujediniti sve Jugoslovene u bilo kojoj državnoj formi i osloboditi ih od Austrije. To sam mislio izvesti terorom.
[…] To znači ubijati, ukloniti one koji smetaju ujedinjenju i koji čine zlo. Na ovo delo
potakla mi je osveta za sve muke koje moj narod trpi. (MG_o I/11: 120f.)
107
NEDELJKO Also, ich will das nicht.
GAVRILO Ich auch nicht. (MG_d I/4: 32)87
Die beiden Freunde sprechen über die SoldatInnen der Balkankriege von 1912 und 1913.
Die Theaterautorin versucht um jeden Preis eine klare Trennung zwischen bösem serbi-
schem und gutem jugoslawischem Nationalismus zu ziehen, was aber zu einer stark verein-
fachten Darstellung führt. Stijn Vervaet (2016: 556) weist in seiner Untersuchung des Dra-
mas darauf hin, dass diese Grenze oftmals nur sehr dünn war und die Jungbosnier Serbien,
vor allem nach den Erfolgen der Balkankriege, als das befreite Land, um das herum sich alle
SüdslawInnen vereinigen sollten, ansahen. Zudem erfährt das Publikum im Stück sogar von
Princips Versuch, sich diesen SoldatInnen anzuschließen, jedoch abgelehnt wurde, da er als
zu schwach zum Kämpfen galt, was ihn zutiefst kränkte. (vgl. MG_o I/3: 48f.) Die Gegen-
überstellung der Jungbosnier mit Apis dient im Stück vorranging dazu, die Beiteilgung am
Attentat von serbischer Seite hervorzuheben und Princip und die anderen Attentäter vor
allem als Opfer der serbischen Untergrundorganisation darzustellen, die die jugendliche
Naivität der Jungbosnier für ihre eigenen Zwecke ausnutzte.
Srbljanović schafft es zwar, sich den gängigen Interpretationen Gavrilo Princips als
Held oder als Terrorist in ihrem Dramentext zu widersetzen, sie zu hinterfragen und ihn als
ambivalente Persönlichkeit darzustellen, nicht aber ohne selbst seine Figur zu einem gewis-
sen Grad zu verklären. Gavrilo und die Attentäter werden nicht als Helden oder Terroristen,
sondern vor allem als Opfer dargestellt. Opfer werden die Jungbosnier in Srbljanovićs Text
auf zweifache Weise: Einerseits durch ihre Infantilität und die daraus resultierende Naivität,
die sie zu Opfern des großserbischen Nationalismus machte. Andererseits erklärt die Auto-
rin in einem Interview zum Drama, dass die Jungbosnier auch Opfer des Kosovo-Mythos
wurden, der das Attentat als politisches Mittel zur höchsten heroischen Tat erhebt. (vgl.
Nikčević 2013) Diese Idee hat die Dramaturgin wohl von Vladimir Dedijer übernommen.
Der – wie bereits in Kapitel 5.1 dargelegt – der Überzeugung war, dass das Attentat auf eine,
tief im Selbstverständnis der Jungbosnier verwurzelte, folkloristische Theorie des Tyran-
nenmordes zurückzuführen sei, die vorranging im Kosovo-Mythos gründete. (vgl. Čolović
87 NEDELJKO [...] Je l‘ se sećaš kad smo sedeli po kafanama na Zelenom vencu, a okolo sve oni
masni s
bradama, oni sa kamama, što su sad stigli s ratišta, s onim svojim strašnim licima što smrde na zlo i na krv? Je l‘ se sećaš?
GAVRILO Sećam. NEDELJKO E, pa ja to neću. GAVRILO Neću ni ja. (MG_o I/4 55f.)
108
2016: 61) Srbljanović teilt diese Auffassung und macht die Jungbosnier insofern zu Opfern
des Kosovo-Mythos, als dass sie behauptet, ihnen sei kein anderes politisches Mittel als jenes
des Attentats bzw. des Tyrannenmords aus der lokalen Mythologie bekannt gewesen. (vgl.
Nikčević 2013) Eine Annahme, die jedoch bereits mit Čolović (2016) widerlegt werden
konnte. (vgl. Kap. 5.1)
Darüber hinaus wird den Aufrührern durch ihre Inszenierung als Kinder bzw. Ju-
gendliche die Verantwortung abgesprochen und diese auf den einzigen erwachsenen Cha-
rakter, nämlich Apis, abgewälzt. Somit spricht das Stück die alleinige Schuld für das Attentat
Apis bzw. dem großserbischen Nationalismus, den er verkörpert, zu.
Auch Franz Ferdinand wird den Figuren der (guten) Attentäter gegenübergestellt.
Nataša Delač (2014: 7) arbeitet in ihrem Beitrag zur Darstellung Gavrilo Princips in Srblja-
novićs Drama anschaulich heraus, dass auch die groteske Geschichte, die über Franz Ferdi-
nands „Jagdsucht“ (vgl. MG_o I/9: 107f.) der Kristallisation von Gut und Böse dient. Delač
(2014: 7) erkennt in dieser Gegenüberstellung von Gut und Böse eine Rechtfertigung der
ablehnenden Einstellung der Jungbosnier gegenüber dem Thronfolger. Diese Rechtferti-
gung ist vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache notwendig, dass Franz Ferdinand eher
einen gemäßigteren Kurs gegenüber Bosnien anstrebte und – im Gegensatz zum Kaiser –
nicht der „Kriegspartei“, die eine militärische Intervention gegen Serbien befürwortete, zu-
gerechnet werden kann.
Auch im zweiten Teil des Dramentexts wird das Bild des edlen Jugoslawismus der
Jungbosnier hervorgehoben. Der kurz nach dem Attentat hingerichtete Danilo Ilić erscheint
nacheinander Nedeljko, Apis und Gavrilo als Todesengel. (vgl. Claus 2014) „Gavrilo und
Nedeljko, die vermeintlich Unreifen“ treten ihrem unausweichlich bevorstehenden Tod „ge-
fasst und mit Würde entgegen.“ (ebd.) Sie lassen die grausamen Folterungen über sich erge-
hen und erdulden die unmenschlichen Zustände ihrer Gefangenschaft. Sie bereuen ihre Tat
als politischen Akt in keiner Weise, da sie an sie glauben und daher reinen Gewissens ster-
ben werden. Apis, der einzige Erwachsene hingegen, verhält sich nun kindlich und „wird
zum Feigling, angesichts des Todes.“ (MG_d II/13: 82)88 Ängstlich fragt er Danilo „Wohin
gehen wir jetzt? Gehen wir weit weg? Wann kommen wir an?“ (MG_d II/13: 82),89 versucht
wie ein kleines Kind seine unausweichlich bevorstehende Hinrichtung um zwei, drei Minu-
ten hinauszuzögern (vgl. MG_o II/13: 142) und weist alle Schuld von sich (ebd. II/13: 146f.).
88 „Apis je kukavica, suočen sa smrću.“ (MG_o II/13: 139) 89 „Gde ćemo sad? Idemo daleko? Kada ćemo stići? Gde je to?“ (MG_o II/13:139)
109
Von ihm stammen auch die titelgebenden Worte des Stücks, als er das für ihn angedachte
Grab betrachtet: „Dieses Grab ist mir zu klein.“ (MG_d II/13: 85)90 Dieser Satz weist auf eine
Umkehrung der Kinder- und Erwachsenenrolle der Charaktere hin: Für Apis wird nur ein
Kindergrab ausgehoben. Die Kinder Gavrilo, Nedeljko und Danilo werden durch ihre Wil-
lensstärke zu Erwachsenen, während der Erwachsene Apis durch sein kindliches und ängst-
liches Verhalten kurz vor seinem Tod zum Kind wird. (vgl. Claus 2014)
Srbljanović betont, dass sie mit dem Stück vor allem einen Aktualitätsbezug herstellen
wollte, was sie durch die Verbindung des Attentats auf Franz Ferdinand mit der Ermordung
des ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić91 schaffen wollte. (vgl.
Nikčević 2013) In ihrem Theaterstück stellt sie eine historische Kontinuität zwischen dem
Nationalismus der Crna ruka und dem serbischen Nationalismus der 1990er und frühen
2000er Jahre her. Als Verknüpfungspunkt dafür dient das Attentat auf Zoran Đinđić. Srbl-
janović stellt eine direkte Verbindung zwischen Apis bzw. der Crna ruka und denjenigen,
die sie hinter der Ermordung Đinđićs vermutet, her. Das Drama enthält einige Verweise auf
die Ermordung Đinđićs.92 (vgl. Vervaet 2016: 559) Durch den Brückenschlag von Apis und
der Crna ruka zum Serbien der früher 2000er schafft Srbljanović eine Illusion der histori-
schen Kontinuität und lässt dabei jedoch beinahe ein Jahrhundert historischer Entwicklun-
gen außer Acht, womit das Stück zwei völlig verschiedene historische und geopolitische
Kontexte miteinander verschmelzen lässt: die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bos-
nien und die letzten Jahre der Regierung unter Milošević. (ebd. 560) Franz Ferdinand wurde
von den Mitgliedern der Mlada Bosna, ungeachtet seiner tatsächlichen politischen Einstel-
lungen, als ein Symbol der unrechtmäßigen Fremdherrschaft der Doppelmonarchie gese-
90 „Mali mi je ovaj grob.“ (MG_o II/13: 145) 91 Zoran Đinđić war der erste demokratisch gewählte serbische Präsident Serbiens, der 2003 von serbischen NationalistInnen ermordet wurde. (vgl. Richter 2016: 80) 92 Im Stück findet sich u.a. ein Zitat Đindićs: „Retke su zemlje, poput naše, u kojima je ‚ustavna radnja‘ napeta kao kriminalistički roman, prepun raznovrsnih zavera, zločina i namerno zamršenih tragova. – Zoran Đinđić, novembar 1990.“ (MG_o I/9: 103), [Selten sind Länder wie unseres, in denen die ‚Verfassungsgebung‘ so span-
nend ist wie ein Kriminalroman, voll von diversen Verschwörungen, Verbrechen und absichtlich verwischten Spuren. – Zoran Djindjić, November 1990.] (MG_d I/9: 60). Aber auch direkte Verweise zu denjenigen, die hinter dem Anschlag vermutet werden, aber nie vor Gericht standen, fanden Eingang in den Dramentext, wenn Apis beispielsweise zu Danilo sagt: „Šta te sprečava? To što smo u uniformi? Pa to je normalno, to je zato što je posao koji obavljamo takav. To je naša radna i svakodnevna odeća, znači, recimo, lekari izađu u belim
mantilima, rudari izađu u rudarskim kombinezonima… Razumeš?“ (MG_o I/2: 38f.), [Was hält dich denn noch zurück? Dass wir Uniformen tragen? Mann, das ist doch normal, das ist so, weil die Arbeit, die wir machen, so ist, wie sie ist. Das ist unsere Arbeits- und Alltagskleidung, also, wie zum Beispiel, also Ärzte arbeiten ja auch in weißen Kitteln, die Bergleuten haben ihre Ausrüstung … verstehst du?] (MG_d I/2: 22). (vgl. Vervaet 2016: 559; Nikčević 2013)
110
hen. Đinđić wurde hingegen von vielen progressiven SerbInnen als derjenige wahrgenom-
men, der Serbien aus seiner Isolation, in die sie die Politik Miloševićs, Kriege und populis-
tische Propaganda gebracht hatten, heraus und in die EU führen sollte. (ebd. 561) Franz
Ferdinand wurde von jungen Männern ermordet, die keinerlei kriminellen oder kriegeri-
schen Hintergrund aufwiesen, wohingegen Zoran Đinđić durch ein Mitglied einer serbi-
schen paramilitärischen Truppe ums Leben kam. (vgl. Vervaet 2016: 562) Vervaet (ebd.)
weist weiters darauf hin, dass in dieser Hinsicht ein Vergleich des Attentats auf Đinđić und
dem von 1903 auf König Aleksandar Obrenović und seine Frau Draga Mašin durch die Crna
ruka schlüssiger für die Argumentation der Kontinuität der Crna ruka gewesen wäre.93
Das Theaterstück bietet nicht nur zahlreiche Ansatzpunkte zur Untersuchung der
Erinnerung an das Attentat und seine ProtagonistInnen, es thematisiert die kollektive
Erinnerung verschiedener Wir-Gruppen sogar explizit. Im Zwischenspiel des Dramas nutzt
die Autorin zur Veranschaulichung der Erinnerung an das Attentat eine Reihe
verschiedener Zitate vor allem aus der Presse aus der Zeit kurz nach der Tat. Während
deutsche und österreichische Medien Serbien für das Attentat verantwortlich machen, weist
die serbische Presse alle Schuldzuweisungen von sich. Diese Ausschnitte unterstreichen die
völlig widersprüchlichen Einstellungen gegenüber den Attentätern und dekonstruieren
durch die Gegenüberstellung der beiden Extrempositionen eine rein heroisierte oder
dämonisierte Rolle Gavrilo Princips.94 Gleichzeitig suggeriert das Stück hier aber aufs Neue,
dass Princip in erster Linie ein Opfer viel höherer, früherer Konflikte war. (vgl. Delač
2014:6)
Aus der bisherigen Untersuchung des Dramentextes geht hervor, dass Srbljanović
dem in den verschiedenen Erinnerungskreisen entworfenen Bild Gavrilo Princips entweder
als Held oder als Terrorist eindeutig entgegenwirken will. Eine vergleichbare Auffassung
vertritt auch Ljubinka Petrović-Ziemer (2016: 611f.), die in ihrer Schlussfolgerung zur Un-
tersuchung des Dramentexts hervorhebt, dass die Dramaturgin die Jungbosnier entgegen
dominierender Narrative, die sie meist auf einen terroristischen Hintergrund oder den My-
thos von heldenhaften Märtyrern reduzieren, als ambivalente Persönlichkeiten darstellt. In
93 Das Königspaar wurde durch Offiziere der serbischen Armee brutal ermordet. (vgl. Clark 20134: 23ff.) Am
Mord waren fünf der späteren sieben Gründungsmitglieder der Geheimorganisation Crna ruka beteiligt. (ebd.
67) 94 Das Zwischenspiel verweist des Weiteren auch darauf, wie schnell die Erinnerung an Franz Ferdinand und Sophie in Österreich-Ungarn wieder verblasste. Hieran zeigt sich, dass sich das Thema des Attentats von Sa-rajevo und seiner ProtagonistInnen in aktuellen Erinnerungskontexten auch für eine transnationale Untersu-chung eignen würde, welche jedoch in viel größerem als dem vorgegebenen Rahmen angelegt sein müsste.
111
ihrer Analyse übersieht sie jedoch, dass auch im Dramentext Princip mehr oder weniger
zum Märtyrer erhoben wird, wenn Srbljanović sagt, dass
[…] kao čovek od savesti, od misli, od reči, kao plemenit čovek, Principu je teško padalo da se seti ubistva koje je počinio i da razmišlja o posledicama koje je – pre svega po
druge – to ubistvo donelo. On se nikada do kraja nije pokajao. I neka nije! Ali nikada svoj čin nije veličao kao nešto veliko i sveto; doživljavao ga je kao strašno zlo koje je neko morao da preuzme na sebe. Razdirala ga je savest. […] Politički čin je nosio s pon-
osom i hrabro. Ubistvo kao ljudska tragedija ga je mučilo do kraja. […] [S]vaki atentat, bez obzira na to koliko ciljevi bili opravdani, od nas pravi zločince. (Nikčević 2013)
Princip habe seine Tat nie verherrlicht, sondern sie immer als ein fürchterliches Übel ange-
sehen. Dieses Übel und all die Qualen und Gewissensbisse, die das Attentat mit sich brachte,
nahm er auf sich, um das Land von der Okkupationsmacht zu befreien. Mit dieser Erklärung
kann die Theaterautorin die Attentäter – allen voran Gavrilo Princip – als gut darstellen,
auch wenn sie Böses tun, denn sie verfolgten gute Absichten. Entgegen der Interpretation
Gavrilos als Märtyrer des serbisch-nationalistischen Narrativs opferte sich Princip Srblja-
novićs Auffassung zufolge aber nicht für das serbische Volk, sondern für den jugoslawischen
Staat und wird somit wiederrum zum Märtyrer.
Die Dekonstruktion bisher dominierender Bewertungen der historischen Figur des
Gavrilo Princip gelingt der Autorin leider nicht, ohne Princip einerseits zum Opfer
(groß)serbischer nationalistischer Kräfte und der lokalen, den Tyrannenmord glorifizieren-
den Mythologie und andererseits zum Märtyrer der jugoslawischen Idee zu erheben. Im
Drama wird eine neue Erinnerung an Princip, den noch jungen und naiven Mann, der je-
doch fest hinter der Ideologie des edlen Jugoslawismus steht und für seine Überzeugungen
von serbischen NationalistInnen ausgenutzt und in das Attentat hineingeritten wird, kon-
struiert. Srbljanović schreibt demnach Gavrilo und den anderen Aufrührern eine romanti-
sierte Vorstellung vom Widerstand zu; eine Attribuierung, die jedoch nur teilweise auf die
Attentäter angewendet werden kann. Die Jungbosnier waren sich der Folgen, die das At-
tentat für sie haben wird, nicht völlig unbewusst. Immerhin trug jeder von ihnen ein Fläsch-
chen Zyankali mit sich, mit dem sie sich im Falle einer Verhaftung selbst das Leben nehmen
wollten. Nedeljko Čabrinović stürzte sich sogar von einer Brücke in die Miljacka, als er be-
merkte, dass die Säure nicht wirkte.
Srbljanović versucht in ihrem Dramentext – wie gerade gezeigt wurde – eine klare
Linie zwischen Gut und Böse zu ziehen. Böse ist vor allem Apis, die Inkarnation des groß-
serbischen Nationalismus; aber auch Franz Ferdinand, dem im Stück nur wenig Platz ein-
112
geräumt wird. Charakterisiert wird er einzig durch die groteske Geschichte über seine Jagd-
sucht, die den Thronfolger im Stück mit einer negativen Konnotation versieht. Ein facet-
tenreiches, menschliches Bild des Erzherzogs kann das Stück nicht bieten. Franz Ferdinand
ist der Tyrann, der Böses tut, und deswegen aus dem Weg geräumt werden muss.
Durch die Verbindung des Attentats auf Franz Ferdinand und jenes auf Zoran Đinđić
wirft Srbljanović „Apis und damit letzten Endes auch der Idee des serbischen Nationalismus
vor, Attentate als Mittel zur politischen Zielerreichung einzusetzen.“ (Claus 2014) Dies ist
eine Kritik, die zwar durchaus berechtigt ist, aber dennoch einen „unangenehme[n] Beige-
schmack“ (ebd.) hinterlässt: Einerseits hebt die Autorin die jugoslawische Ideologie Princips
als etwas Positives hervor und wendet sich in ihrem Stück mit der Aufforderung, ebenfalls
„etwas Positives“ (MG_d II/14: 90)95 aus dem eigenen Leben zu machen, sogar an ihr Publi-
kum. Diese Aufforderung könnte jedoch „leicht als Verklärung des titoistischen Jugoslawi-
ens missverstanden werden.“ (Claus 2014) Überdies entsteht ein unerträgliches Spannungs-
verhältnis, wenn Srbljanović
[…] Mord als politisches Mittel des serbischen Nationalismus einerseits verurteilt, eine
Absolution für ihre durchaus politischen Teenies Gavrilo, Nedeljko und Danilo ande-rerseits zumindest andeutet. (ebd.)
Was Claus (2014) in ihrer Theaterkritik andeutet, ist, dass sich hier ein seit jeher strittiges
moralisches Dilemma auftut, welches das Stück aber nicht ausreichend beleuchten kann:
Sind Attentate, ungeachtet ihres Ziels, immer gleich schlecht bzw. böse? Oder anders for-
muliert: Hat die Theorie des Tyrannenmords seine Berechtigung? Srbljanovićs Dramentext
beantwortet diese letzte Frage mit einem klaren Ja. Die Frage bedürfte aber neben einer
ausgiebigen moralischen Diskussion auch einer differenzierten Darstellung des als Tyran-
nen erklärten Franz Ferdinands, die das Stück allerdings nicht bietet. Dabei müsste heraus-
gearbeitet werden, ob der Thronfolger tatsächlich als Tyrann bezeichnet und somit auch der
an ihm begangene Tyrannenmord gerechtfertigt werden kann; eine Frage, die insbesondere
vor der Tatsache, dass Franz Ferdinand bekannterweise einen gemäßigteren Kurs verfolgte,
wenn nicht beantwortet, sodann aber zumindest gestellt hätte werden müssen.
Gegen den politischen Hintergrund des Mordes – nämlich die Unzufriedenheit mit
der Fremdherrschaft – hat Srbljanović keine Einwände. Problematisch ist dabei allerdings,
ohne differenzierte Aufbereitung ein Attentat einerseits als politisches Mittel zur Errei-
chung serbisch-nationalistischer Interessen zu verurteilen, es aber andererseits, zumindest
95 „[…] I uradi nešto pozitivno sa svojim životom.“ (MG_o II/14: 153)
113
ansatzweise, als legitimes Instrument für das edle Vorhaben der Vereinigung aller Südsla-
wInnen darzustellen. Für die Autorin stellt das Attentat etwas Schreckliches dar, das im Na-
men des Guten verübt wurde. Der Text vermittelt jedoch zu wenige Anknüpfungspunkte
und zu wenige Angaben, um sich eindringlich mit der Frage nach Legitimation der Theorie
des Tyrannenmordes befassen zu können. Dies führt zu einem verzerrten Blick, der einer
ernsthaften Auseinandersetzung mit dem historischen Ereignis des Attentats von Sarajevo
im Wege steht.
Nun stellt sich aber die Frage, warum Srbljanović es nicht bei der Dekonstruktion der
Erinnerung an Princip als Held oder Terrorist belassen hat, sondern eine neue Rolle Princips
– nämlich jene des Opfers und des Märtyrers – zu konstruieren versuchte. Die Dramaturgin
erklärte, sich dazu entschlossen zu haben, den Jugoslawismus zu rühmen, da dies ihr Recht
als Künstlerin sei. (vgl. www-mmjog2) Dem ist prinzipiell nichts entgegenzustellen, aller-
dings muss sie sich als Künstlerin des Wirkungspotenzials ihrer Darstellungen Princips, das
sie in der Gesellschaft und auf dessen kollektives Gedächtnis hat, bewusst sein. Das gilt ins-
besondere gerade dann, wenn historische Tatsachen und Fiktion so nahe beieinander liegen
wie in ihrem Drama, was es dem Großteil des Publikums unmöglich macht, zwischen Tat-
sache und Fiktion zu unterscheiden. Die offensichtlich im Stück angestrebte klare Trennung
zwischen Gut und Böse präsentiert dem Publikum eine vereinfachte und überschaubare
Welt. Ein solcher Tunnelblick, der eine Einteilung der Welt in Gut und Böse vornimmt,
macht es jedoch den RezipientInnen schwer, sich wertneutral und unvoreingenommen mit
ihrem eigenen Vergangenheitsentwurf zu konfrontieren und diesen gegebenenfalls zu über-
denken.
Auch wenn das Stück gewisse Mängel in seiner Komposition aufweist, kann jedoch
nicht bestritten werden, dass es zum Nachdenken anregt: einerseits durch die Dekonstruk-
tion bisheriger Interpretationen der Attentäter (aber eben leider nur der Attentäter); ande-
rerseits durch das flaue Gefühl im Magen, das sich einstellt, wenn die RezipientInnen plötz-
lich feststellen, zumindest zu einem gewissen Grad mit den Attentätern zu sympathisieren.
Srbljanovićs Dramentext entwirft eine, bisher dominierende Erinnerungsnarrative
ablösende, Darstellung Gavrilo Princips, die vor allem am Menschen und seiner Persönlich-
keit hinter dem Attentäter interessiert ist. Sie verfolgt damit eine ähnliche Intention wie
auch Miljenko Jergović in seinem Roman Nezemaljski izraz njegovih ruku und kann somit
ebenfalls dem zuvor neu eingeführten vermenschlichenden Erinnerungsdiskurs zugeschrieben
werden. Princip erscheint in ihrem Stück nicht als Held oder Terrorist, sondern vor allem
als naiver, aber seine Werte und Überzeugungen eisern verteidigender Jugendlicher. Ihrer
114
Infantilität geschuldet werden die Jungbosnier zu Opfern auf zweifacher Ebene: einerseits
des großserbischen Nationalismus, der sie für seine eigenen Zwecke ausnutzt, und anderer-
seits der lokalen Mythologie, die das Attentat zum einzigen, ihnen bekannten politischen
Mittel machte. Anders als Jergović, verpasst Srbljanović jedoch ein facettenreiches und
menschliches Bild aller beteiligten ProtagonistInnen zu zeichnen. Ihr Hauptaugenmerk liegt
deutlich auf der Darstellung Princips und übersieht dabei beispielsweise – auch um eine
klare Trennung zwischen Gut und Böse aufrechterhalten zu können –, Franz Ferdinand in
all seiner Komplexität aufzuzeigen. Der Dramentext versucht eine Vermenschlichung der
historischen Figur des Gavrilo Princip vorzunehmen – nicht aber der restlichen Protagonis-
tInnen. Dieser Versuch gelingt dem Text jedoch nicht, ohne selbst Princip zu verklären,
indem er ihn zum Märtyrer erhebt.
Von einem Theaterstück als Medium des kollektiven Gedächtnisses zu sprechen,
macht nur dann Sinn, wenn es auch rezipiert und Teil einer öffentlichen Diskussion wird.
Bei Mali mi je ovaj grob war das der Fall. Über das Stück wurde ausführlich, mitunter auch
kontrovers, in den Medien berichtet. Der Großteil der Rezensionen fiel jedoch überwiegend
positiv aus. Diese hoben vor allem die Dekonstruktion bisheriger Erinnerungsdiskurse rund
um Gavrilo Princip hervor. Die Tatsache, dass Princip weder als Held noch als Terrorist
charakterisiert wird, rege zum Nachdenken an und führe zu einer wünschenswerten Ausei-
nandersetzung mit der Vergangenheit – so der überwiegende Tenor der Reaktionen auf das
Stück. (vgl. www-mmjog1-4, Mihajlović 2014) Die größtenteils positive Kritik für Srblja-
novićs Stück schlägt sich auch in zahlreichen Preisen, mit denen das Drama ausgezeichnet
wurde, nieder. 2014 wurde es mit zwei Preisen am Sterija Theater Festival in Novi Sad be-
dacht: Biljana Srbljanović erhielt den Preis für den besten zeitgenössischen Dramentext und
der Regisseur Michał Zadara wurde für die beste Inszenierung ausgezeichnet. (vgl. Vervaet
2016: 565) Das Festival Dani Sarajeva u Beogradu verlieh Srbljanović einen Preis für ihr
Œuvre im Allgemeinen und für das Stück Mali mi je ovaj grob im Speziellen. (ebd.) Am in-
ternationalen Theaterfestival MESS in Sarajevo erhielt das Stück gleich sieben Preise: Aus-
gezeichnet wurden die beste bosnisch-herzegowinische Aufführung, die beste Regie, die
beste Musik, das beste Bühnenbild sowie drei der Schauspieler. (vgl. www-mmjog5) Kriti-
siert wurde das Stück hauptsächlich für sein Falsifizieren historischer Tatsachen – vor allem
für die den Attentätern zugeschriebene Opferrolle sowie die Verknüpfung und Parallelisie-
rung zweier völlig unterschiedlicher politischer Morde – der am österreichischen Thron-
folger von 1914 und der am serbischen Ministerpräsidenten von 2003. Die undurchschau-
bare Verflechtung historischer Fakten mit fiktiven Elementen generiere, so die Kritik, einen
115
verzerrten Blick auf die Vergangenheit, der einer ernsthaften und dialogischen Auseinan-
dersetzung mit der Thematik nicht dienlich sei. (vgl. Rohringer Vešković 2013; Pofuk 2014)
7.3. Film
7.3.1. Film und kollektives Gedächtnis
Der Film – egal welcher Art – ist als etwas von Menschenhand Geschaffenes, als Kulturar-
tefakt auch Medium des kulturellen Gedächtnisses. (vgl. Dimbath 2018: 199) Besonders mit
der rasanten Vermehrung visueller Speichermedien im 20. Jahrhundert wurde der Film „zu
einem wirkmächtigen Medium der Vergangenheitsdarstellung und -deutung.“ (Erll; Wodi-
anka 2008: 1) Umso mehr verwundert es, dass bisher nur wenige wissenschaftliche Beiträge
existieren, die sich eingehend dem Film als Medium des kollektiven Gedächtnisses widmen.
(ebd. 3) Zudem beschränken sich bisherige kulturwissenschaftliche Forschungsbeiträge zu
Film und kulturellem Gedächtnis größtenteils auf die Untersuchung des Typus des ‚Erinne-
rungsfilms‘ (ebd. 1), der ein historisches Ereignis oder eine historische Persönlichkeit zum
Thema hat. Doch auch Filme, die sich nicht explizit mit der Vergangenheit beschäftigen,
also solche, die nicht den Erinnerungsfilmen zugerechnet werden können, können Erinne-
rungen transportieren und damit eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit suggerieren
oder sogar generieren.
116
7.3.2. Smrt u Sarajevu von Danis Tanović
Der vom Regisseur Danis Tanović96 inszenierte und im Jahr 2016 erschienene Spielfilm
Smrt u Sarajevu97 (‚Tod in Sarajevo‘) ist kein genuin „gedächtnisbildende[r] oder gedächtnis-
produktive[r]“ (Erll 20112: 161) Film und kann daher auch nicht dem Genre des Erinne-
rungsfilms zugerechnet werden. Der Film behandelt nicht per se das historische Ereignis
des Attentats oder dessen historische Persönlichkeiten, sondern viel eher die heute darüber
geführte Debatte in und zwischen den einzelnen Erinnerungsnarrativen und deren Einfluss
auf die bosnisch-herzegowinische Gegenwart. Die fiktive Erzählung des Films beschäftigt
sich somit mit dem gleichen Thema, wie es auch die vorliegende Diplomarbeit tut. Genau
diese Tatsache macht Smrt u Sarajevu überaus wertvoll für die Untersuchung dieser Arbeit.
Eine Erweiterung des analytischen Teils um die Untersuchung dieses Films liegt demnach
geradezu auf der Hand. Auch dass der Film aus wissenschaftlicher Perspektive bisher noch
nicht beleuchtet wurde, spricht für eine detailliertere Beschäftigung mit dieser künstleri-
schen Verarbeitung des Attentats.
Smrt u Sarajevu entwirft ein Gesellschaftspanorama des heutigen Bosniens: ein Leben,
in dem die von Korruption und Stagnation geplagte Gegenwart von Auseinandersetzungen
um die Vergangenheit überschattet wird. (vgl. Sugars 2017) Die gesamte Handlung des
Films spielt sich innerhalb eines einzigen ereignisreichen Nachmittags ab. Das Hotel Europa
in Sarajevo (als Drehort diente allerdings das Holiday Inn) bereitet sich auf die pompösen
Feierlichkeiten anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkriegs vor; es
wird eine große EU-Delegation zum Galadinner erwartet. Das Timing ist jedoch denkbar
ungünstig: Dem Hotel sind die finanziellen Mittel ausgegangen und es steht deshalb unmit-
telbar vor dem Konkurs; die Angestellten, die bereits zwei Monate ohne Gehalt auskommen
mussten, planen einen Streik und den Boykott der Gedenkfeierlichkeiten. (vgl. www-smr-
tusarajevu) Während auf der Dachterrasse des glamourösen Hotels eine Fernsehjournalistin
Interviews über die sich veränderte Perzeption des Attentats von Sarajevo und seines Täters
96 Danis Tanović ist vor allem für sein Kriegsdrama Ničija zemlja (‚No Man’s Land‘), für das er u.a. mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde, und den mehrfach ausgezeichneten Film Epizoda u životu berača željeza (‚Aus dem Leben eines Schrottsammlers‘) bekannt. Tanović ist auch politisch
aktiv und ist Gründungsmitglied der bosnisch-herzegowinischen, sozial-liberalen und multiethnischen Partei Naša stranka (‚Unsere Partei‘). (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Danis_Tanovi%C4%87 [10.09.2019]) 97 Für Zitate und Verweise aus dem Film Smrt u Sarajevu wird hier und in der Folge die Sigle SuS mit Angabe des Zeitausschnitts, auf den verwiesen wird, verwendet. Verwendete Quelle: Smrt u Sarajevu. Danis Tanović (Regie und Szenario). Bosnien-Herzegowina (2016).
117
führt, versucht Hotelmanager Omer alles, um den drohenden Boykott seiner MitarbeiterIn-
nen zu verhindern, was das endgültige Aus für das schuldengeplagte Hotel bedeuten würde.
Die bevorstehende Ankunft der großen EU-Delegation, die sich anlässlich der Gedenkver-
anstaltungen im Hotel aufhalten wird, könnte die Rettung bedeuten. Omer unternimmt im-
mer verzweifeltere und zwielichtigere Versuche, den nahenden Konkurs abzuwenden: Er
heuert die Gangster, die einen illegalen Stripclub und ein Casino im Keller des Hotels be-
treiben, an, die Streikenden mit Gewalt einzuschüchtern. Unterdessen übt der französische
Stargast Jacques Weber (der im Film sich selbst spielt) in der Präsidentensuite eine Rede
über Europa, die er am Abend zum Besten geben wird.98 (vgl. Marchini Camia 2016)
Der Film setzt sich aus vielen verschiedenen Fäden, die eng miteinander versponnen
sind, zusammen. Jeder dieser Fäden steht repräsentativ für einen Strang der gegenwärtigen
bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft. Das Hotel beschreibt also einen Mikrokosmos, in
dem sich die gegenwärtige Situation in Bosnien-Herzegowina widerspiegelt. (ebd.) Ziel ist
es, die vielfältigen Schichten und Ebenen der Missstände in Bosnien zu enthüllen. Die ein-
zelnen, sozialen Hierarchien entsprechenden Rollen, sind trotz ihrer gegensätzlichen Ideo-
logien gezwungen, sich einen gemeinsamen Raum zu teilen und darin miteinander auszu-
kommen. Das Hotel mit seinen vielen Stockwerken, zahlreichen Zimmern sowie langen und
verzweigten Korridoren stellt die perfekte Kulisse dar: groß genug, um unterteilt zu wer-
den, bietet es dennoch einen ganzheitlichen Raum. (vgl. Kiang 2016)
Die unmittelbarste Erkundung der Erinnerung an die Vergangenheit und ihre Aus-
wirkungen auf die bosnisch-herzegowinische Gegenwart erfolgt durch die TV-Sendung
über das Attentat von Sarajevo und den Attentäter Gavrilo Princip am Dach des Hotels. Die
Fernsehjournalistin Vedrana spricht mit zwei Experten über die Gründe hinter der folgen-
reichen Tat und darüber, wie sich die Perzeption des Attentats und des Täters im Laufe der
letzten 100 Jahre verändert hat.
Vedranas erster Gast gibt einen kurzen Überblick über die erinnerungssymbolischen
Markierungen, die in den vergangenen 100 Jahren den Schauplatz des Attentats markierten
und zeigt anhand ihrer die sich stetig wandelnde Wahrnehmung des historischen Ereignis-
ses auf. (vgl. SuS: 06:20–07:00) Er spricht weiters davon, dass es wohl Bosniens Schicksal
sei, nicht nur eine, sondern mehrere Vergangenheiten zu haben: Auch heute noch kann man
98 Tanovićs Film wurde von Bernard-Henri Lévys Theaterstück Hôtel Europe inspiriert, in dem ein Mann (der Schauspieler Jacques Weber) in einem Hotelzimmer in Sarajevo 90 Minuten Zeit hat, eine Rede über Europa vorzubereiten. (vgl. https://www.falter.at/zeitung/20190313/philosoph-auf-abwegen/8af2ddec18 [10.08.2019]) Sein Monolog ist die gleiche Rede, die der VIP-Gast in Tanovićs Film einübt.
118
sich nicht darauf einigen, ob Gavrilo Princip nun Held oder Verbrecher und Franz Ferdi-
nand Okkupator oder Opfer war. (vgl. SuS: 13:40–14:15) Der TV-Gast findet dafür jedoch
nicht ausschließlich mahnende Worte, sondern sieht darin auch eine Chance: Voneinander
abweichende Sichtweisen auf die Vergangenheit können nicht nur trennend wirken, son-
dern bieten auch die Möglichkeit einer ‚einseitigen Denkweise‘ (jednoumlje) (ebd.) entgegen-
zuwirken, sich differenziert mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie aufzuarbei-
ten. Damit eröffnet er eine alternative Perspektive auf das allseits bekannte Dilemma der
stark voneinander abweichenden Auffassungen der Vergangenheit einzelner Erinnerungs-
gruppen in Bosnien.
Der zweite Gast der TV-Sendung spricht über Hinter- und Beweggründe des Atten-
tats und der Attentäter. Er sieht eine starke Verbindung zwischen dem Attentat und der
nationalistischen Gruppierung Crna ruka und ist davon überzeugt, dass diese die Attentäter
für ihre Zwecke rekrutierte und manipulierte; (vgl. SuS: 23:20–23:50) eine Behauptung, die
jedoch in Widerspruch zu den Selbstzeugnissen der Attentäter vor Gericht steht. Gavrilo
Princip hält er weder für einen Helden noch für einen Terroristen, sondern für einen „ma-
nipulierten Jungen und eine Quelle heutiger Manipulationen“99 und spielt damit auf die er-
innerungspolitische Instrumentalisierung Princips an. Dass die Erinnerung an Gavrilo Prin-
cip allerdings nicht nur von serbisch-nationalistischer Seite für machtpolitische Zwecke mo-
bilisiert wird, geht aus seinen Aussagen nicht hervor. Ausgeblendet wird die negative Erin-
nerung an den Attentäter, die dazu genutzt wird, das verklärte Bild der Habsburgermonar-
chie, für dessen Ende Princip in stark vereinfachten Darstellungen verantwortlich gemacht
wird, hochzuhalten.
Ein junger Mann – ein entfernter Verwandter Gavrilo Princips, der in der Tradition
seiner Familie nach seinem berühmten Vettern benannt wurde – nimmt nun als letzter Gast
gegenüber der Journalistin Platz. Aufgeheizt und provoziert von den Äußerungen der zuvor
Interviewten fällt die Begrüßung des jungen Gavrilos recht forsch aus. Bei dem jungen
Mann mit dem bedeutungsschweren Namen handelt es sich offensichtlich um einen blü-
henden serbischen Nationalisten und einen Vertreter der großserbischen Ideologie. Es
kommt zu einer hitzigen – fast stereotypen – Debatte zwischen ihm und der Journalistin
(vgl. SuS: 34:40–37:50), die die gespaltene Perspektive, von denen eben noch in den beiden
letzten Interviews die Rede war, exemplarisch widerspiegelt. (vgl. Sugars 2017) Der Streit
zwischen der Journalistin und dem jungen Princip artet derart aus, dass die TV-Sendung
99 „[…] manipulirani dječak i izvor današnjih manipulacija.“ (SuS: 34:25–34:35)
119
unterbrochen werden muss. (vgl. SuS: 40:45–41:00) Dieser Schlagabtausch zeigt, dass die
jüngeren Generationen, die gerade in ihren Dreißigern sind und an den Kämpfen der 1990er
Jahre nicht (aktiv) beteiligt waren, ebenso tief gespalten sind, wie die älteren. (vgl. Marcin-
kowski 2017: 200) Abseits der Kameras führen die beiden ihre Diskussion weiter. (vgl. SuS:
41:00–43:40; 55:00–58:15) Gerade als sich die Gemüter etwas beruhigen, sich fast schon eine
Art romantische Spannung zwischen der Journalistin und dem Interviewten aufbaut (ebd.
60:25–61:45), bemerkt Gavrilo, dass ihr Gespräch heimlich von Vedrana aufgenommen
wurde. Völlig außer sich bedroht er sie mit seiner Pistole, um sodann vom Dach des Hotels
zu stürmen. (ebd. 69:00–70:00)
Dieser Streit transportiert das Publikum in die Gegenwart des heutigen Bosniens, in
eine Welt, deren Gesellschaft von der Vergangenheit besessen und überwältigt ist. (vgl. Su-
gars 2017) Der Film konfrontiert seine ZuschauerInnen mit eben dieser Besessenheit von
und dem Streit um die Vergangenheit als eine der Hauptursachen der Spaltung in der Re-
gion, was fatale wirtschaftliche, soziale und politische Konsequenzen mit sich zieht und sich
im Film vorrangig am Konkurs des Hotels manifestiert.
Stockwerke tiefer versammelt sich währenddessen ein Großteil der Hotelangestellten
in der Wäscherei, um ihrem Unmut über die ausstehenden Gehälter durch ihr geplantes
Streiken Gehör zu verschaffen. Das Timing ist taktisch klug gewählt: genau jener Tag, an
dem eine große EU-Delegation erwartet wird und ein französischer Stargast im Hotel ver-
weilt. Der internationale Besuch erhöht ihre Chancen, dass ihr Anliegen auf Resonanz stößt.
Sie alle sind sich der Tatsache bewusst, „that no one cares about the plight of the little guy
unless it threatens to disrupt something more ‚important‘.“ (Kiang 2016)
Das Publikum wird mit mehreren Wirklichkeiten der aktuellen Gegenwart Bosniens
konfrontiert. Der Hotelmanager Omer, die stellvertretende Managerin Lamija und ihre
Mutter Hatidža stehen symbolisch für verschiedene Bewältigungsansätze der verheerenden
wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen des Landes: Hotelmanager Omer
versucht die im Land herrschende Korruption und Kriminalität zu seinem eigenen Vorteil
(und dem des Hotels) zu nutzen und greift schließlich auf die Hilfe des Betreibers des im
Hotelkeller angesiedelten illegalen Strip-Clubs zurück (vgl. SuS: 03:35–03:50), der sodann
zwei seiner Schlägertypen beauftragt, sich des Streikorganisators anzunehmen. Lamija ver-
körpert symbolisch all jene der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft, die der Situation
in ihrem Land nur noch mit Lethargie begegnen. Den Problemen stehen sie inzwischen
gleichgültig und teilnahmslos gegenüber. Lamija entscheidet sich den gewalttätigen Über-
griff auf den Organisator des Streiks nicht zu melden, um mögliche Unannehmlichkeiten zu
120
vermeiden. Dies ist eine Entscheidung, die ihr jedoch wenig helfen wird: Da sie es nicht
schafft, die Streikenden von ihrem Vorhaben abzubringen, wie es der Hotelmanager von
ihr verlangt, wird sie vom ihm gekündigt (vgl. SuS: 48:25–51:20) und später sogar sexuell
belästigt (ebd. 64:10–65:50). Lamijas Mutter, die bereits seit 30 Jahren in der Wäscherei des
Hotels arbeitet, erkennt die Notwendigkeit von Veränderung und übernimmt die Rolle der
Streikanführerin, um sich entschieden gegen die Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen.
(vgl. Sugars 2017) Doch auch sie wird keinen Erfolg haben.
Inmitten all dieser Aufregung bereitet der französische VIP-Gast Jacques Weber völ-
lig unbekümmert seine Rede, die er am Abend anlässlich des 100. Jahrestages des Attentats
zum Besten geben wird, vor. In seiner Rede übt er starke Kritik an Europa aus, das, so Bar-
tosz Marcinkowski (2017: 199) in seiner Rezension zu Tanovićs Film,
[…] is presented […] as being an entity closed in a bubble, oblivious to the real problems of the Balkans despite the fact that from time to time Bosnia and Herzegovina appears on the agenda of some Brussels institutions.
Bezeichnenderweise bemerkt der hochgeschätzte Gast jedoch nicht mal, dass er vom Hotel-
personal besonders behandelt wird und reagiert eher herablassend, denn dankend auf die
Bemühungen des Hotelmanagers. Er bittet darum, in Ruhe gelassen zu werden, schließt sich
in seiner Suite ein und zieht die Vorhänge zu, um ungestört seine Rede vorbereiten zu kön-
nen. Kaum auszuhalten ist die Ignoranz, mit der er – verbarrikadiert in seiner Präsidenten-
suite – über die Ignoranz Europas dem Balkan gegenüber monologisiert, ohne auch nur im
Ansatz zu bemerken, eben dieses Verhalten zu reproduzieren. Die Figur des Jacques Weber
agiert im Film als Personifikation Westeuropas. (vgl. Marcinkowksi 2017: 199) Exempla-
risch verkörpert er ein Europa, das seine Augen (bzw. seine Vorhänge) vor den Problemen
auf dem Balkan verschließt; zu sehr ist es mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt.
Seine Klimax erreicht der Film, als Gavrilo Princip mit einer Pistole in der Hand von
einem unter Drogeneinfluss stehenden Sicherheitsbeamten, der vorrangig für die Sicherheit
des französischen Stargasts zuständig ist, erschossen wird, noch bevor Gavrilo überhaupt
die Möglichkeit hat, seine Waffe fallen zu lassen. (vgl. SuS: 71:20–72:30) Daraufhin wird das
Hotel sofort evakuiert. Während sich all das zuträgt, befindet sich Jacques Weber gerade im
Aufzug auf dem Weg in die Lobby. Dort angekommen – völlig ahnungslos darüber, was sich
gerade zugetragen hat – folgt er den anderen Gästen, die nach draußen ins Freie stürmen,
steigt in ein Taxi und fährt davon. (vgl. SuS: 71:20–72:30)
Smrt u Sarajevu kann als eine Art Allegorie auf die bosnisch-herzegowinische Gegen-
wart verstanden werden: ein Land, das, wie es Marcinkowski (2017: 198) in seinem Artikel
121
zum Film treffend zusammenfasst, „is still suffering from the effects of war and is conti-
nuously affected by poor management, a corrupt political elite, as well as economic depres-
sion amidst other countless day-to-day problems.“ Der Bewältigung dieser Zustände wird
auf unterschiedliche Art und Weise begegnet; im Film verkörpert durch den opportunisti-
schen Hotelmanager Omer, seine apathische Stellvertreterin Lamija und ihre engagierte
Mutter Hatidža. Am Ende gibt es für niemanden ein Happy End. Die EU-Delegation, die
Omer mit großer Hoffnung erwartet und die das Hotel vor dem Konkurs retten soll, bleibt
aufgrund der Evakuierung des Hotels aus; Lamija wird nicht nur gekündigt, sondern auch
von ihrem Chef sexuell belästigt; Ihre Mutter wird von Kriminellen weggebracht – wohin
und was sie dort mit ihr vorhaben, bleibt offen. Auch die Streikenden kommen zu spät: Sie
finden nur mehr eine leere Hotellobby vor; es ist niemand mehr da, der ihrem Anliegen
noch Beachtung schenken könnte. (vgl. SuS: 72:10–72:30)
Der Film zielt auf ein Bewusstmachen innerhalb der bosnisch-herzegowinischen Ge-
sellschaft hin, dass alle unter den gleichen Missständen leiden. Lediglich der Umgang damit
und deren Schuldzuschreibung variieren. Deutlich geht das aus dem Gespräch zwischen dem
jungen Princip und der Journalistin hervor:
GAVRILO: Weißt du worüber ich nachdenke? VEDRANA: Ah, du denkst nach?
GAVRILO: Wen würde Gavrilo heute töten? [...]
VEDRANA: Heute ist das völlig egal.
GAVRILO: Wenn es egal ist, kann ich auch dich umbringen? VEDRANA: Kannst du. Und was hast du davon?
GAVRILO: Ich weiß nicht. Die Ermordung eines Journalisten ist immer medial verfolgt.
VEDRANA: Ok, stell ein Bild auf Facebook. Vielleicht bekommst du ja einen
Like. GAVRILO: Nein, wirklich. Irgendetwas muss sich ändern.
VEDRANA: Was? Was muss sich ändern? GAVRILO: Die Situation! Die Menschen müssen verstehen, dass sie für ihre
Freiheit kämpfen müssen!
VEDRANA: Wo siehst du einen Okkupator? Wer okkupierte uns? Wer ist heute der Okkupator?
GAVRILO: Genau das ist das Problem! Das Problem ist, dass du sie heute nicht siehst! Sie fahren in ihren gepanzerten Wagen herum. Sie geben uns Kredite und sagen uns, wie wir zu leben haben. Ich weiß nicht…
Schuld ist dieser lächerliche Clown, zu dem Europa heute geworden ist. Es kontrolliert uns, unternimmt aber nichts.
VEDRANA: Er ist nicht lächerlich. Wir sind lächerlich in unserer Dummheit. Anstatt dass wir uns bemühen, uns das Leben gegenseitig einfacher
122
zu machen, tun wir alles was in unserer Macht steht, um es uns zu
erschweren und unmöglich zu machen.100
Im Gegensatz zum Jahr 1914 ist die Frage des Okkupators heute nicht mehr so eindeutig
und einfach zu beantworten. Okkupiert wird das Land mittlerweile von mehreren, unsicht-
baren Mächten. Vor allem wird Bosnien heute von der Vergangenheit und ethnischen Nar-
rativen okkupiert, die den Nationalismus innerhalb der Region schüren und jedweden Fort-
schritt verhindern. Der Film entwirft deutlich das Bild einer Gesellschaft, die von den vielen
Traumata der Vergangenheit heimgesucht und beherrscht wird, „drifting in a seething
present without the anchor of social cohesion.“ (Marchini Camia 2016) Aber in Smrt u Sara-
jevu wird, wie bereits zuvor erläutert, nicht nur Vorwurf gegen Bosnien-Herzegowina er-
hoben; auch an der tiefen Ignoranz Europas – im Film verkörpert durch den französischen
Stargast Jacques Weber –, das zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist, um zu
bemerken, was auf dem Balkan geschieht, wird Kritik geübt. (vgl. Marcinkowski 2017: 200)
Abschließend wirft Vedrana auf die wiederholte Frage des jungen Gavrilos, wen der
historische Gavrilo heute wohl töten würde, einen äußerst pessimistischen Blick in die Zu-
kunft:
GAVRILO: […] Nur um uns noch darüber zu einigen: Wen würde Gavrilo heute
ermorden? VEDRANA: Was denkst du überhaupt? Dass Gavrilo heute schießen würde? Ga-
vrilo würde sich heutzutage selbst erschießen.
GAVRILO: Was willst du? Dass ich mich umbringe? VEDRANA Ich dachte an den echten Gavrilo, nicht an dich. Wie kannst du nur
nicht verstehen. Das hier ist nicht das Jahr 1914, es gibt keinen Franz
100 GAVRILO: Znaš što razmišljam? VEDRANA: A razmišljaš? GAVRILO: Koga bi to danas Gavrilo ubio?
[...] VEDRANA: Danas ti je to potpuno svejedno. GAVRILO: Ako je svejedno onda mogu ubiti tebe? VEDRANA: Možeš. I šta ćeš dobiti tim? GAVRILO: Ne znam. Ubistvo novinara uvijek je medijski popraćeno. VEDRANA: Aha, stavi sliku na fejsbuk. Možda dobiješ neki lajk.
GAVRILO: Ne, stvarno, nešto se mora promijeniti. VEDRANA: Šta? Šta se to mora promijeniti? GAVRILO: Situacija! Ljudi moraju shvatiti da se moraju boriti za svoju slobodu! VEDRANA: Gdje ti vidiš okupatora? Ko nas okupirao? Ko je okupator danas? GAVRILO: Pa to je problem! Problem je zato što ih ne vidiš. Hodaju i vozaju se u oklopnim vozilima.
Daju nam kredite, kažu kako treba da živimo. Ne znam... Kriv je onaj smiješni klaun koji je Evropa postala danas. Nadgleda, ništa ne radi.
VEDRANA: Nije on smiješan. Mi smo smiješni u svojoj gluposti. Umjesto da se trudimo da učinimo život jedni drugima lakšim, mi činimo sve što je u našoj moći da ga otežamo i učinimo nemo-gućim. (SuS: 55:00-57:00)
123
Ferdinand, es gibt keinen Gavrilo. Du bist nicht Gavrilo. Heute gibt
es kein Attentat, das irgendetwas verändern würde.101
Tanovićs Film hat mit Nachdruck ein Bild Bosniens-Herzegowinas gezeichnet, das
von der Vergangenheit besessen und überwältigt ist. Vor allem in Krisenzeiten, wenn die
Wirtschaft zusammenbricht und staatliche Institutionen versagen, wird die Instrumentali-
sierung der Geschichte zum sicheren Rettungsanker der herrschenden Eliten. (vgl. Marcin-
kowski 2017: 200) Dass geschichtsträchtiger Nationalismus aber nur zu Stagnation führt,
zeigt der Film eindrucksvoll. Er kann damit als Aufruf an alle drei konstitutiven Völker Bos-
nien-Herzegowinas ihre Leidenschaft und Energie nicht in Nationalismus, sondern in etwas
Konstruktiveres zu stecken, verstanden werden. (ebd.) Als Anschauungsbeispiel diente ihm
das Attentat von 1914. Tanović geht es in Smrt u Sarajevu jedoch weniger darum, am Erin-
nerungsdiskurs rund um das Attentat und seine ProtagonistInnen mitzumischen, denn auf-
zuzeigen, wie sehr der Kampf um die Vergangenheit das Land nachhaltig negativ beein-
flusst. Aus dieser Perspektive wird das Attentat in äußerst kritischem Licht beleuchtet. Ob-
wohl sich der Film dezidiert mit der öffentlichen Debatte über das Attentat von Sarajevo
beschäftigt und diese auch zu einem seiner Handlungsstränge macht, dient es doch vorran-
gig als Anschauungsbeispiel, das durch jedes beliebige historische Ereignis, über das in der
Region Uneinigkeit herrscht, ausgetauscht werden könnte.
Der Film liefert also einen äußerst düsteren Blick auf die Gegenwart und Zukunft
Bosniens. Als einziger Lichtblick scheint die vom ersten Interviewgast aufgestellte These,
dass verschiedene Sichtweisen zumindest einseitigem Denken entgegenwirken, hindurch.
Um diese Perspektivenvielfalt in Fortschritt zu verwandeln, müssen allerdings die Vertreter
dieser einzelnen Perspektiven in einen gemeinsamen Dialog treten.
Ganz klar kann Smrt u Sarajevu dem antiimperialistischen Erinnerungsdiskurs zugeord-
net werden. Die stärksten Berührungspunkte sind hierbei vor allem die Kritik an der Vor-
machtstellung und Ignoranz der EU gegenüber Bosnien-Herzegowina sowie die Kritik an
101 GAVRILO: […] Još samo da se složimo: koga bi to danas Gavrilo ubio?
VEDRANA: Ma, šta ti misliš? Da bi Gavrilo danas pucao? Gavrilo bi danas pucao u sebe. GAVRILO: Šta treba? Da ubijem sebe? VEDRANA: Ja sam mislila na pravog Gavrila, ne na tebe. Ma kako ti ne shvataš. Ovo nije 1914. godine,
ne postoji Franc Ferdinand, ne postoji Gavrilo. Ti nisi Gavrilo. Danas ne postoji atentat koji bi bilo šta promijenio. (SuS: 57:45-58:45)
124
den eigenen Reihen. Diese richtet sich gegen eine ethno-nationalistische Spaltung des Lan-
des aufgrund herrschender Uneinigkeit über und daran anschließende Instrumentalisierung
von Vergangenheit.
Wie Literatur hat auch der Film das Potenzial auf Erinnerungsprozesse zurückzuwir-
ken und diese zu beeinflussen. Auch hier kann, wie bereits bei den beiden vorrangegange-
nen Beispielen von Jergovićs Roman und Srbljanovićs Dramentext, aufgrund der fehlenden
zeitlichen Distanz nur erahnt werden, ob und inwiefern Tanovićs Film Einfluss auf beste-
hende Erinnerungskonstrukte nehmen wird. Um sein erinnerungskulturelles Potenzial ent-
falten zu können, muss der Film – wie es auch bei Literatur der Fall ist – in gewissem Aus-
maß von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert werden. Da es sich beim Film um ein popu-
lärkulturelles Medium des kollektiven Gedächtnisses handelt, ist anzunehmen, dass sein er-
innerungskulturelles Leistungsvermögen größer als jenes der Literatur ist. Über die Höhe
der Besucherzahlen des Films in den bosnischen Kinos liegen bedauerlicherweise keine An-
gaben vor. Somit ist unklar, ob Smrt u Sarajevu nun viele BesucherInnen in die Kinos lockte
und auf die Erinnerung einer breiten Masse Einfluss nehmen konnte. Durch die Verleihung
des Silbernen Bären bei der Berlinale 2016 wurde ihm allerdings Aufmerksamkeit zuteil.
Daraus und aus der durchwegs positiven Rezeption des Films102 lässt sich schließen, dass
Smrt u Sarajevu vor allem auf eine gewisse Bewusstseinsbildung dahingehend, der Vergan-
genheit nicht die Übermacht über die Gegenwart zu überlassen, einwirkt.
102 Siehe dazu u.a.: Kiang, Jessica (2016): „Berlin Review: Danis Tanovic’s Exciting, Intelligent Silver Bear Winner ‚Death in Sarajevo‘“, in: IndieWire vom 24.02.2016. https://www.indiewire.com/2016/02/berlin-re-view-danis- tanovics-exciting-intelligent-silver-bear-winner-death-in-sarajevo-266060/ [15.10.2019]; Marchini Camia, Giovanni (2016): „Death in Sarajevo. Berlin 2016 Review“, in: The Film Stage vom 15.02.2016. https://thefilm-stage.com/reviews/berlin-review-death-in-sarajevo/ [02.10.2019]; Marcinkowski, Bartosz (2017): „Trying to
please Jacques“, in: New Eastern Europe 27 (3-4), 198-201. https://www.ceeol.com/search/article-detail?id= 558558 [08.09.2019]; Pavičić, Jurica (2016): „Novi film Danisa Tanovića točka je na ‚i‘ debate na temu atentata u Sarajevu 1914“, in: Jutarnji list vom 27.05.2016. https://www.jutarnji.hr/kultura/film-i-tv/novi-film-danisa-tanovica-tocka-je-na-i-debate-na-temu-atentata-u-sarajevu-1914./4103946/ [15.10.2019]; Skenderagić, Mirza (2016): „Smrt u Sarajevu: Balkanski ‚Gosford Park‘“, in: filmofil vom 15.05.2016.
http://www.filmofil.ba/smrt-u-sarajevu-balkanski-gosford-park/ [15.10.2019]; Sugars, Stephanie (2017): „Review: Sarajevo’s overwhelming past and uncertain future“, in: New York Transatlantic vom 25.04.2017. http://nyta.us/2017/04/25/review-sarajevos-overwhelming-past-and-uncertain-future/ [08.09.2019].
125
8. Resümee
Wie gezeigt werden konnte, ist die Erinnerung an das historische Ereignis des Attentats und
seine ProtagonistInnen ein bis heute hochgradig konflikthaftes Thema. Einzelne Erinne-
rungskreise interpretieren und bewerten das Ereignis auf völlig unterschiedliche und oft-
mals in starkem Kontrast zueinanderstehende Art und Weise. Diese divergierenden Ver-
gangenheitsversionen offenzulegen und zu beschreiben, war Anliegen dieser Arbeit.
Auf erster Ebene ging die Arbeit der Frage nach, wie dem Attentat und den daran
Beteiligten in aktuellen künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen gedacht werden. Als
Grundlage der Untersuchung wurde zu Beginn von mindestens drei koexistierenden Erin-
nerungsdiskursen (serbisch-nationalistischem, europäisch-orientiertem und antiimperialistisch-
em) ausgegangen. Diese Erinnerungsdiskurse wurden durch eine Analyse der Gedenkver-
anstaltungen im Zuge des Zentenariums des Attentats im Jahr 2014 eruiert und dienten so-
dann als Einteilungskategorien der jeweiligen künstlerischen und kulturellen Aufarbeitun-
gen des Attentats. Auf einer zweiten Ebene wurde nach der aktiven Wirkungsweise der
untersuchten Präsentationen des Attentats auf die kollektive Erinnerung gefragt. Dazu
wurde ihr Einfluss auf die zuvor eruierten Erinnerungsdiskurse untersucht. Da jedoch nicht
alle der hier behandelten Objektivationen des historischen Ereignisses den zuvor ermittelten
Erinnerungsdiskursen zugeordnet werden konnten, wurden anhand ihrer Untersuchung
weitere Erinnerungsdiskurse (der touristisch-motivierte sowie der vermenschlichende) offenge-
legt und definiert. Bei der Einteilung und Definition der Erinnerungsnarrative handelt es
sich um theoretische Kategorien, deren klare Grenzen in der Praxis oftmals verschwimmen
können. Daher konnte auch nicht jede Objektivation des Attentats und seiner Protagonis-
tInnen nur einem der ermittelten Erinnerungsdiskurse zugesprochen werden. Manche der
untersuchten künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen weisen Merkmale mehrerer
Narrative auf.
Zur Klärung der aufgeworfenen Fragen wurde zunächst ein theoretisches Funda-
ment, das sich auf Erkenntnisse aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung
stützt, aufgebaut. Die kulturwissenschaftliche Forschung zu kollektivem Gedächtnis und
kollektiver Erinnerung geht davon aus, dass Erinnern ein hochgradig selektiver Prozess ist,
der sich vor allem an Bedürfnissen, Wünschen und Zielen der Gegenwart orientiert. Diese
These enthüllt das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft als Reflexion ihrer aktuellen
126
Selbstverortung und Positionierung gegenüber anderen Kollektiven. Da kollektives Ge-
dächtnis an sich jedoch nicht beobachtbar ist, müssen zu seiner Erforschung kollektive Er-
innerungsakte – wie beispielsweise künstlerische und kulturelle Präsentationen der Vergan-
genheit – untersucht werden.
Die für die Untersuchung ausgewählten Primärquellen wurden in drei thematischen
Einheiten zusammengefasst: Erinnerung im öffentlichen Raum, Literatur und Film. Konkret
handelte es sich um das Gavrilo-Princip-Denkmal in Istočno Sarajevo, die aktuelle erinne-
rungssymbolische Markierung des Schauplatzes des Attentats, das Museum ‚Sarajevo 1878–
1918‘ mit einem Exkurs zur Ausstellung ‚Sarajevo 1914–2014‘ in der Vijećnica, eine thema-
tische Stadtführung zum Attentat, das Souvenirangebot Sarajevos in Bezug auf das histori-
sche Ereignis, den Roman Nezemaljski izraz njegovih ruku von Miljenko Jergović, den Dra-
mentext Mali mi je ovaj grob von Biljana Srbljanović sowie den Film Smrt u Sarajevu von
Danis Tanović.
Mit den aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung gezogenen Erkenntnissen
ließ sich festhalten, dass kollektive Erinnerung kein objektives Abbild der Vergangenheit
darstellt. Richtungsweisend für die Interpretation und Bewertung von Vergangenem ist
vornehmlich die Gegenwart. Für die im öffentlichen Raum visualisierten und realisierten
Verarbeitungen des Attentats wurden zwei weitere Forschungsstrategien eingeführt: jene
der diskursanalytischen Untersuchung und jene der sogenannten Augenarbeit. Die Analyse der
zu den künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen verfassten Online-Medienberichter-
stattung diente der Offenlegung erinnerungsrelevanter Machtstrukturen. Die visuelle Au-
genarbeit vor Ort ergänzte die Theorien der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung
und der diskursanalytischen Untersuchung um eine emotionale und physische Ebene.
Der analytische Teil wurde mit dem 2014 für Gavrilo Princip errichteten Denkmal in
Istočno Sarajevo eingeleitet, welches eindeutig dem serbisch-nationalistischen Erinnerungs-
diskurs zugeordnet werden konnte. Dieses Narrativ begreift das serbische Volk vorrangig
als Opfer, das sich die Geschichte hindurch immer wieder aufs Neue von Okkupationsmäch-
ten zu befreien versucht. Diesem Tenor folgend wird auch die historische Figur Gavrilo
Princips einer Anpassung unterzogen. Um ihn in den serbisch-nationalistischen Erinne-
rungsdiskurs aufnehmen und einbetten zu können, wurden Princip und seine Tat einer be-
wussten Verzerrung unterzogen, insofern als dem Attentat seine jugoslawische Ausrichtung
abgesprochen und zu einer ausschließlich SerbInnen befreienden und vereinenden Tat um-
interpretiert wurde. Durch die Denkmalsetzung wurde der auf Princip projizierte Wert
vom mutigen Freiheitskampf für das serbische Volk in Stein gemeißelt. Princip wurde zur
127
positiven Identifikationsfigur mit Vorbildfunktion und erhielt durch das Denkmal einen
festen Platz im Erinnerungskanon des serbisch-nationalistischen Narrativs. Die feste Ver-
ankerung des Denkmals im gesellschaftlichen Leben der Erinnerungsgruppe, durch an ihm
abgehaltene Praktiken und Riten wie Kranzniederlegungen und Gedenkminuten, bestätigen
die vom serbisch-nationalistischen Erinnerungsdiskurs entworfene Vergangenheitsversion
immer wieder aufs Neue. Die Interpretation Princips als serbischer Freiheitskämpfer ist in-
sofern bedenklich, als dass sie im vorliegenden Kontext auf eine Abspaltung der Republika
Srpska vom bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat abzielt. Diese würde jedoch die Gefahr
gewalttätiger Auseinandersetzungen mit sich bringen. Die Errichtung eines Denkmals für
eine Persönlichkeit, deren historische Deutung derart kontrovers ausfällt, zeugt nachdrück-
lich vom Desinteresse des serbisch-nationalistischen Narrativs an einer dialogischen Aufar-
beitung der Vergangenheit mit anderen Erinnerungsgemeinschaften und ehemaligen
KriegsgegnerInnen.
Im Gegensatz zum Denkmal, das sich inmitten eines Wohngebiets, in das sich nur
selten TouristInnen verirren, befindet, liegt der Schauplatz des Attentats in einem urbanen
Umfeld und ist häufig Ziel verschiedenster Reisegruppen. Die visuelle Realisierung der Er-
innerung am Schauplatz des Attentats ist eher unscheinbar. An relativ niedriger Stelle wurde
an der Fassade des Museums ‚Sarajevo 1878–1918‘, welches sich direkt am Schauplatz befin-
det, eine Gedenktafel mit neutralem zweisprachigem Inhalt angebracht; der Ort, an dem
einst das für Franz Ferdinand und Sophie errichtete Sühnedenkmal stand, wurde durch eine
auf eine Glasplatte gedruckte Skizze des damaligen Denkmals – ebenfalls um einen zwei-
sprachigen Text ergänzt – markiert. Da die erinnerungssymbolische Markierung des Schau-
platzes keinem der drei im Theorieteil ermittelten Erinnerungsdiskurse zugeordnet werden
konnte, wurde anhand seiner Untersuchung ein neuer Diskurs – der touristisch-motivierte –
eingeführt. Die Untersuchung zeigte, dass die Zweisprachigkeit der Texte als Hinweis auf
die vorrangig touristische Nutzbarmachung des historischen Ereignisses des Attentats ge-
deutet werden kann. Dabei rückt eine Auseinandersetzung mit der Geschichte in den Hin-
tergrund; im Fokus steht viel mehr das sensationalistische Moment, das dem Ort, an dem
der Erste Weltkrieg ausbrach, innewohnt. Davon zeugt auch die geplante erinnerungssym-
bolische „Ausschlachtung“ des Schauplatzes durch die Rekonstruktion des einstigen Denk-
mals für das Thronfolgerehepaar und die Rückkehr der in den Asphalt eingelassenen Fuß-
abdrücke Princips.
Merkmale des neu eingeführten touristisch-motivierten Narrativs konnten sodann auch
bei der Untersuchung des Museums ‚Sarajevo 1878–1918‘ ausgemacht werden. Obwohl sich
128
das Museum der gesamten Periode der Habsburgerherrschaft in Bosnien-Herzegowina wid-
met und das Attentat von 1914 nur einen von vielen Themenpunkten in der Ausstellung
darstellt, weiß das Museum um dessen Anziehungskraft auf (ausländische) TouristInnen.
Das historische Ereignis des Attentats zieht BesucherInnen aus aller Welt an, was dem Mu-
seum wirtschaftliche Vorteile verspricht; in der Konzipierung des Museums, die gesamte
Ära der Doppelmonarchie in Bosnien-Herzegowina behandelnd, kann sich die Habsburg-
Nostalgie voll entfalten. Dieser zweite Aspekt verweist auf den europäisch-orientierten Erin-
nerungsdiskurs, der ebenfalls eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ge-
schichte in den Hintergrund drängt. Das Museum gibt zwar durch das selbstauferlegte
Credo des Nicht-Kommentierens seiner Ausstellungsstücke vor, eine objektive Sicht auf die
Vergangenheit zu bieten. Dies konnte jedoch in dieser Arbeit widerlegt werden. Die Aus-
stellung präsentiert die Fremdherrschaft ausschließlich als fruchtbare, modernisierende und
zivilisierende Mission, deren koloniale Züge – bis auf eine einzige Ausnahme – völlig aus-
geblendet werden. Wenn die Habsburgerperiode in Bosnien-Herzegowina ausschließlich in
positivem Licht dargestellt wird, muss das Attentat, das das Ende dieser Modernisierungs-
mission bedeutete, zwangsläufig negativ behaftet sein. Bekräftigt wird diese Behauptung
durch die im Museum prominent platzierten kitschigen Wachsfiguren Franz Ferdinands
und Sophies und die im Gegenteil dazu stiefmütterlich behandelte Betonplatte mit Princips
Fußabdrücken. Somit ist das Museum nicht die wertneutrale Institution, die es vorgibt zu
sein. Die Quelle des auch im Museum deutlich spürbaren Habsburg-Mythos konnte in der
angestrebten Aufnahme Bosniens in die EU ausgemacht werden. In einer stark simplifizier-
ten Sichtweise übernimmt heute die EU die Modernisierungsmission, die der einstigen
Habsburgermonarchie attribuiert wird. Darauf basierend hält der europäisch-orientierte Er-
innerungsdiskurs an der Vorstellung eines heute besser gestellten Bosniens fest, wenn es
sich niemals von der Habsburgermonarchie losgelöst hätte.
Der zum Kapitel des Museums vorgenommene Exkurs zur Ausstellung ‚Sarajevo
1914–2014‘ in der Vijećnica offenbarte erneut den die Periode der Habsburgermonarchie
glorifizierenden Tenor des europäisch-orientierten Erinnerungsdiskurses. Im Gegensatz zum
Museum kommuniziert diesen die Ausstellung, die vor allem auf Text setzt, ganz offen. Viel
Raum wird vor allem dem ermordeten Thronfolgerehepaar eingeräumt, das einer starken
Verkitschung unterzogen wurde. Princips Attentat bedeutete nicht nur das Ende der ruhm-
vollen Ära der Habsburgermonarchie; auch die romantische Liebesgeschichte Franz Ferdi-
nands und Sophies erfuhr durch das Attentat ein tragisches Ende.
129
Der thematische Stadtrundgang zum Attentat konnte, wie schon das Museum, eben-
falls zwischen dem touristisch-motivierten und europäisch-orientierten Erinnerungsdiskurs ver-
ortet werden. Gleich dem Museum liegt es auch in der Natur des Stadtrundgangs, vor allem
auf TouristInnen ausgerichtet zu sein. Dies bestätigte einmal mehr, dass sich Sarajevo als die
Stadt, in der einst Weltgeschichte geschrieben wurde, positioniert und das Attentat zu sei-
ner „Marke“ macht, aus der vor allem finanzielle und ökonomische Vorteile gezogen wer-
den. Dem touristisch-motivierten Narrativ entsprechend, ist die thematische Stadtführung
zwar an Geschichte interessiert, nicht aber an ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung und
einem klärenden Dialog mit anderen Erinnerungsversionen. Der Fokus liegt viel mehr auf
dem sensationalistischen Moment des Attentats als Auftakt des Ersten Weltkrieges. Diese
Haltung macht es sodann ein Leichtes, in ein pro-habsburgisches bzw. pro-europäisches
Narrativ zu verfallen. Vor allem die dem Stadtrundgang vorangestellte „Kontextualisie-
rungsphase“ diente dem Aufrufen stereotyper Erinnerungen an die fortschrittliche Moder-
nisierungs- und Zivilisierungsmission der österreichisch-ungarischen Monarchie, was für
den europäisch-orientierten Erinnerungsdiskurs spricht.
Im Rahmen dieser Untersuchung war es leider nicht möglich, zu vergleichenden Zwe-
cken an weiteren geführten thematischen Stadtspaziergängen zum Attentat teilzunehmen.
Besonders interessant wäre die Erforschung des geografisch weiter gefassten Rundgangs,
der das allen Stadtrundgängen gleiche Programm um einen Besuch des Denkmals für Ga-
vrilo Princip in Istočno Sarajevo ergänzt. Durch das Einbeziehen des Denkmals wäre eine
verklärte Sicht auf die Vergangenheit schwerer zu argumentieren, da den TeilnehmerInnen
sich voneinander unterscheidende und miteinander konkurrierende Vergangenheitsversi-
onen präsentiert werden.
Das Attentat und seine ProtagonistInnen mögen zwar zur „Marke“ der Stadt gewor-
den sein, im Souvenirangebot der Altstadt Sarajevos schlägt sich das jedoch (noch) nicht
nieder. Auch hier hätte sich eine vergleichende Studie der in der Kunststadt Andrićgrad
angebotenen Souvenirs als äußerst aufschlussreich erwiesen. Da Princip in der Retorten-
stadt offenkundig als Held gefeiert wird, liegt es nahe, im dortigen Souvenirangebot auf
Erinnerungsstücke des Attentäters zu stoßen.
Die zweite große thematische Einheit der untersuchten künstlerischen und kulturel-
len Verarbeitungen des Attentats war jene der Literatur. Es konnte gezeigt werden, dass die
beiden untersuchten literarischen Werke – Miljenko Jergovićs Roman Nezemaljski izraz nje-
govih ruku sowie Biljana Srbljanovićs Drama Mali mi je ovaj grob – alternative Vergangen-
heitsbilder des Attentats und seiner ProtagonistInnen entwerfen.
130
Jergović betrachtet die historischen Figuren Franz Ferdinand und Gavrilo Princip in
seinem Roman aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. Seine Darstellungen sind nie einsei-
tig, idealisierend oder dämonisierend, sondern versuchen, ein ehrliches Bild der beiden zu
zeichnen. Bisher wurden Gavrilo Princip und Franz Ferdinand meist von außen gewisse
Rollen zugeschrieben. Die im Roman konstruierte Erinnerung versucht, die Menschen hin-
ter diesen Rollen – also nicht als Held oder Terrorist bzw. als Tyrann oder weltoffener Mo-
dernisierer – darzustellen. So zeigen die beiden Männer in Nezemaljski izraz njegovih ruku
auch völlig andere Facetten und Züge als jene auf, die ihnen üblicherweise attribuiert wer-
den. Jergović begreift die beiden Protagonisten entgegen aller bisherigen Interpretationen
als prädestinierte Versager und Außenseiter, die in vielfacher Hinsicht von ihrem gesell-
schaftlichen und privaten Umfeld missverstanden wurden. Beiden spricht er auch eine ge-
wisse Ritterlichkeit zu, ohne die Männer dabei zu verklären. Franz Ferdinands unerschüt-
terliche Liebe zu seiner Frau, die er immer wieder aufs Neue vor dem kaiserlichen Hof ver-
teidigen musste, wird herausgearbeitet; ohne aber des Thronfolgers zahlreiche Schwächen
auszublenden. So entsteht keine verkitschte und verklärte Inszenierung einer Liebesge-
schichte – wie es beispielsweise im Museum und der Ausstellung in der Vijećnica der Fall
ist –, sondern ein menschliches Bild Franz Ferdinands. Princips ehrenhaftes Verhalten grün-
det dem Roman zufolge in seiner Mission, sich für einen gemeinsamen südslawischen Staat
einzusetzen und schlussendlich dafür sogar sein Leben zu opfern. Aber auch hier geht Jer-
gović in seiner Bewertung vorurteilsfrei vor, da der Autor sehr wohl Princips Hingabe wür-
digt, nicht aber das Mittel seiner Erreichung. Das Bild des Attentäters wird einer Revision
unterzogen: In Jergovićs Roman ist Princip weder mutiger Freiheitskämpfer für das serbi-
sche Volk – als den ihn das serbisch-nationalistische Narrativ erinnert – noch fanatischer
Aufrührer mit kriminellem Hintergrund – wie das europäisch-orientierte Narrativ sugge-
riert. Durch die empathische Annäherung des Autors an seine Protagonisten gelingt Jergo-
vić ein menschliches Bild der beiden, das sie mit all ihren Tugenden und Schwächen porträ-
tiert. Eine solche Herangehensweise konnte in keinem der zuvor ermittelten Erinnerungs-
diskurse ausgemacht werden. Aus diesem Grund wurde die Liste der Erinnerungsdiskurse
um einen weiteren – den vermenschlichenden Erinnerungsdiskurs – ergänzt. Ein solcher ist,
wie Jergovićs Roman, nicht an der Instrumentalisierung des Attentats und seiner Protago-
nistInnen, sondern an den tatsächlichen Menschen hinter den ihnen zugeschriebenen Rol-
len interessiert. Dieser empathische Zugang zur Geschichte bietet auch die Möglichkeit ih-
rer kritischen Aufarbeitung: Die unmittelbare Zeit nach dem Attentat, in der der serbischen
Bevölkerung kollektiv die Schuld an der Ermordung des Thronfolgers zugesprochen wurde,
131
wirft einen Schatten auf Sarajevo als oftmals postulierte Stadt der zwischenvölkischen Liebe.
Doch gerade eben diese Zeit entlarvt Jergović in dem fiktiven Text, der dem ersten, histori-
schen Romanteil nachgestellt ist, als Ursprung der kriegerischen Auseinandersetzungen der
1990er Jahre und der bis heute andauernden ethnischen Konflikte.
Auch Biljana Srbljanovićs Dramentext Mali mi je ovaj grob ist dem vermenschlichenden
Erinnerungsdiskurs zuzuordnen, da sie eine Miljenko Jergovićs Roman ähnliche Intention
verfolgt. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht jedoch ausschließlich die Figur Gavrilo Prin-
cip und seine Persönlichkeit. Wie bereits Nezemaljski izraz njegovih ruku bietet auch Mali mi
je ovaj grob einen alternativen Blick auf das Attentat und seine ProtagonistInnen. Princip
erscheint im Stück weder als Held noch als Terrorist, sondern vor allem als naiver, aber
seine Werte und Ideale mit enormer Willensstärke verteidigender Jugendlicher. Ihrer In-
fantilität – ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück zieht – geschul-
det, werden Gavrilo und die anderen Attentäter zu Opfern auf zweifacher Ebene: Zum einen
werden sie zu Opfern des großserbischen Nationalismus – im Stück durch Apis und die Crna
ruka verkörpert –, der sie für seine eigenen Zwecke ausnutzt. Zum anderen werden sie zu
Opfern der lokalen folkloristischen Mythologie, die einzig das Attentat als Mittel zur Errei-
chung politischer Ziele kannte. Srbljanović gelingt es zwar, sich gängigen Interpretationen
der Jungbosnier zu widersetzen, nicht aber ohne sie selbst zu einem gewissen Grad zu idea-
lisieren. Princip und die anderen Attentäter werden zu Märtyrern hochstilisiert, die willent-
lich die psychischen und moralischen Qualen eines Mordes auf sich nahmen, um das Land
von der Fremdherrschaft zu befreien. Auch bei Jergović sterben die Attentäter einen Mär-
tyrertod; nicht aber, weil der Autor sie als solche sieht, sondern weil sie sich selbst als solche
sahen: Anstelle eines unehrenhaften Todes nach langwieriger Krankheit zogen die Attentä-
ter von Sarajevo den ruhmreichen Märtyrertod vor. Im Gegensatz dazu inszeniert Srbljano-
vić in ihrem Text Princips Tod als den eines Märtyrers, der sich für den alle SüdslawInnen
vereinenden edlen Jugoslawismus opferte. Der Dramentext ist um eine klare Trennung zwi-
schen Gut und Böse bemüht, was zu einer schwer vereinfachten Darstellung der Ereignisse
und Persönlichkeiten führt. Ein solcher Blick erlaubt keine facettenreiche und menschliche
Darstellung aller am Attentat Beteiligten.
Durch die Verbindung des Attentats von 1914 auf Franz Ferdinand mit jenem auf
Zoran Đinđić im Jahre 2003 verknüpft das Stück zwei völlig unterschiedliche historische
und geopolitische Kontexte miteinander. Das Attentat als legitimes politisches Mittel für das
edle Vorhaben der Vereinigung aller SüdslawInnen einerseits gutzuheißen, es aber anderer-
seits als Instrument zur Erreichung serbisch-nationalistischer Interessen zu verurteilen, ist
132
vor allem daher problematisch, da das Drama dabei versagt, genügend Angaben zu geben,
um sich eindringlich mit der Legitimation der Theorie des Tyrannenmordes befassen zu
können.
Mit der Untersuchung des Films Smrt u Sarajevu von Danis Tanović wurde die für
diese Arbeit getroffene Auswahl der künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen des At-
tentats abgeschlossen. Anders als die diesem Kapitel vorangegangenen Objektivationen der
Vergangenheit thematisiert Tanovićs Film nicht per se das historische Ereignis des Atten-
tats. Im Fokus des Films steht viel mehr die heute darüber geführte Debatte und ihr Einfluss
auf das gegenwärtige Bosnien-Herzegowina. Wenn sich der Film auch dezidiert mit dem
öffentlichen Diskurs über das Attentat auf Franz Ferdinand beschäftigt, dient dieses histo-
rische Ereignis im Grunde nur dazu, die Geschichtsbesessenheit als eine der wesentlichen
Ursachen der Spaltung in der Region exemplarisch zu demonstrieren. Der historische Be-
zugspunkt des Attentats könnte durch zahlreiche andere vergangene Ereignisse, über die
Uneinigkeit herrscht, ausgetauscht werden.
Das in Tanovićs Werk stark wahrzunehmende antiimperialistische Moment spricht
für eine Zuordnung zum antiimperialistischen Erinnerungsdiskurs. Der Film suggeriert, dass
– im Gegensatz zu 1914 – das Land heute von mehreren, inneren und äußeren unsichtbaren
Mächten im übertragenen Sinne okkupiert wird. Zum einen wird das gegenwärtige Bos-
nien-Herzegowina von der Vergangenheit und ethnischem Nationalismus beherrscht, der
jedweden Fortschritt in der Region verhindert. Zum anderen okkupiert die Vormachtstel-
lung Europas gegenüber dem Balkan von außen das Land. Die Untersuchung zeigte, dass
die Szenerie des Films – das bankrotte Hotel Europa – einen Mikrokosmos der bosnisch-
herzegowinischen Gegenwart beschreibt, der das Publikum mit den fatalen wirtschaftli-
chen, politischen und sozialen Bedingungen des Landes konfrontiert. Der opportunistische
Hotelmanager Omer, seine apathische Stellvertreterin Lamija und ihre aktivistische Mutter
Hatidža verkörpern verschiedene Bewältigungsansätze dieser desaströsen Lage, deren
Grundübel dem Film zufolge in der Geschichtsbesessenheit und dem herrschenden Natio-
nalismus zu verorten ist. Das dem Balkan gegenüber gleichgültig agierende Europa – im
Film personifiziert durch den französischen Stargast Jaques Weber – wird als Okkupations-
macht von außen verstanden. Der VIP-Gast nimmt – wie auch das heutige Westeuropa –
keine Kenntnis von der Wertschätzung und Achtung, die ihm entgegengebracht wird. Zu
sehr mit sich selbst und seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, verschließt der Gast
bzw. Europa die Augen vor den Problemen in der Region.
133
Smrt u Sarajevu formuliert nachdrucksvoll einen Appell an sein Publikum, sich nicht
von der Vergangenheit überwältigen und diese sodann das Hier und Jetzt bestimmen zu
lassen. Wenn der Film auch ein äußerst düsteres Bild der Gegenwart und Zukunft Bosniens
zeichnet, lässt er dennoch Platz für einen schmalen Lichtblick: Gespaltene Erinnerungen
einzelner Kollektive, die konkurrierende Sichtweisen und Interpretationen der Vergangen-
heit offenbaren, bieten das Potenzial einseitigen und festgefahrenen Vergangenheitsversio-
nen entgegenzuwirken.
Wie anhand der Untersuchung der künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen
gezeigt werden konnte, ist dem serbisch-nationalistischen, dem europäisch-orientierten sowie
dem touristisch-motivierten Erinnerungsdiskurs gemein, sehr wohl an Geschichte, nicht aber
an ihrer dialogischen und kritischen Aufarbeitung interessiert zu sein. Die Erinnerung an
die Vergangenheit wird hier den eigenen Interessen entsprechend interpretiert. Weder das
verzerrte Bild Princips als serbischer Freiheitskämpfer des serbisch-nationalistischen Narrativs
noch der verklärte Blick auf die K.-u.-k.-Monarchie des europäisch-orientierten Erinnerungs-
diskurses erlaubt eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, da dafür auch
die eigene Erinnerung einer ehrlichen Reflexion unterzogen werden müsste. Die Erinne-
rung des touristisch-motivierten Narrativs setzt auf eine sensationalistische Ausschlachtung
des Ereignisses, die das Narrativ empfänglich für eine idealisierte oder dämonisierte Ausle-
gung des Attentats und seiner ProtagonistInnen macht.
An einem dialogischen Gedächtnis sind lediglich das vermenschlichende und antiimpe-
rialistische Erinnerungsnarrativ interessiert. Hierbei geht es in der Auseinandersetzung mit
dem Attentat und den daran Beteiligten nicht um die Instrumentalisierung der Vergangen-
heit für gesellschaftspolitische Zwecke eines bestimmten Kollektivs. Das vermenschlichende
Narrativ legt seinen Fokus auf eine empathische, aber wertneutrale Annäherung an die Per-
sönlichkeiten hinter den ihnen oftmals zugeschriebenen Rollen. Das antiimperialistische Nar-
rativ kämpft vor allem gegen den die gesamte Region beherrschenden Nationalismus und
die Vormachtstellung Europas an. Fraglich ist das Ausmaß des erinnerungsformenden Ein-
flusses von Jergovićs und Srbljanovićs Werken: Ihre Rezeption wird vorranging in intellek-
tuellen Kreisen stattfinden, wodurch sich ihr erinnerungskulturelles Potenzial nicht an einer
breiten Öffentlichkeit entfalten wird können. Anders könnte sich dies bei Tanovićs Film
gestalten: Als populärkulturelles Medium des kollektiven Gedächtnisses bietet Smrt u Sara-
jevu die Möglichkeit, auf die Erinnerung einer breiteren Masse zu wirken.
134
Erinnerung/en teilen – die Doppeldeutigkeit des für die vorliegende Arbeit gewählten
Titels konnte anhand der hier untersuchten künstlerischen und kulturellen Verarbeitungen
des Attentats und seiner ProtagonistInnen deutlich aufgezeigt werden. Ihre Untersuchung
offenbarte, dass das historische Ereignis als Projektionsfläche für vielschichte, ungeklärte
Dilemmata der bosnisch-herzegowinischen Gegenwart dient. Die Erinnerungen an das At-
tentat teilen einzelne Erinnerungsgemeinschaften entlang tiefer Gräben. Gerade das serbisch-
nationalistische und das europäisch-orientierte Erinnerungsnarrativ stehen in starkem Kontrast
zueinander und schließen einander aus: Während die Erinnerung des serbisch-nationalisti-
schen Erinnerungsdiskurses den Wunsch nach Abspaltung vom bosnisch-herzegowinischen
Staat widerspiegelt, verweist die vom europäisch-orientierten Narrativ konstruierte Erinne-
rung auf den Wunsch der Aufnahme in die EU.
Die Arbeit konnte darüber hinaus auch jene Tendenzen aufzeigen, die ihren Fokus
auf die gemeinsamen bzw. geteilten Erinnerungen an das Attentat und seine ProtagonistIn-
nen richten. Dadurch kann festgefahrenen und einseitigen Vergangenheitsdarstellungen ge-
trotzt und die Voraussetzung für ein dialogisches Gedächtnis geschaffen werden. Das dialo-
gische Gedächtnis verfolgt eine ungeschönte Erinnerung belastender Ereignisse und hilft
sodann, die erdrückende Last der Vergangenheit zu überwinden.
135
9. Sažetak
Originalni naslov ovog diplomskog rada – Erinnerung/en teilen – nosi dvostruko značenje:
sjećanja se mogu dijeliti sa drugima, ali isto tako ona mogu podijeliti mišljenja o prošlosti,
pogotovo onda kada postoje nesuglasice koje vode ka konfliktima između različitih nositelja
sjećanja. Od ratnih konflikata 1990-ih g. na području bivše Jugoslavije se historija razvila u
pravu „borbenu arenu“. Pojedini kolektivi sjećanja se trude kroz svjesnu i njima odgovara-
juću iskrivljenost da iskoriste historiju za svoje današnje potrebe i interese. Takvih sjećanja
koje dijele kolektive ima bezbroj.
Atentat Gavrila Principa na austro-ugarskog prijestolonasljednika Franca Ferdinan-
da i njegovu suprugu Sofiju u Sarajevu koji važi za okidač Prvog svjetskog rata je do dan
danas kontroverzna tema. Posebno povodom stogodišnjice početka Prvog svjetskog rata u
2014. g. je atentatu i njegovim protagonistima posvećena ponovna pažnja u okviru naučnih
manifestacija te umjetničkih i kulturnih projekata. Interes ka historijskom događaju se otad
nije povukao; taj događaj je u naknadnim godinama imao i još uvijek ima veliki odjek u
umjetnosti i kulturi. Današnje interpretacije sarajevskog atentata otkrivaju ga kao prizmu u
kojoj se ne samo mnogo interpretacija prošlosti, nego i ideološki potpuno suprotni pogledi
na sadašnjost preklapaju. Polazeći od aktualnosti i sa njom povezanom debatom ovaj se rad
posvećuje istraživanju kolektivnih sjećanja na atentat i njegove protagoniste te sa njima
povezano procjenjivanje historijskog događaja sa strane različitih nositelja sjećanja.
Na prvoj razini je rad u potrazi za odgovorom na pitanje kako se atentat i prota-
gonisti u aktuelnim umjetničkim i kulturnim radovima pamte. Osnovu istraživanja čine
najmanje tri koegzistirajuća takozvana ‚diskursa sjećanja‘: srpsko-nacionalistički, evropsko-
orijentisani i antiimperijalistički diskurs sjećanja. Na drugoj razini je fokus istraživanja kao
aktivan način djelovanja istraženih obrađivanja atentata na kolektivno sjećanje. Za to se
analizirao njihov utjecaj na prethodno spomenute pronađene diskurse sjećanja. Budući da
objektivacije historijskog događaja ne pripadaju jednom od pomenutih diskursa sjećanja, u
ovom su radu dodatne naracije sjećanja bile pronađene i definirane: turističko-motivisani i
humanizirajući diskurs sjećanja.
Važan dio ovog rada je teoretska osnova koja se gradi na saznanjima iz kulturno-
naučnog istraživanja kolektivnog pamćenja. Kulturnonaučni koncept pamćenja tvrdi da je
sjećanje veoma selektivan proces koji se orijentiše na potrebe, želje i ciljeve sadašnjosti, a ne
prošlosti. Ova teza otkriva kolektivno pamćenje jedne zajednice kao odraz toga kako se ona
u poređenju sa drugim kolektivima pozicionišu. Budući da se kolektivno pamćenje ne može
136
posmatrati, za istraživanje se moraju analizirati radovi kolektivnih sjećanja, kao što su na
primjer umjetnička i kulturna obrađivanja prošlosti.
Odabrane umjetničke i kulturne prezentacije sarajevskog atentata razvrstane su u tri
tematske jedinice: sjećanje u javnom prostoru, književnost i film. Tačnije se radi o spomeniku
Gavrilu Principu u Istočnom Sarajevu, o aktuelnim simbolima sjećanja na mjestu atentata, o
muzeju ‚Sarajevo 1878–1918‘ sa ekskursom ka izložbi ‚Sarajevo 1914–2014‘ u Vijećnici, o
tematskom gradskom obilasku, o ponudi suvenira Sarajeva povezanih sa historijskim doga-
đajem, o romanu Nezemaljski izraz njegovih ruku Miljenka Jergovića, o dramskom tekstu Mali
mi je ovaj grob Biljane Srbljanović te o filmu Smrt u Sarajevu Danisa Tanovića.
Zasnovano na teoriji kulturnonaučnog istraživanja kolektivnog pamćenja moglo se utvr-
diti da kolektivno sjećanje nije objektivan odraz prošlosti. Presudno za tumačenje i pro-
cjenjivanje prošlosti prije svega je sadašnjost. Za u javnom prostoru vizualizirana obra-
đivanja atentata uvedene su još dvije strategije istraživanja: diskurzivno-analitično istraživanje
i „rad očiju“. Diskurzivno-analitično istraživanje je služilo otkriću za sjećanje relevantnih
moćnih struktura. Vizualni „rad očiju“ na licu mjesta upotpunilo je teoriju kulturnonaučnog
istraživanja kolektivnog pamćenja i diskurzivno-analitično istraživanje na emocionalnoj i
fizičkoj razini.
Ovaj je diplomski rad mogao pokazati da srpsko-nacionalistički diskurs sjećanja shvaća
srpski narod uglavnom kao žrtvu koja je kroz cijelu historiju pokušala osloboditi se od
mijenjajućih okupacijskih sila. Prateći ovaj tenor i figura Gavrila Principa se podešavala.
Kako bi bio prihvaćen u srpsko-nacionalistički diskurs sjećanja slika Principa i njegovog čina
namjerno se iskrivila: atentatu je bila osporena jugoslovenska orijentacija i novo se inter-
pretirao u isključivo za Srbe oslobađajući i ujedinjavajući čin. U kontekstu Bosne i
Hercegovine se na osnovi te interpretacije izrazi želja Republike Srpske za odcjepljenjem od
bosanskohercegovačke države. Evropsko-orijentisani diskurs sjećanja po svaku cijenu poku-
šava da svoje pamćenje prilagodi evropsko kolektivnom sjećanju. I ovdje se naučni historijski
rad povlači u pozadinu što vodi ka uveličanoj slici Austro-Ugarske Monarhije i nereflek-
tiranom uvažavanju evropskih vrijednosti. Izvor fenomena austro-ugarskog mitosa se može
pripisati želji za ulaskom Bosne u Evropsku Uniju. Sa jedne veoma pojednostavljene tačke
gledišta Evropska Unija predstavlja nasljednicu Habsburške Monarhije. Evropsko-orijen-
tisani narativ vjeruje da bi današnja Bosna i Hercegovina bila u boljoj poziciji da se nikada
nije odcijepila od Austro-Ugarske. Sjećanje turističko-motivisanog diskursa se služi senzacio-
nalističkim iskorištavanjem događaja sarajevskog atentata. Time taj narativ postaje prihvat-
137
ljiv za idealizirano ili demonizirano tumačenje atentata i njegovih protagonista. Humani-
zirajući diskurs sjećanja ne pokazuje interes u instrumentalizaciji historijskog događaja, nego
stavlja fokus na empatično i neutralno približavanje ličnostima protagonista iza im često
pripisanih uloga. Antiimperijalistički narativ se uglavnom bori protiv u cijeloj regiji vladaju-
ćeg nacionalizma i nadmoći Evrope nad Balkanom. U centru pažnje antiimperijalističkog
narativa stoji antiimperijalistički karakter sarajevskog atentata. Za razliku od 1914. g. se
danas imperijalne moći razumiju u prenesenom smislu. Iznutra u regiji prevladavaju prošlost
i etnički nacionalizam koji svaki napredak sprečavaju. Izvana je regija okupirana nadmoću
Evrope nad njom.
Dvostruko značenje originalnog naslova izabran za ovaj rad – Erinnerung/en teilen –
se pomoću istraživanja umjetničkih i kulturnih obrađivanja sarajevskog atentata i njegovih
protagonista moglo jasno pokazati i dokazati. Istraživanja su otkrila da historijski događaj
služi kao projekcijska površina za nerazjašnjene dileme sadašnjosti Bosne i Hercegovine i da
kolektivno sjećanje na atentat dijeli pojedine kolektive u još dublji jaz.
No, rad je isto tako iznio tendencije sa fokusom na zajednička odnosno podijeljena
sjećanja na atentat i njegove protagoniste. Tako se može jednostranom prikazu prošlosti
suprotstaviti i stvoriti uslov za dijalogično pamćenje. Dijalogično pamćenje i slijedi objek-
tivno sjećanje negativnih događaja i tim pomaže prevazići breme prošlosti.
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www-tyrannenmord
https://de.wikipedia.org/wiki/Tyrannenmord [30.05.18]
10.3. Filmographie
Smrt u Sarajevu. Danis Tanović (Regie und Szenario). Bosnien-Herzegowina (2016). [in der
Arbeit zitiert mit der Sigle SuS]
149
11. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Princip-Denkmal in Istočno Sarajevo ..............................................................56
Abbildung 2: Inschrift auf Sockel des Denkmals für Gavrilo Princip ...................................58
Abbildung 3: Umgebung des Denkmals ..................................................................................59
Abbildung 4: Nahaufnahme der Hände des Gavrilo-Princip-Denkmals ..............................60
Abbildung 5: Aktuelle Gedenktafel, angebracht an der Fassade des Museums ....................63
Abbildung 6: Glasplatte mit Illustration des Sühnedenkmals von 1917. ..............................65
Abbildung 7: Steinerne Bank. Teil der Denkmalskomposition von 1917 ............................66
Abbildung 8: Schautafel mit Fakten zum Attentat von Sarajevo ..........................................71
Abbildung 9: Wachsfiguren des Thronfolgerehepaars ..........................................................74
Abbildung 10: Princips Fußabdrücke ......................................................................................74
Abbildung 11: Blick von At Mejdan Park auf Lateinerbrücke, Schauplatz des Attentats und
Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ .................................................................................................81
Alle hier angegebenen Abbildungen stammen von der Verfasserin.
150
12. Anhang
12.1. Anhang 1 – Siglenverzeichnis der diskursanalytischen
Untersuchung
Kapitel 7.1.1 Denkmal für Gavrilo Princip – Sigle D
D1 https://www.glassrpske.com/drustvo/panorama/Zoran-Kuzmanovic-vajar-Prin-
cipov-slobodarski-cin-cuvaju-i-spomenici/lat/185644.html [04.10.18]
D2 https://www.radiosarajevo.ba/metromahala/kultura/foto-u-lukavici-otkriven-
spomenik-gavrilu-principu/156706 [12.09.18]
D3 https://www.klix.ba/vijesti/bih/otkriven-spomenik-gavrilu-principu-u-lukavici-
nove-opasne-poruke-dodika-i-radmanovica/140627081#10 [03.08.18]
D4 https://www.nezavisne.com/novosti/drustvo/Otkriven-spomenik-Gavrilu-
Principu/250990 [12.09.18]
D5 https://www.jutarnji.hr/vijesti/svijet/foto-dodik-otkrio-spomenik-atentatoru-
koji-je-poceo-svjetski-rat-podignut-kip-gavrila-principa/814804/ [12.09.18]
D6 https://www.youtube.com/watch?v=onRafAwiDmw [13.09.18]
D7 http://www.predsjednistvobih.ba/gov/default.aspx?id=63602&langTag=bs-BA
[12.09.18]
Kapitel 7.1.2 Aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des
Schauplatzes – Sigle SP
SP1 https://www.klix.ba/vijesti/bih/zbog-problema-s-naplatom-osiguranja-spome-
nik-franzu-ferdinandu-mjesecima-stoji-ostecen/150814050 [30.04.19]
SP2 https://avaz.ba/lifestyle/kultura/443966/mirsad-avdic-zelim-vratiti-principove-
stope-na-latinsku-cupriju [30.04.19]
151
Kapitel 7.1.3 Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘ – Sigle MS
MS1 https://www.slobodnaevropa.org/a/sarajevo-je-u-vrijeme-austro-ugarske-bilo-
metropola/25317952.html [15.04.19]
MS2 https://bnn.ba/kultura/neprocjenjivo-bogatstvo-zakoracite-u-muzej-sarajeva-
1878-1918 [15.04.19]
MS3 https://www.klix.ba/magazin/kultura/muzej-sarajeva-1878-1918-svjedoci-o-
atentatu-kojim-je-poceo-prvi-svjetski-rat/160507018 [15.04.19]
152
12.2. Anhang 2 – Gedankenprotokolle des Forschungsauf-
enthaltes (26.03. – 08.04.2018)
Kapitel 7.1.1. Denkmal für Gavrilo Princip
Lage des Denkmals
- Wohngebiet
- an 3 Seiten von Wohnblöcken umgeben
- Rurale Umgebung
BesucherInnen
- Park gut besucht
- Keine TouristInnen, hauptsächlich AnrainerInnen
Denkmal
- Wirkt fast schon unspektakulär
- Steht in neutraler Pose. Keine erhobene Faust, kein finsterer Blick.
- Keine Anzeichen von Vandalismus erkennbar → kollektive Erinnerung, die mit Denk-
malsetzung „in Stein gehauen“ wird. Von der Bevölkerung also befürwortet bzw. zu-
mindest akzeptiert.
Sonstiges
- Umständliche Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
- „Gradski park“ ist kein wirklicher „Stadtpark“. Klassische, etwas größer ausgefallene „In-
nenhofgestaltung“ von Wohnanlagen.
- Keine Touristenattraktion wie Schauplatz des Attentats.
- Dem Denkmal wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt, wohl aber der offensichtlichen
Touristin mit Kamera (Verfasserin). Erzeugt Gefühl eines Eindringlings.
153
Kapitel 7.1.2 Aktuelle erinnerungssymbolische Markierung des
Schauplatzes
Lage des Schauplatzes
- Sarajevoer Innenstadt
- Schauplatz an stark befahrener Straße
- Lärmende, vorbeifahrende Autos stören
- Um gesamten Schauplatz (Lateinerbrücke, Glasdenkmal, Bank von ehemaligem Sühne-
denkmal und Museum mit Gedenkplatte) abzuschreiten Überquerung einer Ampel nö-
tig.
BesucherInnen
- Viele Touristengruppen. Erschweren ungestörte „Spurensuche“
Erinnerungssymbolische Markierung des Schauplatzes
- Schauplatz wirkt unspektakulär
- Glasplatte mit Skizze des ehemaligen Sühnedenkmals für Thronfolgerehepaar. Trägt
zweisprachigen Text (Bosnisch und Englisch).
- Fotos im Schaufenster des Museums ‚Sarajevo 1878–1918‘:
o Besuch des Thronfolgers
o Einweihung des Sühnedenkmals
o Gerichtsverhandlung der Attentäter
- Zweisprachige Gedenktafel an Fassade des Museums (Bosnisch und Englisch).
- Stelle an der einst Princips Fußabdrücke in Trottoire eingelassen heute nicht mehr er-
kennbar.
Zusatz vom 16.03.2019
- Keine Veränderung des Schauplatzes.
154
Kapitel 7.1.3 Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘
Lage des Museums
- Museum in Gebäude in dem sich Princip direkt vor Attentat aufhielt.
BesucherInnen
- Hauptsächlich TouristInnen
Ausstellung
- Ein einziger Raum
- Exponate in an Wänden angebrachten Vitrinen
- Komposition und Auswahl der Exponate wirkt willkürlich
- Keine Erklärungen, lediglich Beschriftung der Exponate.
- QR-Codes für weiterführende Informationen zu Exponaten an Vitrinen. Funktionieren
jedoch nicht.
- Display für weiterführende Informationen in der Mitte des Raumes. Umständliche Be-
dienung.
- Kitschige Wachsfiguren Franz Ferdinands und Sophies. Mit roter Absperrkordel abge-
grenzt.
- Replik der Betonplatte mit Princips Fußabdrücken nicht in Ausstellung integriert. Zwi-
schen Eingang und Ticketschalter platziert. Fußabdrücken wurde kaum Aufmerksam-
keit geschenkt. Im Gegensatz zu Wachsfiguren nicht abgesperrt: um in Princips Fußst-
apfel „treten“ zu können?
- Ausstellung behandelt nur positiven Aspekte der Fremdherrschaft. Einzige Ausnahme:
Widerstandskampf gegen Okkupation.
Fazit: Attentat bedeutete Ende dieser „Modernisierungsmission“. Muss somit negativ
konnotiert sein. Macht Ausstellung nicht neutral und objektiv.
Zusatz vom 16.03.2019
- QR-Codes funktionieren auch dieses Mal nicht
- BesucherInnen lassen sich mit Wachsfiguren ablichten
- Niemand schenkte Fußabdrücken Aufmerksamkeit
- Auf Nachfrage zu BesucherInnen beim Ticketverkäufer (einziges anwesendes Personal):
Hauptsächlich kroatische Reisegruppen und Schulklassen aus Kroatien und Bosnien.
155
Kapitel 7.1.4 Thematische Stadtführung zum Attentat von Sarajevo
Eckdaten
- Anbieter: Insider City Tours & Excursions – „Assassination Tour“
- Preis: 19€ (inkl. Museumseintritt)
- Dauer: 3 Stunden (geplant, tatsächliche Dauer: 2 Stunden)
- Sprache: Auswahl zwischen Bosnisch oder Englisch
- Tourguide: junger Student
- Gruppengröße: 2 TeilnehmerInnen (+ Praktikantin)
Tour
- 1. Programmpunkt: Sarajevo Meeting of Cultures-Zeichen: Übergang Osmanisches Reich
zu Habsburgerreich. Zur besseren zeitlichen Einordnung.
- Beginn mit kurzer „Einleitung“ zu Sarajevo unter Habsburgermonarchie. Hervorheben
der Errungenschaften unter der Fremdherrschaft. Offenbarte fehlende kritische Refle-
xion der Fremdherrschaft.
o Durch Habsburgermonarchie Sarajevo erste Stadt mit Strom und Straßenbahn. →
Sarajevo als Experimentierfeld.
o Osmanische Altstadt wurde unter österreichisch-ungarischer Herrschaft nicht ab-
gerissen. → geläufige koloniale Methode?
- 2. Programmpunkt: über Ferhadija-Straße zu Markale (vom deutschen ‚Markthalle‘ lt.
Tourguide).
- 3. Programmpunkt: Ćumurija Brücke. Von dort erste Bombe durch Čabrinović. Zwei
Theorien:
o Bombe von Franz Ferdinand mit Hand abgewehrt (lt. Tourguide eher unwahr-
scheinlich)
o Bombe von Franz Ferdinands Auto abgeprallt und vor nachfolgendes Auto explo-
diert (lt. Tourguide wahrscheinlicher)
- 4. Programmpunkt: At Mejdan Park mit Blick auf Ćumurija Brücke und Lateinerbrücke.
- 5. Programmpunkt: Vijećnica. Dort Bekanntgabe Franz Ferdinands zu Planänderung um
die Verletzten im Krankenhaus zu besuchen. Route wird dementsprechend geändert.
Zwei Theorien, warum (tschechischer) Fahrer sich nicht an geänderte Route hielt:
o Verstand die Anweisungen aufgrund schlechter Deutschkenntnisse nicht (lt. Tour-
guide wahrscheinlicher)
156
o War selbst Mitglied bei Mlada Bosna oder Crna ruka (lt. Tourguide unwahrschein-
lich)
- 6. Programmpunkt: Lateinerbrücke und Schauplatz des Attentats.
- 7. Programmpunkt: Museum ‚Sarajevo 1878–1918‘.
Sonstiges
- Mit Anekdoten und Zitaten Franz Ferdinands auf Deutsch ausgeschmückt
- Genauer Plan von Franz Ferdinands Besuch inkl. Route und detailliertem Zeitplan in
Zeitung veröffentlicht. Machte es ein Leichtes das Attentat zu planen.
- Mlada Bosna keine terroristische Organisation. Erhielten von Crna ruka Waffen und
Schießunterricht
- Keine Erwähnung des Denkmals für Gavrilo Princip in Istočno Sarajevo
- Keine Erwähnung der Gründe, die zum Attentat führten
- Tour bereits nach zwei Stunden beendet. Grund dafür möglicherweise kleine Gruppe
von nur zwei TeilnehmerInnen. Lt. Tourguide fehlt dem Großteil der TeilnehmerInnen
(hauptsächlich chinesische TouristInnen) jegliches Hintergrundwissen. Das wirkt sich
auf die Konzeption des Stadtrundganges aus. Daher eher oberflächlich.