kfz - kaltstart-festivalzeitung / # 01 / 1. jahrgang
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Die Zeitung des Kaltstart-Festival 2010 in Hamburg.TRANSCRIPT
Festivalzeitung1.Jahrgang
Kaltstart KFZ
# 1
2010
Denk nicht an die Rente,
Du Nomadensau!Das schwierige Leben
der freien Szene
WarmlaufenAuf Trinktour durch die
Kaltstart-Spielorte
Was das Ganze sollProgramm, Vorschauen und
Interviews zum Festival
02 / 03
EditorialAus, aus, das Spiel ist aus! Ein paar Mal kommt das schöne Wort „Fußball“ noch vor in dieser ersten Ausgabe
der KALTSTART HAMBURG 2010 Festivalzeitung (KFZ). Dann ist aber auch mal Zeit für was anderes.
Nämlich für: Theater. Für Dramen und Performances, Textflächen und Rockopern. KALTSTART HAMBURG
2010 -- ein Festival aus vier Festivals plus Specials. Eines ist die KFZ. Das übergreifende Organ, das helfen
soll, alles zu Einem zu machen.
Zwei Wochen Festival, 120 Veranstaltungen. Das kann kein Mensch alles sehen, auch die KFZ-Redaktion nicht.
Gut aber, dass wir den Kanal nicht voll kriegen können. Ein Haufen Kulturjournalismus-StudentInnen und
--AbsolventInnen von der Uni Hildesheim, ein Blogger, eine Designerin, ein amtierender und ein zukünftiger
Volontär vom Tagesspiegel in Berlin -- wir alle stürzen uns kopfüber ins Festival, schwimmen drin rum -- und
schreiben drüber. Jeden zweiten Tag in der KFZ.
Und heute in der allerersten Ausgabe! Auf dem Menü: Fingerpuppen für den Kulturkampf am Küchentisch.
Weissagen über das Festival im Allgemeinen (Seite 3) und ausgewählte Stücke im Besonderen (Seiten 4 bis 7).
Feucht-fröhliche bzw. hohläugige Ortsbegehungen (Seiten 10/11). Dazu Tipps und Tricks und Unterhaltung.
A propos Unterhaltung: Schreibt uns doch, wie EUCH die Stücke gefallen haben! Oder wenn Ihr anderer
Meinung seid als unsere Rezensenten und Reporter. Oder wenn ihr gleicher Meinung seid. Werft Eure Liebes-
briefe, Lebensbeichten, Gedichte und Ideen einfach in den KFZ-Briefkasten im Haus III&70. Oder geht ins
Internet und spammt uns mit Kommentaren zu! Texte, Farbfotos und exklu-siven Online-Wahnsinn gibt es
unter www.kaltstart-hamburg.de/blog
DISKURS ZUR HAND #1
Jede Ausgabe gibt es einen Diskurs
aus dem Heft zum Nachspielen für
Zuhause. Einfach ausschneiden,
schwarze Streifen hinten zusammen-
kleben, über den Finger ziehen -
und losstreiten. Heute: Theater-
macher gegen neoliberale Entschei-
dungsträger und ihren Kürzungszwang.
Siehe auch Seite 12
Theatergucker! Theatermacher!Fans und Friends! -innen!
Schönes Festival Euch - und viel Spaß beim Lesen!
Die Red.
Kaltstart
Wir werden alle untergehen!
Und so was soll eine Nixe sein! Anstatt auf einem Stein und
einen Erlöser zu warten, wie es unter Seejungfrauen seit
Sagen-Jahrhunderten Sitte ist, operiert die Kaltstart-Nixe
selbstbewusst in ihrem feuchten Milieu. Allein dieser Blick
über die Schulter! „Komm mit“, sagt er, „in ein Reich des
Unbedingten, des Unverstellten, des Unvorstellbaren und
der Unzucht! Folge mir in ein Leben, wilder als deins!“ Dazu
peitscht ihr Schwanz mit der Fluke durchs Meer. Praller
Busen, wilde Mähne, Benzinkanister - wir müssen kein ora-
kelnder Oktopus sein, um die Gefahr zu spüren, die von dieser
Nixe ausgeht. Solide Prognostiker, die wir sind, wissen wir
sofort: Das Weib will uns fertig machen. Und zwar so richtig.
Über 120 Veranstaltungen an 14 Abenden stellen eine be-
wusste Überforderung des Wahrnehmungsapparates dar.
Man ertrinkt in Theater! Die Zermürbung der Aufnahmefähig-
keit ist Programm des ausufernden Programms von Kalt-
start, das Fehlen eines Festivalzentrums und die Untertei-
lung in vier Sub-Festivals plus zwei zusätzliche Plattformen
verstärkt diesen Eindruck noch: Keiner von uns wird Kaltstart
vollständig erfassen, ordnen und durchschauen können.
Wir sind hier, beim Kaltstart-Festival 2010, in einer wilden,
abgründigen Welt. Das gilt es, von Vornherein zu akzeptieren.
Erst dann können wir versuchen, nach Orientierungspunkten
zu suchen.
Schiffe sind gut gegen ErtrinkenZuerst finden wir: Schiffe. Was auf dem Meer erstmal so
schlecht nicht ist, besagt doch eine alte Seefahrerweisheit,
dass Schiffe gut gegen Ertrinken sind. Fünf von ihnen sollen
uns im Programmheft Orientierung geben. Für die Sparte
Kaltstart Pro, die Plattform für junges professionelles Thea-
ter, fährt ein robustes Dampfschiff vorweg. Kaltstart Finale,
das Inszenierungen der Deutschen Theaterakademie präsen-
tiert, ist sinnigerweise ein Segelschulschiff, Fringe, die Ru-
brik für die freie Szene, ein Freibeuterschiff. In dieser Logik
geht es weiter: Die Jugend-Sparte Youngstar ist ein kleiner
Optimist, und die Lounge der Theaterautoren ein Tretboot.
(Kennt man ja, diese Theaterautoren: Den ganzen Tag Bötchen
fahren, Enten füttern, abends drei Seiten schreiben.)
An Deck der einzelnen Schiffe wird es überraschend gesittet
zugehen: Das Programm des Eisbrechers Kaltstart Pro etwa
liest sich fast wie ein Jugendbuchregal aus den 1980ern:
ernst, deutsch und mit einem Hang zu Hitler. Es gibt wenig
(Form-)Experimentelles, dafür viel problemorientiertes Au-
torentheater: Stücke mit Handlung, die mal in der Weimarer
Republik („(K)ei(n)land)“), mal nach einem Atomschlag im
Bunker („After the end“) und mal im Neuköllner Ghetto
(„Arabboy“) spielen. Es gibt Stücke über Demenz (Nis-
Momme Stockmanns „Der Mann, der die Welt aß“) ebenso
wie über Kindheiten in der DDR (Sibylle Bergs „Hab ich dir
eigentlich schon erzählt...“) sowie über Nazis und Missbrauch
(Jakob Arjoums „Hausaufgaben“). Anders traditionell wird es
auf dem Großsegler Finale zugehen: Hier treffen wir auf die
in jungen Avantgarden altbekannten Phänomene des unaus-
sprechlichen Stücktitels („wunde.es.heim innen/nacht“) so-
wie des unverständlichen Vorschautextes: „Ob es wohl witzig
ist, wenn Einer beim Singen stirbt? Ob unsere Beziehungen
denn besser funktionieren würden, wenn wir alle, statt zu
sprechen, singen werden? Zwei Regisseure und viele Musiker
im Auftrag musikgeschichtlicher Bergungsarbeiten unter-
wegs in Richtung Theater. Ohne Mozart.“ Wer hier sagt „Nee,
hat ja auch niemand behauptet, dass das mit Mozart wäre.
Warum auch?“ sollte lieber erzittern ob der Formenvielfalt
des Finales: Von Tanz- über Musiktheater bis hin zu Filmen,
von Klassikerinszenierungen bis hin zu Performances und
Lesungen ist alles dabei.
Die Arbeit beginnt nach dem FestivalWir könnten noch ewig so weiter orakeln. Wie es etwa wird,
wenn sich im Rahmen der Fringe-Performance „Rebecca“
eine Künstlerin 48 Stunden in einen Keller einsperrt, um das
Leid einer 1590 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilten
Hexe zu „versinnlichen“, interessiert uns brennend. Auch und
vor allem, weil der kühle Keller des „Lokals“ bei den prognos-
tizierten Temperaturen der einzige Spielort sein wird, wo man
sich sein Leiden noch erarbeiten muss. Aber lassen wir das.
Suchen wir lieber nach (Diskurs-)Bojen im Kaltstart-Meer:
Einiges, das den Affen im Titel führt. Karl May taucht gleich
zweimal als Protagonist auf, auch Büchners „Woyzeck“ wird
zweimal inszeniert. Es gibt Bearbeitungen antiker Stoffe und
Inszenierungen, die ihr eigenes Gemachtsein reflektieren.
Intermedialität und Hybridformen sind ein großes Thema –
Am Ende werden wir jedoch merken, dass das alles nichts
bringt. Denn Kaltstart wird einfach zu vieles sein: zu viel
Performance, zu viel Autorentheater, zu viel Professionelles,
zu viel Amateurhaftes, zu viel Begeisterndes, zu viel Enttäu-
schendes. Vielleicht wird Kaltstart das erste Festival sein,
bei dem die Hauptarbeit des Publikums vor und nach dem
Vorstellungsbesuch beginnt: Wenn es versuchen muss, die
Vielfalt der Eindrücke in seine Horizonte einzuordnen — jenen
des Festivals, des Theaters, schließlich der Gegenwart. Vor
dieser Flut werden alle kapitulieren müssen. Der Plan der
Nixe — uns hinab zu reißen in den Theaterstrudel — ist dann
aufgegangen.
Ein Prognosenessay zum Festivalstart von Jo Schneider
Seite
Drei
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Wenn Romane auf die Bühne gebracht
werden, bleibt der Autor meistens un-
begeistert: Wühlkistenmentalität und
Leichenfledderei werden jenen vorgewor-
fen, die Prosa in Dramatik übertragen.
René Rothe und Paul Voigt vom Ensemble
La Vie – Das Leben sind diesbezüglich
kein Risiko eingegangen: Sie übersetzten
Ian McEwans Roman „Der Zementgarten“
selbst und holten vor Probenbeginn die
Autorisierung des Schriftstellers ein. Die
Gruppe, die letztes Jahr von Regisseur
und Bühnenbildner Rothe in Dresden ge-
gründet wurde und seitdem vier Produk-
tionen realisiert hat, beschäftigt sich vor
allem mit menschlichem Miteinander und
Nichtmiteinander. In diese Richtung geht
auch „Der Zementgarten“: Erzählt wird
von vier Geschwistern, die den Tod der
Mutter geheim halten, um nicht auseinan-
der gerissen zu werden.
Obwohl sie dem ursprünglichen Text
nichts hinzufügen, nehmen die Drama-
turgen zugunsten der Bühnentauglichkeit
einige Änderungen vor. So lösen sie die
Ich-Perspektive auf, um die Sicht einzel-
ner Figuren herauszuarbeiten: Während
Erzähler Jack im Roman seine ältere
Schwester Julie vor allem als Projekti-
onsfläche für seine erotischen Fantasien
ausnutzt, wird sie im Stück zu einem
eigenmächtigen Charakter. Die Bühne ist
bis auf einen Zementklotz leer – Atmo-
sphäre entsteht durch akustische Signale,
teils eingespielt, teils von den Darstellern
erzeugt. So wird der interpretationsoffene
Raum erhalten, den McEwan in seinem
Buch geschaffen hat: keine moralisch
ausbuchstabierte Inzestgeschichte, son-
dern eine Familiengeschichte mit Haut
und Haar.
Termine
Auf zur Eigenmächtigkeit!
18:00 >Theater Schiller Feiern /
Staatstheater Schwerin /Haus
III&70 Anbau / Kaltstart Pro
18:00 >Live-Performance Vor der
Probe – King Kong essen Angst auf
/ Haus III&70 Club // Kaltstart Pro
// Premiere //
19:00 >Theater wund.es.heim
innen/nacht / Theaterakademie
Zeisehallen // Finale //
20:00 >Theater Bermudadreieck /
Schauspielhaus Bochum // Haus
III&70 Saal // Kaltstart Pro //
20:00 >Musical VON-WEGEN / Haute
Culture e.V. // Schule Altonaer
Straße // Fringe //
20:00 >Theater Der Zementgarten /
Ensemble La Vie – Das Leben e.V.
// monsun theater // Fringe //
20:30 >Theater Kurze Interviews
mit fiesen Männern / Anna Schildt
// 13ter Stock (Bar Rossi) // Fringe
21:30 >Theater Motortown oder
heimkehr // Theaterakademie
Zeisehallen // Finale //
22:00 >Theater Kunst / Staatsthea-
ter Mainz // Schulterblatt 75 / bei
»Bayer« klingeln // Kaltstart Pro //
22:00 >Theater WER... [binichich]
/ Reckless Factory / Schlachthaus
Theater Bern (CH) // Terrace Hill //
Kaltstart Pro // Deutschlandpre-
miere //
23:00 >Theater Port // Theateraka-
demie Zeisehallen // Finale //
ab 23:00 >Party große Eröffnungs-
party // Haus III&70
// monsun theater – Werkstattraum
// Fringe
20:00 >Performance Shadow / Re-
alitäten Revue // monsun theater
– Werkstattraum // Fringe //
20:30 >Theater Kurze Interviews
mit fiesen Männern / Anna Schildt
// 13ter Stock (Bar Rossi) // Fringe
21:00 >Tanzoper Pygmalion / Thea-
terakademie Zeisehallen // Finale
21:30 >Theater Sisters / Heimatha-
fen Neukölln (Berlin) // Terrace Hill
// Kaltstart Pro
21:30 >Live-Performance Ein Diaa-
bend mit Freunden / Theater Bonn
// Haus III&70 Club // Kaltstart Pro
MONTAG 12. Juli 2010
18:00 >Theater India Simulator™
/ Flinntheater / Dock 4 Kassel //
Haus III&70 Anbau // Kaltstart Pro
18:00 >Performance Shadow / Re-
alitäten Revue // monsun theater
– Werkstattraum // Fringe //
19:00 >Theater Arabboy / Heimat-
hafen Neukölln (Berlin) // Terrace
Hill // Kaltstart Pro //
19:00 >Theater // WOYZECK // Thea-
terakademie Zeisehallen // Finale
20:00 >Theater Hell above and
Heaven below / Theater Freiburg
// Haus III&70 Saal // Kaltstart Pro
20:00 >Musical VON-WEGEN / Haute
Culture e.V. // Schule Altonaer
Straße // Fringe //
20:00 >Theater Der Zementgarten /
Ensemble La Vie – Das Leben e.V.
DIENSTAG 13. Juli 2010
MITTWOCH 12. Juli 2010
19:00 >Musiktheater Don Giovanni
o sia … // Theaterakademie Zeise-
hallen // Finale //
20:00 >Theater Der Du / Düsseldor-
fer Schauspielhaus // Haus III&70
Saal // Kaltstart Pro //
20:00 >Performance E.C.F.C.
– eravamo così folli che / AKR //
monsun theater // Fringe //
20:30 >Theater The Amok Society
// Theaterakademie Zeisehallen //
Finale //
20:30 >Theater Die ultimative Show
– Wilde Ponys ausser Rand und
Band / Ponydressing // Waagenbau
// Fringe //
21:30 >Theater After the End /
Schauspielhaus Bochum // Haus
III&70 Club // Kaltstart Pro //
21:30 >Theater Ilias / Heimathafen
Neukölln (Berlin) // Terrace Hill //
Kaltstart Pro //
21:30 >Theater India Simulator™
/ Flinntheater / Dock 4 Kassel //
Haus III&70 Anbau // Kaltstart Pro
21:30 >Kabarett Erstmal schön
hinsetzen / Susanne Plassmann //
Hamburger Botschaft // Fringe //
21:30 >Theater Reiher // Theatera-
kademie Zeisehallen // Finale //
23:00 >Szenische Lesung Im Zug
// Theaterakademie Zeisehallen //
Finale //
Montag, 12. Juli, und Dienstag, 13. Juli, jeweils 20:00 Uhr | Monsun Theater
von Clara Ehrenwerth
KFZVorschau
Kaltstart
Der Titel ist ja auch ironisch gemeint: Was sind schon
fiese Männer? Männer, die jede Nacht mit einer anderen
Frau vögeln? Wir spielen in einer Lounge, da kann man
sich ganz entspannt hinsetzen. Wir verändern da nichts.
Es gibt zwei Schauspieler, draußen und zwischen den
Zuschauern. Es geht um Beziehungssituationen. Aber es
gibt auch lustige Passagen. Ich wollte die Texte einfach
lassen, wie sie sind. Aber es ist etwas anderes, ob man
einen Theatertext nimmt oder einen Wallace-Text. Der
hat so ganz sperrige Gedanken. Das sind keine Beichten.
Das sind intime Texte. Wie Akten aus einer psychiat-
rischen Anstalt, vielleicht. Da sieht man, dass Wallace
immer alles extrem kleinlich und genau versucht hat
zu beschreiben. Ich finde das sehr zeitgemäß, dieses
Gerede, die Männer bei Wallace erklären sich immer
auf sieben verschiedene Arten, das haben wir gelassen.
Ich möchte die Texte nicht kommentieren, die sprechen
sehr für sich. Wir wollen, dass der Zuschauer sagt: Ja,
das kenne ich.
„Was sind schon fiese Männer?“
Hannes Fechenbach bringt die Dinge gerne auf den
Punkt. Er ist der Gründer der Theatergruppe Mühle 183,
die sich aus Profis und Laien zusammensetzt. Gerade
proben sie das Stück „Wer?“ und Hannes glaubt, „das
kann spannend werden“. Die anderen Beteiligten sind
zaghafter: Mitzis Stimme überschlägt sich leicht, als sie
ihren Namen nennt. „Wer?“ sei ihre erste Theaterer-
fahrung. Lydia hat noch Schwierigkeiten damit, „sich
gehen zu lassen“, wie sie im Videotagebuch beschreibt,
das die Gruppe begleitend zu ihrer Produktion dreht.
Schizo ist schon aufgeregt; wenn der blasse junge Mann
mit schüchternem Lächeln sagt, dass es für ihn etwas
Besonderes sei, bei Mühle 183 mitzuspielen, glaubt
man ihm. Sollte man aber besser nicht. Das Videoblog,
das auf den gängigen Videoplattformen zu finden ist,
ist ziemlich erfunden: Das Stück, das heute Abend bei
Kaltstart seine deutsche Erstaufführung feiert, heißt
zwar „Wer?“ bzw. „WER…[binichich]“ (nach Oscar van
Woensel), die rührenden Mühle-Laiendarsteller sind
aber nur Recherche, gespielt von den Profis des freien
Produktionskollektivs Reckless Factory aus Bern. Ge-
mäß dem Oberthema Identität spielen sie in der fiktiven
Oder ist das gerade echt?
Kaltstart FINALE zeigt, was im letzten Jahr an der The-
aterakademie Hamburg so los war. Eine der 18 Produk-
tionen ist WOYZECK von Ivna Zic. Im siebten Semester
an der Akademie, vorher Studium der angewandten The-
aterwissenschaft in Gießen, ist dies ihr letztes Studien-
projekt vor der Diplominszenierung. Themenstellung:
Einar Schleef als Gesamtkünstler. Aber wie kommt man
von Schleef zu Woyzeck?
Wie Einar Schleef in seinen Tagebüchern und Briefen
schreibt, hat die Regisseurin an Büchner erinnert. Die
Direktheit, die trotzdem oder gerade deshalb poetische
Kraft hat. Es klinge wie rausgerotzt, sei aber hoch
verdichtet und sehr klar. Dies und Schleefs Selbstinsze-
nierung und seine Konflikte. Sein „Ich bin nicht zuhause
in der Welt; wenn ich allein bin, will ich mit Leuten sein,
wenn ich mit Leuten bin, will ich allein sein“ – das hat
Zic auf Woyzeck gebracht.
In der Inszenierung versucht einer aus einer ritualisier-
ten Welt auszubrechen, schafft es aber nicht: Ein hoher
Steg führt durch den Raum, kein Hinten, kein Vorn,
niemand tritt ab, niemand tritt auf, es gibt kein Entkom-
men aus dieser Welt. Diese Welt ist der Chor und ihm
gegenüber steht Woyzeck. Auch das setzt sich als Prin-
zip bei Schleef durch, sagt Ivna Zic: „Ein Chor gegen ein
Individuum. Es geht um den Wunsch, Teil des Kollektivs
zu werden, sich gleichzeitig aber abzugrenzen. Und der
Chor funktioniert nur, indem er einen ausstößt, zu dem
er dann sagen kann: Du bist allein, ich bin Chor, ha!“ Die
Premiere war im Mai auf Kampnagel, hier gibt es die
„Unplugged“-Version – ohne Theaterlicht, da man die
Zeisehalle nicht abdunkeln kann. Ein hell erleuchteter
Abend über einen fundamentalen Konflikt.
Anna Schildt über ihr Stück
Montag, 12. Juli, und Dienstag, 13. Juli, jeweils 20:30 Uhr | 13ter Stock (Bar Rossi)
Doku mit Authentizität: Reale Vorproben dienten dem
Vlog als Grundlage, im Laufe der neun Folgen lösen sich
die Konturen der Darsteller allmählich auf. Ist das jetzt
die Schauspielerin, die die Laiendarstellerin spielt, die
eine Theaterszene spielt, oder wie? Wie inszenierungs-
fähig oder gar -bedürftig das Ich ist – das erforschen
Reckless Factory heute auf der Bühne.
Aber diesmal ohne Laien.
Schleef meets Büchner
von Laura Naumann
Dienstag 13.07. | 19 Uhr | Zeisehalle
von Clara Ehrenwerth
Montag, 12. Juli, 22:00 Uhr | Terrace Hill
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„Jeder Satz macht Welt“
Alexander Riemenschneider (AR) und Tobias Vethake (TV) gehören zu einer Gruppe, die am Dienstag (13.07.) um 21.30 im Haus III&70 in einem improvisierten Diaabend Nostalgie und die Konstruktion von Vergangenheit untersu-chen. Die lose Gruppe kennt sich aus anderen Arbeitszusammenhängen, kommt hier nun aber für den „Diaabend mit Freunden“ zu einer Improvisationspremiere zusammen. Die KFZ traf den Regisseur und den Theatermusiker in Berlin.
KFZ „Diaabend mit Freunden“, das klingt gleichzeitig einfach
und geheimnisvoll. Was steckt dahinter?
AR Wir waren während des Studiums in Hamburg auf der
Suche nach Requisiten und sind dabei in ein Haushaltsauf-
lösungsgeschäft geraten. Da gab es ein Regal mit Dia-Bo-
xen, Urlaubsdias aus den 50er und 60er Jahren. Die haben
natürlich sofort jede Menge Assoziationen ausgelöst. Sie zu
betrachten, fühlte sich einerseits voyeuristisch an, ande-
rerseits machte es aber auch extrem neugierig. Die Dias
haben wir dann zwar dagelassen, aber das Gefühl haben wir
mitgenommen.
KFZ Ziel eurer Improvisation wird es sein, mit willkürlich
ausgewählten Urlaubsdias völlig Fremder Geschichten zu
erzählen. Habt ihr die Dias vorher wirklich nie gesehen?
AR Die paar Dias, die ich gesehen habe, erzählen von einer
Zeit, in der Leute ihren ersten Urlaub machen, mit ihrem
ersten Auto, zum ersten Mal nach Italien. Alles ist unter
dem Geist von „Es wird immer mehr“. Überall ist Aufbruch
und Wirtschaftswunder. Wir kommen aber aus einer Zeit,
wo, wenn es denn überhaupt etwas gibt, was uns verbindet,
es das Gefühl ist: „Es wird immer weniger“. Was ja nicht
schlimm ist, aber es ist etwas anderes. Das könnte ein span-
nender Gegensatz sein.
KFZ Wie funktioniert eure Improvisation genau? Und wie
arbeitet eure Gruppe zusammen?
AR Wir sind zwei Musiker und vier Spieler und den Rest
müssen wir noch herausfinden. Wir werden die Dias, wie
gesagt, vorher nicht gesehen haben, und auch die Reihenfol-
ge einem Zufallsprinzip überlassen. Einer unserer gemein-
samen Nenner ist, dass es immer um die Behauptung von
Authentizität geht: Ich zeige euch, wie etwas gemacht ist,
dass es eine totale Behauptung ist, und daraus entsteht wie-
derum eine ganz merkwürdige Form von Authentizität.
So kam der Gedanke zustande, dass man diese Dias nehmen
muss, um einen eigenen Urlaub zu erzählen.
KFZ Wie wird die musikalische Gestaltung aussehen?
TV Ich überlege mir gerade, welche Instrumente ich mit-
nehme. Weil es ein „Diaabend“ ist, werde ich zum Beispiel
meine kleine Heimorgel mitnehmen, ansonsten das übliche:
Gitarre, Melodika, Glockenspiel … Ich beschäftige mich
schon seit einer Weile mit Live-Loopen. Das werde ich beim
Diaabend sicher auch anwenden, auch wenn ich vermutlich
oft schnell abbrechen und etwas Neues entstehen lassen
muss.
KFZ Gibt es inhaltliche Vorgaben?
TV Inhaltlich ist alles offen. Wir haben das in der Vorbespre-
chung ganz drastisch formuliert: Das könnte der fröhliche
Familienurlaub werden, aber auch der Urlaub, wo das Kind
missbraucht wird. Da ist die Musik wichtig, um das Kippen
einer Situation darzustellen. Sie soll nicht nur schmü-
ckendes Beiwerk sein, nach dem Motto: Wir machen die
schönsten Urlaubsmelodien und das wars dann.
KFZ Es gibt aber keine reale gemeinsame Erinnerung?
AR Es wird einen total erfundenen Urlaub geben. Was mir
hier und auch bei normalen Proben wichtig ist, ist das stän-
dige Ja-Sagen zum Input des Anderen. Wenn einer sagt: Ah,
da sind Uwe und Gerda auf dem Dia, dann ist das erstmal so
gesetzt. Eigentlich tun diese Sätze so, als würden sie eine
Welt nacherzählen, aber eigentlich erschaffen sie sie erst.
Jeder Satz macht Welt. Es gibt auch eine philosophische
Komponente dahinter: Wie spricht man über Vergangenheit?
Man kennt das selbst, einen Tag nach dem Urlaub
beginnt man sich gegenseitig zu korrigieren, auszubessern,
zu konkretisieren.
KFZ Könnt ihr noch was zu den „Freunden“ im Titel der Im-
provisation sagen?
AR (lacht) Banaler geht’s eigentlich gar nicht: Dieser Dia-
abend ist ein Abfallprodukt oder eher noch, ein Anfallpro-
dukt, etwas, das angefallen ist. Dass wir nicht wissen, was
an diesem Abend passieren wird, kann nur so sein, weil wir
Freunde sind.
TV Eine Gefahr dabei ist, dass wir ins Insidern kommen.
Nach dem Motto: Wir sind ein paar Buddies, die nehmen sich
ein Bier und machen sich lustig über so Bilder. Das kann
schnell passieren, gerade, wenn man sich gut versteht und
halt auch gerne miteinander lacht. Aber das ist irgendwie
auch das Schöne: Improvisation ist riskant. Es kann in die
Hose gehen. Das kann man sich sonst nicht so oft erlauben.
Da ist Kaltstart natürlich ein guter Rahmen.
dasInterview
Kaltstart
Was kommt vor der Premiere? Wie sehen die harten
Wochen aus, bevor wir endlich das Theater betreten
können? Das zeigen Jonas Fischer, Christina Geiße und
Monique Schwitter. Sie nehmen uns mit an den Anfang
eines jeden Theaterabends. „Vor der Probe - King Kong
essen Angst auf“ ist eine öffentliche Konzeptionsprobe.
Der Regisseur und die beiden Schauspielerinnen wollen
King Kong auf die Bühne bringen, einen Film, der alles
hat: Liebe, Abenteuer, Drama, unzählige Deutungsebe-
nen und einen Riesenaffen. Aber wie?
Auch die drei Theatermacher wissen es nicht. Die Idee
zu King Kong hatten sie vor zwei Jahren. Nur kamen sie
nicht darauf, wie man das Thema umsetzen könnte –
und thematisieren nun genau das: Alles wird an diesem
Abend echt sein, nichts geprobt. Die Performer sind,
wer sie sind, für 60 Minuten kann man ihnen beim Brain-
stormen zuschauen. Wie kann man den King-Kong-Stoff
theatral umsetzen? Was ist das Prinzip Angst? Und
woher kriegt man einen Affen? Sporteventatmosphäre
ist nicht ausgeschlossen: Werden die drei den entschei-
denden Einfall haben? Ein Konzept schreiben und sich
bei den Wiener Festwochen bewerben? Welche der
beiden Frauen wird sich durchsetzen und die Rolle des
Affen übernehmen? Gespannt? Kommen.
Woher kriegen wir einen Affen?
von Laura Naumann
Montag 12.07. | 18 Uhr | Haus III&70 / Club
„Ich komme heim und es ist ein völlig anderes Land“,
sagt der 25-jährige Kriegsveteran Danny. Weniger
Verwunderung als Lakonie liegt in den Worten. Was
folgt, ist die Beschreibung einer Vergewaltigung mit
einem Besenstiel. Der Krieg hat seine eigenen Riten.
In der Textfassung von „Motortown“ liegt unter Dannys
Worten eine dumpfe und gelassene Grausamkeit. Eine
Atmosphäre, wie sie die Coen-Brüder erschaffen, wenn
ihre Killer sich nach dem Morden akribisch die Hände
waschen. Die Welten des Dramatikers Simon Stephens
sind realistisch und hermetisch, mit einer Sprache, die
um sich selbst kreist, voller Sätze, spitz wie Eiszapfen.
Zwei Mal wird sie am ersten Abend des Festivals auf die
Bühne gebracht: die Regiestudenten Grete Michel und
Felix Meyer-Christian inszenieren „Port“ und „Motor-
town“. Beide studieren im dritten Jahr an der Hambur-
ger Theaterakademie. Die Produktionen sind Studien-
projekte, Realismus war die grobe Vorgabe.
„Es war schnell klar, dass der Text in seiner Eigenstän-
digkeit eine so starke Setzung mitbringt, dass ich mich
darauf einlassen musste“, sagt Grete Michel. „Port“ ist
die Coming-of-age-Geschichte von Rachel, einer jungen
Frau, die versucht, aus der Tristesse von Wohnblock,
Supermarktjob und patriarchal geprägtem Paarungs-
schema auszubrechen. Für eine kurze Zeit gelingt das
– doch „Port“, der Hafen, ist zu tief in ihr verankert, um
sich ganz von ihm zu entfernen.
„Die sind, was sie tun“, sagt Grete Michel über die Fi-
guren. In ihrer Inszenierung kontrastiert die Musik die
harten Worte. Sie bildet den Soundtrack für Menschen,
die auf den Weg nach draußen sind, näher zu sich.
„Ich wollte die Geschichte eines Menschen erzählen, der
seine Heimat verloren hat“, sagt Felix Meyer-Christian.
Wenn er von „Motortown“ erzählt, dann scheint der Weg
zur Inszenierung wie eine lange Suche. Videotagebü-
cher von Soldaten haben er sund das Team gesichtet,
Gespräche mit Veteranen geführt, Serien wie „Genera-
tion Kill“ untersucht. Und sich mit PTBS auseinander-
gesetzt – der posttraumatischen Belastungsstörung.
Ein Syndrom, bei dem die Psyche durch unbegreifliche
Erlebnisse so stark geschädigt ist, dass sie sie nicht
mehr verarbeiten kann.
Die Geschichte von Danny hat für Felix Meyer-Christian
aktuelle Dringlichkeit. Für „Motortown“ hat er Texte
geschrieben, die Danny in Form eines Videotagebuchs
in die Zeit von Basra zurückversetzen. In der Original-
fassung wird das Opfer schließlich zum Täter: Danny,
die perfekt abgerichtete Tötungsmaschine, foltert und
ermordet eine junge Frau.
Doch die Folter hat Felix Meyer-Christian nicht vorran-
gig interessiert. „Wir haben die Szene rausgelassen,
weil wir die grundsätzliche, universelle Gewalt zeigen
wollten, die in Danny wohnt. Sie bricht einfach hervor,
psychologisch unvermittelt.“
Der Hafen in mirvon Stephanie Drees
In den künstlerischen Ansätzen von Grete Michel und
Felix Meyer-Christian zeigt sich, was Stephens Stücke
eint: Das Spiel mit einem Motiv aus kaleidoskopischer
Perspektive. Hier ist es die innere Heimat: Die einen su-
chen nach ihr, die anderen können sie nicht abstreifen.
Port | Montag 12. 07. | 23:00 | Zeisehallen
Motortown oder Heimkehr | Montag 12. 07. | 21:30 |
Theaterakademie Zeisehallen
KFZVorschau
08 / 09
Was will das Kaltstart Festival eigentlich ?
Wo junges Theater auf etablierte Häuser trifft, junge Schau-
spieler und Regisseure erste Erfahrungen als Profis machen,
entstehen Nischen, kleine smarte Produktionen, die den
Theaterbetrieb mit Experiment und Visionen infizieren. Unter
dem Label „Kaltstart Pro“ werden solche Produktionen auf
dem Kaltstart-Festival eine Plattform haben. „Diese Auffüh-
rungen finden an Schauspielstätten in Bochum, Düsseldorf
oder Weimar zumeist auf Studiobühnen und in Foyers statt,
ohne großen Aufwand und Bühnenbild und lassen sich damit
ideal für unser Festival adaptieren“, sagt Thimo Plath. Der
künstlerische Leiter von Kaltstart Pro hat sein T-Shirt über
den Ast eines der Apfelbäume im Garten des Pressezen-
trums gehängt und klappt hinter dem Frühstücksgeschirr
den Spielplan über die Bierbänke, um sich einzelne Auffüh-
rungen zu markieren. Mittlerweile habe sich ein Netz-
Mit 120 Veranstaltungen und rund 1000 jungen Theatermachern ist das Kaltstart-Festival dank der Fusion von Kaltstart Pro, Finale, Fringe und dem neu gegründeten Youngstar mit Ab-stand das größte Nachwuchstheaterfestival im deutschsprachigen Raum.
Das Programm ist noch opulenter als 2009, als die Festivals
erstmals gemeinsam an den Start gingen. Als besonders
wichtigen Schritt empfindet Falk Hocquél, Initiator des
Festivals und Kaltstart-Pro-Verantwortlicher, die Entschei-
dung für einen einheitlichen Festivallook, eine gemeinsame
PR-Kampagne. Dass das Kaltstart dadurch an Aufmerk-
samkeit gewonnen hat, mache sich bereits im Vorfeld des
Festivals bemerkbar: Noch nie sei die Vorberichterstattung
so umfangreich wie in diesem Jahr. 2006 ging Kaltstart als
ehrgeiziger Versuch, jungen Theaterprofis eine gemeinsame
Plattform zu bieten, erstmals über die Bühnen Hamburgs.
Damals entschieden sich die Macher für die Sommermo-
nate, damit alle Künstler in der Spielzeitpause am Festival
teilnehmen können. Im Vordergrund stand von Beginn an
der Fachmessen-Charakter: Die Beteiligten sollen sich
über Rahmenbedingungen und Ästhetik des gegenwärtigen
Theaterschaffens austauschen. Dabei stellten die Organisa-
toren schnell fest, dass die jungen Theaterakteure vorrangig
mit junger Dramatik arbeiten – prompt wurde die Autoren-
lounge ins Leben gerufen, die ebenfalls immer mehr an
Zulauf gewann. Das Prag Spezial, das drei Gastspiele aus der
tschechischen Hauptstadt präsentiert, ist ein weiterer Höhe-
punkt in dem Programm. Dazu kommen Open-Air-Specials
– und die KFZ. „Das Festival ist über die Jahre kontinuierlich
gewachsen“, sagt Falk Hoqcél. „Die Vision, die wir ganz am
Anfang hatten, kann jetzt endlich praktiziert werden.“
Zum zweiten Mal bietet das Fringe-Festival dem Nachwuchs
der Freien Szene eine Plattform, um Produktionen in Ham-
burg einer breiteren Öffentlichkeit und einem Fachpublikum
vorzustellen. Anders als die meisten anderen Festivals wird
das Fringe nicht kuratiert: Wer sich anmeldet, darf kommen,
ohne sich einem Auswahlverfahren unterziehen zu müssen.
Dass einige Gruppen trotzdem nicht anreisen konnten, lag
einzig daran, dass der Andrang die Organisatoren an den
Rand ihrer Kapazitäten brachte: „Wir hatten auf 25 Anmel-
dungen gehofft“, sagt Christian Psioda, der als Teil der mehr-
köpfigen Fringe-Crew für Konzept, Programmierung und
Gesamtkoordination zuständig ist. Nun werden insgesamt
43 Produktionen zu sehen sein, 13 davon in der Reihe
„Fringe Open Air Special“.
Das Team sieht seine Hauptaufgabe darin, die günstigsten
Rahmenbedingungen für die anreisenden Künstler zu schaf-
fen. Dazu zählt auch die Organisation der häufig theaterun-
gewohnten Spielorte: Clubs, Bars oder Schulen fordern den
Akteuren Improvisationsfähigkeiten ab. In diesem „Un-
plugged-Modell“ sind künstlerischer Gestaltungswille und
die Lust auf neue Herausforderungen unentbehrliche Skills
für die Fringe-Teilnehmer. Wichtiger als makellose Perfor-
mances sind den Machern aber ohnehin Aufführungen, die
die Auseinandersetzung mit der Gegenwart suchen.
Christian Psioda stellt fest, dass es unter den diesjährigen
Produktionen einen Trend zu interdisziplinären, interme-
dialen Arbeiten gibt, und sieht darin ein besonders zeitge-
mäßes Vorgehen, um medien- und gesellschaftskritische
Fragen aufzuwerfen. Vor allem aber hofft er auf künstle-
rische Wechselwirkungen zwischen den freien Theaterak-
teuren und den Profis, die in den anderen Festivalsektionen
zu Gast sind.
von Clara Ehrenwerth
Kaltstart Pro
werk gebildet, das Kontakte zu Produktionen im gesamten
deutschsprachigen Raum ermögliche. „Kaltstart hat mittler-
weile eine solche Größe, dass Dramaturgen und Regisseure
kaum an uns vorbeikommen“ sagt er. Ziel sei es nun, ein
möglichst heterogenes Publikum zu erreichen, neben dem
Fachpublikum und den Theaterinteressierten auch dieje-
nigen Besucher, die an gewohnten Lokalen, wie dem Haus
III&70, dem Wagenbau oder dem Terrace Hill ungewohnte
Erfahrungen machen wollen.
Fringe
von Jan Berning
von Clara Ehrenwerth
KFZHintergrund
Kaltstart
Wer nicht ins Theater hinein geboren wurde, mit Migrati-
onshintergrund oder in prekären sozialen Verhältnissen
aufwächst, für den ist der Weg auf die Bühne nicht selbst-
verständlich. Umso wichtiger sind Festivals, auf denen
Jugendliche außerhalb der Schule in Workshops oder
Projekten sich künstlerisch versuchen können. Etwa auf
dem zweijährig stattfindenden Festival Youngstar, das von
dem Hamburger Verein „Kunstwerk“ organisiert wird.
Unter diesem Namen schaffen Eva-Maria Stüting, Hans-
Friedrich Stollnberger, Gisela Ewe und Anna Hennecke die
Rahmenbedingungen für Jugendtheater, für Tanz, Musik
und bildende Künste. Sie beantragen Fördermittel, organi-
sieren Probebühnen und laden Theatermacher, von denen
sie begeistert sind, ein, mit den Schülern zu arbeiten. „Wir
wollen die Jugendlichen als Künstler ernst nehmen, ihnen
auf Augenhöhe begegnen,“ sagt Anna Hennecke, die bei
„Kunstwerk“ für die Projektleitung zuständig ist. Sie wollten
den Jugendlichen nicht mit pädagogischem Zeigefinger ent-
gegentreten, sondern ihnen helfen, ihr kreatives Potential
zu entdecken. Dazu müsse man immer neu versuchen, wie
viel der möglichen Themen die Schauspieler aus sich selbst
entwickeln können und wie viel Aneitung notwendig sei. Zum
Kaltstart-Festival werden am 25.07. unter dem Namen „Ein
perfekter Sommertag“ zwei Vorschauen aus dem Programm
des für Mai 2011 geplanten Youngstar-Festivals gezeigt: die
Tanzperformance „Exit Paradise“ der Gruppe Ruff Monkeys
unter der Leitung von Mable Opoku-Peach und das „Instant
Traumlabor Traumfabrik Kopf“, bei dem der Grafikkünstler
Sascha Piroth individuelle Fotocollagen mit den Besuchern
schafft.
Felix Meyer-Christian kommt ein bisschen zu spät, hat das
eine Handy am Ohr, legt das andere auf den Tisch. „Ich hab
zwei Stücke am Start hier“, sagt er, außerdem ist er ein Teil
des Zweierteams, das die Programmkoordination des Finale
übernimmt, auf dem Studenten der Hamburger Theatera-
kademie aus drei Jahrgängen ihre Arbeiten präsentieren.
Das Finale, sagt Meyer-Christian, war ursprünglich ein
eigenes Festival. Es lief traditionell parallel zum Kaltstart,
bis jemand auf die Idee kam, beide Festivals einfach zu-
sammenzulegen. Bevor das passierte, war Meyer-Christian
immer auch beim Kaltstart-Festival dabei: Es sei eine gute
Möglichkeit, sagt er, auch mal eine breitere Öffentlichkeit zu
erreichen. „Durchmischung, Kommunikation und Synergie-
effekte“ – diese Worte benutzt er, wenn man ihn nach den
Vorteilen der Zusammenarbeit fragt.
Im großen Kontext des Kaltstart-Festivals will das Finale,
wenn man es denn überhaupt so sagen kann, vor allem auch
die akademische Regielaufbahn repräsentieren, die der Rest
des Festivals so explizit nicht abdeckt. Ob man jetzt aus der
Praxis komme oder aus dem akademischen Kontext, sagt
Meyer-Christian, mache zwar qualitativ keinen Unterschied.
Aber durch den geschützten Rahmen der Theaterakademie
sei das Experimentieren leichter, die Stücke müssten „nicht
so auf den Markt geschmissen werden.“ Dann klingelt wie-
der sein Handy.
Eigentlich haben wir schon genug Theater gesehen, diesen
Sommer: Schwarz-Rot-Gold auf der ganz großen Bühne,
die Massen, die das sprechende Bild feiern, die Menschen
auf den Kühlerhauben hupender Autos. Wir haben zwischen
Frauen in Paillettentops mit deutschen Farben auf den Wan-
gen und Männern in Fußballkostümen gestanden, wir haben
mit ihnen Bier getrunken, sind mit ihnen aufgesprungen,
haben den Bildschirmen und Leinwänden und den Helden
darauf zugeschrien und applaudiert. Wir hatten Drama und
Nationalgefühl, Konflikte, Protagonisten und Wendepunkte.
Dann aber wurden Laufwege elektronisch nachgezeich-
net, die Leistungsfähigkeit der Spielerkörper ausgewertet
und magische Momente zerredet. Es wurde klinischer und
technischer, der Blick auf das Spielfeld kam immer mehr
von oben, fast wie beim Tischkicker. Wir hätten uns mehr
Körper gewünscht, mehr Schweiß, mehr Konturen. Und wenn
wir dieser Tage in unserer Redaktion auf Holzdielen aufwa-
chen, zwischen Leinenkleidern und Schaufensterpuppen, in
unserem rosa Badezimmer durch die tropfenden Haare in
Spiegel mit goldenen Barockrahmen schauen oder mittags,
zwischen klickernden Kohlen auf dem Grill und knackenden
Eiswürfeln in den Cocktailgläsern, unsere Hände nach den
Früchten der Apfelbäume über uns ausstrecken,
dann ist das sehr schön.Aber irgendwo in unseren Bäuchen,
zwischen Grillfleisch und Alkohol, fehlt etwas, irgendwie
haben uns die Bilder nicht satt gemacht. Wir haben den Som-
mer vor Augen, aber noch nicht im Gefühl. Noch ist nichts
durchgegart, noch ist da kaum eine Erkenntnis, ein Stand-
punkt, eine Ansage, eine Idee zu uns durchgedrungen. Aber
die Ahnung ist da, in unseren Bäuchen, dass wir – vielleicht
gerade weil die Bühne in Hamburg kleiner ist und nicht gleich
die ganze Welt zu Gast – hier nicht nur Gestaltung, sondern
auch Geburt erleben werden. Dass wir uns familiär fühlen
werden, dass Spielpläne durcheinander geraten und Wein-
flaschen umgestoßen werden, dass näher hingeschaut und
größer gedacht werden wird, dass Körper wieder zu Körpern
und Paillettentops völlig ausbleiben werden, dass es diesen
Abschnitt des Sommers weniger um Effizienz, Effektivität
und Effekte gehen möge als um Magie und Moment. Denje-
nigen Effekten jedoch, die sich von der viel zu großen Bühne
auf das Festival verirrt haben, um diesen Sommer noch mehr
durchzustylen, weichzuspülen oder auch nur zu einer Ko-
stümparty werden zu lassen, ist diese Kolumne gewidmet.
Youngstar Finale
von Jan Berning
von Jan Berning von Jan Fischer
Affektierte
Effekte
KFZKolumne
10 / 11
Das Knust hat schon geschlossen, ein bisschen Musik
dringt noch heraus. Wir linsen unter den Plakaten durch:
Zwei Frauen an der Theke trinken Reste. Alle anderen
trinken Wodka auf den Stufen der Amphitheatertribüne
links von uns. Wir wollen das nicht, niemand will mehr,
also gehen wir: Wir gehen über die Brücke, wir schließen
unsere Künstlerwohnung auf und verfluchen das Yoko
Mono, das nichts mit dem Kaltstart zu tun hat, sondern
einfach nur laut ist.
Das Ende vom Anfang
Die Schanze und das Kaltstart, hören wir, ha-
ben dasselbe Herz, es hat drei Kammern: In
der einen läuft Elektro, in der anderen Soul,
in der dritten wird geraucht. Filzstifttags
überall, wo keine Tags sind, sind Aufkleber.
Wir werfen einen Blick in die Elektrokammer,
niemand schwitzt da außer dem DJ, wir stel-
len uns die Raucherkammer und machen 10
Millionen Punkte am Flipper, wir gehen in die
Soul-Kammer und fordern die zwei besten
Kickerjungs im Laden heraus. Wir verlieren,
aber dafür direkt unter der Klimaanlage.
Die Bar Rossi ist rot, es gibt Elektro-Soul-
Funk-Dancehall und Fantasiecocktails wie
„Veilchen Fizz“. Aber auch: Eine Terrasse,
auf der blonde Mädchen in Sommerklei-
dern Pastis trinken und lachen und denen
die Musik egal ist, der Abend aber viel-
leicht nicht. Die Bar selbst, sagt der Kell-
ner, ist nicht der Veranstaltungsort: Der
13. Stock gehört zwar zur Bar, liegt aber
im dritten Stock darüber. Das Treppenhaus
zum 13. Stock ist rot, und die Tür oben
abgeschlossen. Wir hören Gerüchte, auch
dort solle eine Terrasse sein.
Im Waagenbau sind wir zu früh: Die ersten in einer Warteschlange ohne Menschen, Türsteher, die uns
einfach durchwinken, trotz Laptoptaschen um die Schultern, trotz Jutebeuteln, Turnschuhen, T-Shirts,
trotz allem, eigentlich, werden wir in die zwei Keller gelassen: Lange, dunkle Industriehöhlen, in denen
nur die Theke leuchtet, eine Projektion an der Wand, die sagt, heute gebe es Dancehall. Ganz hinten in
der zweiten Höhle tanzen zwei und sehen aus, als wüssten sie auch nicht ganz genau, warum.
Wir trinken nichts, wir schauen, wir wollen nicht warten, wir wollen, dass etwas passiert. Jetzt.
00:36 // Altonaer Waagenbau // Frühwerk
22:05 // Bar Rossi // Rot
23:46 // Haus III & 70 // Dreikammernherz
1:37 // Knust // Amphitheatertrinker
Eine Kneipentour mit der KFZ-Redaktion durch einige Veranstaltungsorte des Kaltstart-Festivals
Die Bässe aus dem Yoko Mono woofen uns in den Schlaf. Mit den Händen auf dem
Boden spüren wir den Vibrationen nach und suchen das ruhigste Bett. Draußen sind
Betrunkene in rätselhafter Stimmung und singen später noch Elektro-Remixes von
70er-Jahre-Balladen mit. Es ist nur für eine Nacht: Morgen dürfen wir in unsere Re-
daktionsvilla, heute ist sie noch von Designern besetzt. Wir freuen uns darauf: Dann
sind wir die einzigen, die betrunken auf der Straße singen.
Das Ende unserer Kneipentour: Wir liegen wach, ein paar Stunden noch.
von Jan Fischer 2:33 // Künstlerwohnung des Molotow // Ende
KFZSzene
Im Waagenbau sind wir zu früh: Die ersten in einer Warteschlange ohne Menschen, Türsteher, die uns
einfach durchwinken, trotz Laptoptaschen um die Schultern, trotz Jutebeuteln, Turnschuhen, T-Shirts,
trotz allem, eigentlich, werden wir in die zwei Keller gelassen: Lange, dunkle Industriehöhlen, in denen
nur die Theke leuchtet, eine Projektion an der Wand, die sagt, heute gebe es Dancehall. Ganz hinten in
der zweiten Höhle tanzen zwei und sehen aus, als wüssten sie auch nicht ganz genau, warum.
Wir trinken nichts, wir schauen, wir wollen nicht warten, wir wollen, dass etwas passiert. Jetzt.
10:15 // Künstlerwohnung des Molotow // Anfang
Die Bässe aus dem Yoko Mono woofen uns in den Schlaf. Mit den Händen auf dem
Boden spüren wir den Vibrationen nach und suchen das ruhigste Bett. Draußen sind
Betrunkene in rätselhafter Stimmung und singen später noch Elektro-Remixes von
70er-Jahre-Balladen mit. Es ist nur für eine Nacht: Morgen dürfen wir in unsere Re-
daktionsvilla, heute ist sie noch von Designern besetzt. Wir freuen uns darauf: Dann
sind wir die einzigen, die betrunken auf der Straße singen.
Das Ende unserer Kneipentour: Wir liegen wach, ein paar Stunden noch.
Kaltstart
Es sollte ein ironisches Spektakel werden. Nicht in Johannes-
burg - das Talent von Profifußballern zum gepflegten Unernst
ist weiterhin überschaubar, zumal in einem WM-Finale. Aber
in der Hamburger Botschaft in der Sternstraße. Wie da fünf
Minuten vor Anpfiff ein „Die Flaggenhisser bitte an die Flag-
gen!“ durch die Hausanlage donnerte und wie dann von Prota-
gonisten in Freizeitklamotten rechts und links der Leinwand
die Nationalflaggen der Finalmannschaften langsam, fast
zärtlich, in die Höhe gezogen wurden, das war schon sehr wit-
zig. Allein: Das Spiel, das dann folgte, ließ diese spielerische
Haltung schnell nicht mehr zu. Die ewige Dichotomie von gut
und böse emotionalisierte an diesem Abend auch diejenigen,
die nur des ästhetischen Genusses wegen gekommen waren.
Die Betrachtung des theatralen Geschehens Fußball trans-
formierte sich zur Rezeption eines ungeheuren Kampfes, in
dem die Verkörperung des Bösen, interessanterweise ganz in
Orange, der Farbe der Fröhlichkeit gekleidet, sich früh an der
Verdichtung einer destruktiven Energie versuchte, die keiner
mehr gutheißen konnte.
Das aufmerksame Publikum in der Hambot, übrigens auch
Spielort beim Kaltstart-Festival, wurde dabei zum eigent-
lichen Helden des Abends. Denn nicht nur ertrug es mann-
und frauhaft und nur unter gelegentlichen „Schnauze!“-Rufen
den zunehmend dadaistischen Kommentar Marcel Reifs.
Auch gab es keinen Zweifel an der moralischen Deutung des
durchaus moralisierenden Schauspiels: Menschen, die sich
zuvor „far beyond“ jedes „gut versus böse“ gewähnt hatten,
erkannten die Dichotomie schnell als solche und beantwor-
teten sie mit der Parteinahme für das Gute.
Die einsame, ekelhafte Person (weiblich), die jeglichen Exzess
der Gewalt der orangenen Bestien mit „Internationale Härte“
kommentierte, mag hier für das unvermeidbar Schmutzige im
Menschen stehen. Die meisten der Zuschauer in der Hambot
waren über derartige Niedertracht zum Glück erhaben. Als
das Gute in einem dramatischen Finale schließlich gewann,
kannte der Applaus keine Grenzen.
Anders als Fußball geht es an die-
sem Samstagabend nicht. Das Cen-
tral Park ist eine Strandsimulation
mit Bratwurst, Bier und Strandkör-
ben. Es ist laut, voll, und wir teilen
uns auf: Die eine Hälfte schaut dem
Spiel in einem Blechbunker zu, auf
den ein paar Buchstaben des Wortes
„Mexiko“ gepinselt sind, die anderen
in einem Pavillonzelt, in dem alle
Männer Thomas-Müller Trikots tra-
gen und immerzu klatschen, wenn
nichts passiert. Mit Sand in den
Schuhen hören wir dem Jubel zu und
trinken Alsterwasser. Deutschland
gewinnt, wir kippen den Sand auf die
Straße.
Wir warten, bis die Designer nicht mehr in
der Villa sind. Wir schreiben jetzt, wir alle
schreiben, obwohl diese Kneipentour wohl
nicht zu unserer Legende wird: Manchmal,
das müssen wir zugeben, scheitert der
Exzess. Wir schreiben jetzt, und wenn die
Kneipentour das Ende unserer Zeit ohne das
Kaltstart-Festival war, ist der Morgen in der
Künstlerwohnung, wo wir verpennt umher
schleichen und die Duschreihenfolge aus-
knobeln, der Anfang. Und das, finden wir, ist
doch auch was wert.
20:30 // Central Park // Fußball
Ein WM-Finalabend in der Hamburger Botschaft
von Johannes Schneider
Das unvermeidbar Schmutzige im Menschen
KFZSport
KFZSzene
Ich verdiene nichts an diesem Artikel. Ich werde sogar freiwillig zwei Wochen lang unbezahlt in einer Journalisten-Kommune leben, ohne Warm-wasser. Trotzdem freue ich mich darauf. Ähnlich geht es den meisten ebenfalls unbezahlten Orga-nisatorInnen, Mitwirkenden und teilnehmenden Gruppen beim Kaltstart-Festival. Ja, sind wir denn völlig bescheuert?
Vielleicht sind die kreativ Arbeitenden, diese selbst gewählten prekarisierten KulturproduzentInnen, deshalb so gut ausbeutbare Subjekte, weil sie ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse wegen des Glaubens an die eigenen Freiheiten, wegen der Selbstverwirk-lichungsphantasien scheinbar unendlich ertragen. (Isabell Lorey beim Theatertreffen 2006)Um den Bogen weiter zu spannen: Wieso begeben sich junge
Theaterbegeisterte freiwillig in die so genannte „freie Szene“,
die in Deutschland aus etwa 20.000 Menschen besteht, die
größtenteils kaum von dem leben können, was sie mit ihrer
Kunst verdienen? Woher kommen diese Leute? Die Gruppe
„Realitäten Revue“ („Shadow“, Di, 13.07.) etwa ist aus einem
studentischen Projekt entstanden -- das hat sie mit vielen
Gruppen der Kaltstart-Abteilungen gemeinsam. In den letzten
anderthalb Jahren haben sie in Zusammenarbeit mit ver-
schiedenen Tanz- und Theatergruppen drei Inszenierungen
auf die Bühne gebracht. Ihre Produktion „Shadow“ war auf
einigen europäischen Festivals zu sehen. Finanziert werden
die Projekte aus eigenen Mitteln, aber auch aus Kulturfonds.
Damit gehören „Realitäten Revue“ zu einer der wenigen
freien Gruppen, die öffentliche Gelder bekommt. Das Geld
zum Leben verdienen die beiden Hauptakteure allerdings mit
Programmieren und Grafik-Design. In der Fringe-Abteilung
von Kaltstart können sich die meisten glücklich schätzen: Sie
studieren noch.
Wir leben prekär, wie die meisten KünstlerInnen. Durch das Studium sind wir zugegebenermaßen noch in einer Art Schutzzone. Es gibt uns die Freiheiten zum auszuprobieren, nicht zuletzt weil wir eine ko-stenfreie Probenmöglichkeit haben (die wir allerdings mit Kommilitonen teilen und doch oft in unseren Wohnzimmern proben mussten). (Ponydressing, Mi, 14.07.)
Die meisten freien Theaterschaffenden verbindet die Suche
nach neuen Strukturen, national wie international, eine hohe
Flexibilität und der ständig drohende Rutsch ins soziale und/
oder finanzielle Nirwana.
Und doch drängen immer mehr junge Leute in die freie Szene.
Die Konkurrenz wächst, aber das ohnehin knappe Publikum
(10-15% der Bevölkerung) nimmt nicht zu, die staatlichen
Zuschüsse sogar eher ab. Die Grundprobleme: Einkommen,
Alter, Krankheit, soziale Absicherung, Ausbildung, Berufsein-
stieg und Familiengründung. Die Künstlersozialkasse (KSK)
reicht schon längst nicht mehr zur sozialen Grundsicherung
aus, auch weil zum Überleben nötige Jobs wie Produktionsas-
sistenzen nicht als künstlerische Tätigkeit anerkannt werden.
Ich persönlich verbringe in Projektphasen (etwa zweimal jährlich je etwa 8-12 Wochen) meine Zeit fast ausschließlich mit Telefonaten, Proben, Pres-se- und Öffentlichkeitsarbeit, Organisation und Koordination des Teams. In dieser Zeit kann ich kaum nebenher arbeiten. Ein Privatleben im Sinne einer Trennung von Arbeits- und Berufsleben gibt es nicht. Nach meiner Einschätzung ist das im Kultur-bereich sowieso kaum möglich, da viele Kulturakteure außerhalb der Projekte Zeit miteinander und in der Planung neuer Projekte verbringen. Man nimmt die Arbeit immer mit nach Hause und lebt von einem Projekt ins nächste, von heute bis übernächstes Jahr. (Franziska Pohlmann, Haute Culture e.V., Mo, 12.07.)
Vergangenes Jahr hat der Fond der Darstellenden Künste
die Lebens- und Arbeitsbedingungen der freien Theater- und
Tanzschaffenden in Deutschland untersucht. Der „Report
Darstellende Künste“ ist die erste Untersuchung dieser Art
seit 1973. In einer Onlinebefragung wurden 4000 freischaf-
fende Künstler aus Tanz und Theater befragt. Die Zahlen, die
der „Report Darstellende Künste“ enthält, sind zum Heulen.
40 Prozent der freien Theatermenschen verdienen weniger
als der Durchschnitt der Bundesbürger: Während diese pro
Jahr 17.463 Euro netto verdienen, liegt das Einkommen in der
freien Theaterszene bei ungefähr 9000 Euro -- und das, ob-
wohl etwa zwei Drittel einen Hochschulabschluss haben. 32
Prozent sind dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen, 68
Prozent haben keine Kinder. Nahezu zwei Drittel realisieren
über zehn verschiedene Projekte im Jahr.
Das „Ensemble la vie -- Das Leben e.V.“, das bei Kaltstart
„Der Zementgarten“ (Mo, 12.07.) zeigt, produziert rund sechs
Stücke pro Jahr, was aber verhindert, dass sie mit ihren
Arbeiten touren. Auch mit der Förderung sieht es nicht so gut
aus. René Rothe: „Wir haben bis dato noch keine Förderungen
bekommen, weder vom Bund noch vom Freistaat Sachsen
oder der Stadt Dresden. Den „Zementgarten“ konnten wir nur
realisieren, weil das Staatsschauspiel Dresden eine Probe-
bühne bereitgestellt hat, die Hochschule für Bildende Kunst
Denkt nicht an die Rente, ihr theatralen Nomadensäue!
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von Alexandra Müller
Denkt nicht an die Rente, ihr theatralen Nomadensäue!von Alexandra Müller
Kaltstart
mungen die Kulturschaffenden als Symbolfiguren stilisieren,
die das freudige Umarmen von prekären Arbeitsverhältnissen
für die Breite der Gesellschaft vorbereiten, ist ein Zusam-
menhalt, eine Art gewerkschaftliche Organisation unbedingt
nötig.
Ich hoffe, dass sich die Theaterlandschaft in Deutschland generell umstrukturiert.Dass nicht nur Projekte gefördert werden, sondern dass man auch einen Lebensunterhalt hat in frei-en Produktionen. Dass sich echte Gemeinschaften bilden, von Spielstätten zu Künstlern, von Künstlern zu Künstlern und so weiter, und nicht nur Namen herumgereicht werden. Ich würde mir wünschen, dass man nicht gezwungen ist, immer auf dem Sprung, nomadisch und von Deadline zu Deadline für Förderanträge und Festivals und Residenzen zu leben. Aber ich glaube, dass es einer künstlerisch-politischen Bewegung bedarf, die sich einsetzt gegen Hierarchien und den Einzug des Neoliberalen im Kulturmanagement. Frei arbeiten soll tatsächlich etwas mit Freiheit zu tun haben. (Ponydressing)Für diese Bewegung kann ein Festival wie Kaltstart, so
schlecht es auch bezahlen kann, eine Chance sein. Theater-
macher aller Bundesländer, vereinigt euch!
Und die Rentenerwartung? Etwa 405 Euro haben weibliche
Theaterschaffende zu erwarten, Männer etwas mehr.
Jetzt kann man natürlich sagen: Was soll die Auf-regung? Es ist die freie Entscheidung eines Jeden. Am Theater geht‘s eben anders zu als anderswo. Das sind keine normalen Jobs. - Und hier genau sind wir am Kern des Problems. Doch, Lebens- und Arbeitsverhältnisse am Theater werden normal. Die prekären Jobs in künstlerischen Berufen sind in den vergangenen Jahren rapide in die Höhe geschnellt. Die Vorstellung, man habe diese Lebens- und Ar-beitsverhältnisse am und mit dem Theater frei ge-wählt und entscheide sich jedes Mal für ein Projekt oder dagegen, ist ein nicht unwichtiger Grund dafür, weshalb die Selbstausbeutung bei Leuten bis etwa 35 Jahre, aber auch darüber, meist ohne Kinder, ins Unermessliche steigerbar zu sein scheint. (Isabell Lorey)
Warum also? Auch Helena Otto vom Regiekollektiv „Otto frisst
Engels“, die bei Kaltstart mit „Pimper my City, du Nomaden-
sau“ vertreten sind, spürt die Begeisterung, die Lorey kriti-
siert: „Bei mir ist das Theater omnipräsent. Weil ich es liebe
und gerne Kraft und Zeit dafür aufbringe. So kann es schon
mal sein, dass ich in mehrere Projekte gleichzeitig involviert
bin. Ich glaube, Engagement ist mir sehr wichtig.
Entweder ganz und dann mittendrin oder gar nicht.“
Sie ist kritisch zu sehen, die Leidensbereitschaft und Selbst-
ausbeutung - dauerhaft leidet darunter nicht nur die künstle-
rische Arbeit, sondern auch der Rest des Lebens. Mittlerweile
hat sich aber glücklicherweise eine kritische Grundstimmung
bei den jungen TheatermacherInnen entwickelt, die vielleicht
in den kommenden Jahren zu stärkeren Protesten gegen die
sinkenden Löhne führen wird. Je mehr neoliberale Strö-
Haute Culture e.V.
Dresden die sichtbare Bühne gebaut hat, die Hochschule
für Musik und Theater Leipzig das Tonstudio zur Verfügung
gestellt hat und die Schauspieler auf ihre Gagen verzichtet
haben.“ 30-50 Prozent der freien Theatermacher müssen
arbeiten, um finanziell über die Runden zu kommen, rund
zwei Drittel der Wochenarbeitszeit geht für Organisation und
Nebentätigkeiten drauf. Nur 33 Prozent der Wochenarbeits-
zeit bleiben für die eigentliche künstlerische Tätigkeit.
Haute Culture e.V.
KFZDebatte
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Festival
zeitung
Kaltstart
Das Festival-Survival-Kit
Schon Eva wusste: Ein Apfel zur rech-
ten Zeit fördert die Selbsterkenntnis.
Im heutigen selbstreferenziellen
Theater eine Voraussetzung.
Weg mit den Digitalkameras, her
mit den alten Teilen! Da wird auch
bei Stromausfall das Theatergut für
die nachfolgenden Generationen
aufbewahrt. Und das gute Stück
macht sich auch ganz fantastisch
als Accessoire.
Die würzige Alternative
zum Elektroschocker. Bei
nächtlichem Nachhau-
sekommen ein großer
Sicherheitsspender. Aber
Vorsicht: Nicht selber an-
sprühen!
Festival-Nächte sind lang
und heiß: Softdrink-Energie-
schübe ohne Kokain und mit
weniger Kapitalismus. Außer-
dem wiederverschließbare
Flaschen – im Theatersaal ein
Muss.
Langweiliges
Stück? Be-
schissene
Party? Dröger
Gesprächspart-
ner? Schlafbrille
– dann ist es
wenigstens
dunkel.Auch du bist in der Schule wegen
uncooler Klamotten gehänselt wor-
den? Beteilige dich an der Revenge of
the Nerds und schlag zurück mit dem
Trendaccessoire 2010! Das wollen jetzt
sogar die coolen Kids. Aber wir geben
es ihnen nicht! Nä nä nä …
Wieder mal nen heißen Regisseur
abgeschleppt und in dessen Hotelbett
aufgewacht? Jetzt heißt es frischma-
chen und ab in die nächste Premiere.
Adornos Kulturkritik.
Muss auch sein.
Ohne Worte.
KFZRatgeber
Die Festivalzeitung KFZ zum KALTSTART HAMBURG 2010 wird herausgegeben vom
Kaltstart e.V.
Redaktion: Khesrau Behroz, Jan Berning, Stephanie Drees, Clara Ehrenwerth,
Jan Fischer, Alexandra Müller, Laura Naumann, Jan Oberländer (V.i.S.d.P.),
Johannes Schneider.
Gestaltung: www.kirschcake.net.
Auflage: 500. Redaktionsblog unter www.kaltstart-hamburg.de/blog.
Oder in live: Lokal, Max-Brauer-Allee 207, 22765 Hamburg.
Mit freundlicher Unterstützung von: