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    Zwischen Fremde und Heimat 

    Merlin Christophersen, K2 Modul des Deutschstudiums, Roskilde Universität

    Wintersemester 2010/2011, betreut durch Klaus Schulte

      - Diasporaerlebnisse in Emine Sevgi Özdamars

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“

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     Anmerkung zum Titelblatt: Die Zitate sind aus Özdamars „Karagöz in Alamania Schwarzauge inDeutschland“ (2006). Das Nachtigallmotiv ist ein Design von Miyo Mori (http://www.miyo-mori.com/,letzter Zugriff am 16.12.2010).

     Neben meinem Betreuer, Klaus Schulte, danke ich besonders Jan Niermann und Duncan

     Paterson für ihre Unterstützung im Entstehungsprozess dieser Arbeit.

    - Merlin Christophersen, Dezember 2010

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    Inhaltsverzeichnis

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    Bemerkungen zum sozialen Kontext und analytischen Rahmen

    Einleitung

    Emine Sevgi Özdamars Erzählung „Karagöz in Alamania Schwarzauge in

    Deutschland“ (1990)1 schildert die Migration eines türkischen Gastarbeiters nach

    Deutschland und lädt die Leser zur Reflexion über die interkulturellen Begegnungen ein,

    die durch die Gastarbeitermigration entstanden und fortläufig entstehen. Indem die

    Erzählung in diesem Kontext eine tiefgehende Berührungsfläche mit Vorstellungen von

    kollektiven Identitäten – mit unter nationalen, ethnischen, religiösen und sprachlichen –

     bildet, liegt es nicht fern sie als Teil der gegenwärtigen Debatten um die Ausländerpolitik

    zu lesen, die sich in der modernen deutschen Geschichte in der sogenannten

    ‚Ausländerfrage’ kristallisiert: Wie soll die deutsche Politik und Öffentlichkeit auf die stetig

    anwachsende Zahl von Ausländern – deren Mehrheit Türken bilden – reagieren? Diese

    Frage findet im gegenwärtigen Ausländerdiskurs leider meist problembetonte Antworten.

     Ausländer – besonders die mit muslimischem Hintergrund – werden als Problem für die

    Gesellschaft dargestellt, das als in der Kultur des Anderen fundiert beschrieben wird.2 In

    den gegenwärtigen Debatten wird so ein organisches Kulturverständnis begründet, das diechristlich-jüdischen Wurzeln der deutschen Identität hervorhebt, sie als Leitkultur

     begründet und eine Kluft zur Identität des Anderen – einer angenommenen muslimischen

    Identität – beschreibt und festzuschreiben versucht.3 Die eigene Identität stützt sich hier

    auf die Imagination einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur, die alle im

    organischen Sinne als abgrenzbare Phänomene verstanden werden.

    In „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ scheint ein anderes

    Kulturverständnisses vorherrschend. Kulturelle Unterschiede werden als verschiedene

    1 Die hier angewandte Ausgabe ist eine Neuauflage von 2006. Insgesamt ist das Buch in vier Auflagenerschienen.2 Für ein aktuelles Beispiel für dieses Kulturverständnis siehe man Thilo Sarrazins Buch Deutschland Schaft Sich Ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010), in welchem Türken kategorisch stark kritisiert undgenetisch kategorisiert werden. Sarrazin hat mit seinem Buch bundesweite Debatten initiiert. ChristianGeyer nennt etwa das Buch in der Frankfurter Allgemeine Zeitung „ein antimuslimisches Dossier“ (Geyer).3 Z.B. spricht CSU-Chef Horst Seehofer in der Integrationsdebatte von dem „Fundament der Werteordnungunseres [deutschen] Grundgesetzes und unserer deutschen Leitkultur, die von den christlich-jüdischen

     Wurzeln und von Christentum, Humanismus und Aufklärung geprägt ist” („Seehofer legt Sieben-Punkte-Plan nach“, Focus 16.10.2010).

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    kulturelle Praxen beschrieben, die verändert werden können und auch im Laufe der

    Erzählung verändert werden. Somit wird hier dem organischen ein konstruktivistisches

    Identitäts- und Kulturverständnis, das Kultur als Performance versteht, entgegengesetzt.

    Damit werden auch die aufgeworfene Frage der kollektiven Identitäten problematisiert: Es

     wird die Frage der Dazugehörigkeit aufgeworfen; was ist eigentlich Deutsch und Türkisch?

    Damit wird im Ausländerdiskurs einer Minoritätsposition Ausdruck gegeben, die das

    Potential besitzt, die Grundvorstellung der Majorität – die vorgegebene Vorstellung von

    nationaler Identität – zu erschüttern.

    Es ist in dieser Arbeit mein Vorhaben, dieses Potenzial in „Karagöz in Alamania

    Schwarzauge in Deutschland“ zu analysieren, um zu zeigen wie dieser Text kulturellen

    Klüften ‚entgegenarbeiten’ und interkulturelles Verständnis fördern kann. Hier geht es inanderen Worten darum, einem sozioökonomisch wie kulturell gesehenem hegemonialen

    Gefälle entgegenzuarbeiten, wo die Majoritätskultur durch Prozesse der Alterität

    subalterne Subjekte konstruiert. Solchen Subjektivierungsprozessen wendet sich die

     postkoloniale Theorie zu, die ein kritisches Neudenken des Verhältnisses zwischen

    (ehemalig) Kolonisierten und Kolonisierenden repräsentiert. Dabei wird versucht

    hegemoniale Diskurse zu dekonstruieren und Minoritätsperspektiven Ausdruck zugeben.

    Den deutsch-türkischen Begegnungen liegt zwar kein (ehemaliges) Kolonialverhältnis zuGrunde, dennoch zeigen sich aber auch hier Alteritätsprozesse die durch eine von

    postkolonialer Theorie inspirierte Perspektive aufschlussreich zu analysieren sind. Eine

    solche postkoloniale Perspektive, mit Ausgangspunkt in Homie K. Bhabhas und Stuart

    Halls Ansätzen, soll dieser Arbeit so als Inspiration und als theoretischer Leitfaden dienen,

    um sich der Analyse zu widmen wie die Erzählung gegen festgeschriebene Vorstellungen

     von Identität und Zugehörigkeit anschreibt.

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    Zur intertextuellen Einbettung der Erzählung

     Als dritte unter vier weiteren von Özdamars Erzählungen in der Erzählsammlung

     Mutterzunge (1990)4

     – die sich insgesamt mit türkischen Diasporaerlebnissen inDeutschland beschäftigt – sticht „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ als

    längste Erzählung hervor, die zudem als einzige ohne weibliche Hauptperson auskommt.

     Während die anderen drei Erzählungen die Erlebnisse von türkischen Migrantinnen und

    Gastarbeiterinnen schildern, die sich bereits in Deutschland befinden, wird in „Karagöz in

     Alamania Schwarzauge in Deutschland“ die Geschichte eines jungen türkischen Bauern

    erzählt. Dieser bricht aus der Türkei auf, um als Gastarbeiter im deutschen

     Wirtschaftswunder seinen Wert als Arbeiter zu erhöhen. So schildert die Erzählung nicht

    nur ein Resultat der türkischen Diaspora, sondern einen die gesamte

    Gastarbeitermigration durchziehenden Diasporaprozess.

    Die Schilderung dieses Diasporaerlebnisses lehnt sich eindeutig an Özdamars

    Theaterstück Karagöz in Alamania (1982)5 an, aus dem die Dialoge mit kleinen

     Variationen direkt übernommen wurden. Da das Theaterstück wiederum von einem Brief

    eines türkischen Gastarbeiters inspiriert ist (vgl. Özdamar et al. 46f), kann „Karagöz in

     Alamania Schwarzauge in Deutschland“ als die einzige Erzählung in Mutterzunge 

     verstanden werden, die sich an einem konkreten Diasporaerlebnis orientiert, das

    allerdings nicht in der Biographie der Autorin verortet werden kann. Diese Beobachtung

    kann auch die männliche Hauptperson erklären, da die weiblichen Hauptpersonen der

    drei anderen Erzählungen, als teils autobiographische Erlebnisse der Autorin

    ausdrückend, angesehen werden können. Özdamar kam selbst 1965 als 19-jährige ohne

    Deutschkenntnisse nach West-Berlin, wo sie auch Erfahrungen als ‚Gastarbeiterin’ in einer

    Fabrik sammelte.6 Der Name der Erzählung, wie der des Theaterstücks fordern des

     weiteren zur Assoziation mit der Karagöz-Schattenspieltradition auf, auf die ich im Abschnitt „Anlehnung an das Karagöz-Schattentheater“ noch eingehen werde.

    4 Die anderen Erzählungen sind „Mutter Zunge“, „Großvater Zunge“ und „Karriere einer Putzfrau Erinnerungen an Deutschland “. 5 Das Stück wurde 1982 geschrieben und hatte seine Erstaufführung im Frankfurter Schauspielshaus 1986.6 Besonders „Mutter Zunge“ und „Großvater Zunge“ schildern die (auch sprachlich initiierte) Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, wie auch das Verhältnis zu dem Phänomen derMuttersprache, welches hier weitgehend als phantastische Vorstellung kritisiert wird. „Karriere einer

    Putzfrau Erinnerungen an Deutschland “ beschäftigt sich des weiteren auch konkret mit der Arbeitserfahrung einer Gastarbeiterin.

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    Das Özdamar auf Deutsch schreibt, obwohl Deutsch für sie eine erlernte

    ‚Fremdsprache’ ist, bewirkt einerseits, dass sich ihre Texte in eine deutsche Literatur 

    einbetten, und andererseits, dass die Texte auch als erlebnisbildene Räume verstanden

     werden können, welche die Vorstellung von Gastarbeiteridentitäten als Teil eines deutsch-

    kulturellen Identitätskontextes ermöglichen. Letztere Annahme beinhaltet auch eine

    Reorientierung von deutscher Nationalidentität. Diese Arbeit verfolgt einen Ansatz, der

    Literatur als Quelle von Identitätsbildung versteht. Zu Beginn soll jedoch nun ein kurzer

    Überblick über die Erzählung gegeben werden.

    Eine kurze Zusammenfassung

    In „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ werden die Leser einem

    armen Bauern vorgestellt, der in seiner Heimat – einem kleinen türkischen Dorf – mit

    seiner schwangeren Frau, seinem Onkel und einem Esel lebt. Am Anfang der Erzählung

    hat die Frau des Bauern einen vorhersehenden Traum, in dem sie erfährt, dass der Bauer

    nach Deutschland gehen wird, um dort 25-mal so viel Geld zu verdienen, wie es für einenBauer in der Türkei möglich ist. In ihrem Traum sieht sie den Bauern auf des Nachbarn

     Apfelbaum, um dort, von Armut getrieben, Äpfel zu klauen. Nach dem Traum bereitet sich

    der Bauer, von seinem Onkel unterstützt, auf seine Deutschlandreise vor. Auf die Reise

    nimmt er aber statt seiner Frau seinen Esel mit, der wie sich zeigt, sprechen kann und oft

    auf lyrische Weise philosophische Gedanken äußert. Auf ihrem Weg begegnen den beiden

     verschiedene, teils mystische, Charaktere, wie z.B. ein Schatzgräber, ein Musiker sowie ein

    hinterhältiger Urinverkäufer. Dazu treffen sie auf einen Löwen und später auf zwei

    Grabsteine, die auch in teils lyrischer Sprache gesellschaftskritisch philosophieren.

    Später erreichen die zwei Reisegefährten Deutschland, wo der Bauer zu arbeiten

    anfängt und der Esel Rotwein zu trinken. Seinen Lohn schickt der Bauer zurück ins Dorf,

    indem sein Onkel für ihn eine Apfelbaumplantage anpflanzt und verwaltet. Der Bauer

     vermisst aber schon bald die Türkei und seine Frau, und kehrt in die Türkei zurück um

    seine Frau nach Deutschland zu holen. Hiernach folgen viele Jahre in Deutschland, in

    denen die Frau des Bauern, stetig zwischen der Türkei und Deutschland hin- und herreist,

     wieder schwanger wird und Kinder gebärt. Während dieser Zeit wechselt der Bauer ständig

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    seine Arbeit, verdient mehr Geld und fährt in den Ferien in sein Heimatdorf, wo seine

    Plantage stetig wächst. Er hat immer wieder Heimweh, und trotz vieler Versuche scheint er

    sich in Deutschland nicht richtig zurechtfinden zu können. Langsam werden sowohl der

    Bauer wie auch der Esel politisch bekehrt. Der Esel liest Marx, der Bauer orientiert sich

    ebenfalls politisch links und wird dafür sowohl in Deutschland wie in der Türkei von

    türkischen Faschisten verprügelt und niedergestochen.

    Zum Ende hin zerstreitet der Bauer sich sowohl mit seiner Frau – der er eine Affäre

    mit seinem Onkel vorwirft, während er selbst in Deutschland nach Affären sucht – wie mit

    dem Esel, den er schlägt. Der Bauer – der nun 125-mal so viel verdient wie ein Bauer in der

    Türkei – ist zuletzt in seinem Dorf völlig entfremdet; er ist zwar politisch links, ist aber

    zum Großgrundbesitzer geworden und tritt in Jackett und mit Aktenkoffer auf. So scheinter im Dorf nicht mehr zugehörig. Dies drückt sich darin aus, dass der Bauer sowohl von

    seiner Apfelbaumplantage, wie auch vom Esel verschmäht wird. Indem der Bauer am Ende

    der Erzählung seinem jüngerem Alterego begegnet, wird die bisherige Chronologie der

    Erzählung erschüttert. Der Esel geht zuletzt mit dem jüngerem Bauern weg, während der

    Bauer mit seiner Frau und Kindern zurück nach Deutschland fährt.

    Zum politischen Kontext

     An dieser Stelle will ich einen Überblick über die Gastarbeitermigration und ihre auf

    deutsche Nationalidentität einwirkende Folgen bis in die deutsche Gegenwart geben.

    Dabei sollen auch gegenwärtige Diskurse über die mit dieser Migration

    zusammenhängenden „Ausländerfrage“ (vgl. Herbert 9) analysiert werden. In Geschichte

    der Ausländerpolitik in Deutschland  (2000) legt Ulrich Herbert eine detaillierte Analyse

    der deutschen Ausländerpolitik vor, die auch die Gastarbeiterpolitik einschließt. Auf diese

     Analyse werde ich mich im Folgenden weitgehend beziehen.

    Die Gastarbeitermigration wurde vor dem Hintergrund eines Mangels an

     Arbeitskräften im deutschen Wirtschaftswunder von 1955 bis 1973 politisch unterstützt

    und mit Anwerbeabkommen in den 1950ern und 1960ern zwischen der Bundesrepublik

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    und sechs südeuropäischen Ländern7 – 1961 mit der Türkei – konsolidiert (vgl. Herbert

    202ff). In der Politik wie in der Wirtschaft herrschte in diesen Jahren eine stetige „Kosten-

    Nutzen-Diskussion“ (Ibid. 229) über die Gastarbeitermigration. Soziale Umstände der

    Migration – z.B. Lohn- und Wohnraumfragen sowie Einwirkungen auf den Arbeitsmarkt

    der Anwerbeländer – nahmen vergleichsweise wenig Platz ein. Verstärkt zu Beginn dieser

    Periode, aber auch darüber hinaus, wurden Gastarbeiter aus Wohnungsmangel und

    Kostenspargründen in kümmerlichen Verhältnissen zusammengestaucht (vgl. Ibid. 206ff).

     Als Anfang der 1970er ein Defizit in der Kosten-Nutzen Frage der Gastarbeiter auffiel,

     beschloss man das Ende der Anwerbeabkommen. Offiziell wurde dieser Beschluss jedoch

    durch die, durch den Ölboykott ausgelöste, Finanzkrise 1973 begründet (vgl. Ibid. 228f).

    Zu diesem Zeitpunkt befanden sich knapp 2,6 Millionen ausländische Arbeiter auf demdeutschen Arbeitsmarkt, etwa 600.000 von ihnen waren Türken, die somit die größte

    Gruppe unter den Ausländern ausmachte (vgl. Ibid. 224).

    Die Gastarbeiter, besonders die nicht aus dem EG-Mitgliedsland Italien kommenden,

    hatten einen prekären und wechselnden rechtlichen Status. Am Anfang orientierte sich

    dieser Status an der Ausländerbeschäftigung vor 1945.8 Erst ab 1965 wurde ein

    eigentliches Ausländergesetz in der Bundesrepublik eingeführt, das aber die

     Aufenthaltserlaubnis der Gastarbeiter an deren Arbeitssituation band und so mit einermöglichen Abschiebung durch Verlust der Arbeit drohte (vgl. Ibid. 211ff). Die deutsche

    Politik und Öffentlichkeit ging von Anfang an davon aus, dass die Gastarbeiter – man sehe

    hier auch die Beschreibung der Arbeiter als Gäste –, von denen die meisten mit 20 bis 40

    Jahren noch sehr jung waren, nur vorübergehend in Deutschland arbeiten würden um

    später in ihre Heimatländer und zu ihren Familien zurückzukehren (vgl. Ibid. 209).

    Obwohl viele dies auch taten, blieb dennoch eine signifikante Anzahl über die Jahre in der

    Bundesrepublik. Diese Gruppe wurde durch Familienzusammenführungen und später

    7 Ab 1955 wurden Anwerbeabkommen mit folgenden Ländern in folgender Reihenfolge eingegangen: Italien(1955), Griechenland und Spanien (1960), Türkei (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968) (vgl.Herbert 203, 208).8 Dies bedeutete, dass Staatsbürgerschaft nach dem Abstammungsprinzip gegeben wurde. VieleKriegsflüchtlinge und Vertriebene aus den Ostzonen, die deutsche Ahnen hatten, bekamen so die deutscheStaatsbürgerschaft (vgl. Herbert 192ff). Die Integrierung von Flüchtlingen in den späten 1940gern und1950gern, sowie auch das verfassungsmäßige Asylrecht – welches auch zur Integration in Deutschland beitrug – sind spannende Themen, die hier aber nicht weiter verfolgt werden sollen. Für die

    Gastarbeiterintegration bedeutete die politische Orientierung an der Zeit vor 1945, das die öffentliche Wahrnehmung der Gastarbeiter beeinträchtigte und negativ gefärbt wurde (vgl. Herbert 206).

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    durch hohe Geburtenraten noch vergrößert, was zu der heutigen „Präsenz einer

    signifikanten türkischen Minderheit in der [Bundesrepublik führte]“ (Boran 17).9 

     Während die Gastarbeiter mit schlechtem Lohn und schlechter sozialer Sicherheit

     Arbeitsplätze besetzten, die für die deutschen Arbeiter wenig Reizvoll waren, machten sie

    es für deutsche Arbeiter möglich, sich für andere Positionen zu qualifizieren (vgl. Herbert

    213). So entwickelten sich die Gastarbeiter, nach Herbert, zu einem „Subproletariat“ (Ibid.

    214) in der deutschen Gesellschaft. In „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“

    kann in der marxistischen Orientierung des Esels, sowie in der Beschäftigung des Bauern,

    eine Anspielung auf diese soziale Position der Gastarbeiter gesehen werden, die zu der

    kulturellen Kluft eine soziale Kluft beifügt.

    Neben der Teilung und Wiedervereinigung hat sich Deutschland auch durch dieGastarbeiterimmigration seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchgehend verändert.10 

    Dies allein fordert schon eine Neuorientierung von Vorstellungen der nationalen Identität,

    die sich auf das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft beziehen muss.

    Leider scheint derzeit in Deutschland die abstrakte Idee einer ‚Leitkultur’ im politischen

    Diskurs über die eines ‚Multikulti’-Zusammenlebens zu stehen.11 So scheint eine kollektive

     Angst vorzuherrschen, dass die eigene Kultur von fremden Kulturen wie der türkischen

    überwältigt werden könnte. Dieses Phänomen von der Todesangst der eigenen Kultur, die von einer Fremdheit überschwemmt, verändert und letztlich vernichtet werden könnte,

     beschreibt Kevin Robins in „Interrupting Identities: Turkey/Europe“ (1996) als ein

    generell europäisches Phänomen, in dem eine historisch verwurzelte kollektive Angst vor

    dem nicht-europäischen, oft islamischen Anderen Ausdruck findet (vgl. Robins 66). Wie

    eine solche Angst in der deutschen Bevölkerung an Ausbreitung gewinnt, zeigt die kürzlich

    erschienene Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Mitte in der Krise (2010), die das

     Aufblühen rechtsradikaler Strömungen in der politischen Mitte beschreibt.12 

    9 Im Jahre 1998 waren etwa 2,1 Million Türken, die somit 28,8% der in Deutschland lebenden Ausländer –hier wird von der juridischen Definition der Staatsangehörigkeit ausgegangen – ausmachten (vgl. Herbert290).10 Dazu kommen natürlich auch die Immigranten die besonders seit der Wende als Flüchtlinge nachDeutschland kommen (vgl. Herbert 232ff).11 So spricht sich etwa CSU Chef Horst Seehofer für die Idee einer undefinierten deutschen „Leitkultur“ aus, während er die Politik des Multikulturalismus – welcher hier als ein Zusammenleben in Verschiedenheit verstanden wird – als „tot“ erklärt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt denMultikulturalismus als „gescheitert“ (vgl. Herzinger).12

     Z.B. kann man in dieser Studie folgendes über Ausländerfeindlichkeit in Deutschland lesen: „DieEigengruppenaufwertung als Deutsche findet ihre Entsprechung in der Abwertung der Fremdgruppen. In der

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    Demzufolge scheint es nicht überraschend, dass sich die öffentliche Debatte in

    Deutschland primär um die Wahl zwischen Integration – die hier eher als Assimilation,

    also als Anpassung, verstanden werden muss – oder Ausschließung von Ausländern dreht

    (vgl. Mandel 61). In der aktuellen politischen Situation besteht also für Ausländer die Wahl

    zwischen einem Beitreten zu einer deutschen ‚Leitkultur’, oder eines geographischen

    Zurückgehens an den Ort, wo man herkommt.13 Diese Wahl beruht auf der schon

    einleitend angemerkten organischen Kulturvorstellung, die ein Volk natürlich an eine

     bestimmte Nation – einen bestimmten Ort der Heimat  – bindet.14 In dieser Auffassung ist

    auch die Vorstellung einer kulturellen Dichotomie vorherrschend, welche die

    identitätsstiftenden Unterschiede zwischen deutscher/westlicher und türkisch/islamischer

    Kultur als global und modern gegenüber lokal und traditionell hervorhebt (vgl. Littler B221). Diese Gegenübersetzung ist auch, wie ich später noch eingehender ausführen werde

    und wie Erol M. Boran auch in seiner Dissertation Eine Geschichte des Türkisch-

     Deutschen Theaters und Kabaretts (2004) anmerkt, als eine Exotisierung von türkischer

    Kultur zu verstehen, welche Türken als subalterne nichtdazugehörige Subjekte konstruiert

    und generalisierend klassifiziert.

     Vorstellungen von Dazugehörigkeit und Nichtdazugehörigkeit sind äußerst

    problematisch. Dies zeigt schon die juridische Definition von Ausländern. Erst im Jahre2000 wurde eine Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit geändert, so dass nun neben

    „dem Abstammungsprinzip auch das Geburtsprinzip“ gilt, „das den Erwerb der

    Staatsangehörigkeit mit dem Geburtsort verknüpft“ (Boran 26). Damit wurde den in

    Deutschland geborenen Kindern der Gastarbeitergeneration nun zwar auch die deutsche

    Staatsangehörigkeit zugesichert, dennoch gibt es aber in Deutschland immer noch

     juridisch gesehene Ausländer, die in Deutschland geboren sind, und ihr ganzes Leben in

    der Bundesrepublik verbracht haben (vgl. Ibid. 27). Dazu klassifiziert der Alltagsgebrauch

    Dimension „Ausländerfeindlichkeit“ finden wir konsequenterweise durchgängig hohe Zustimmungswerte.Hier sticht die extrem starke Befürwortung in Ostdeutschland ins Auge. Gut die Hälfte der ostdeutschenBefragten äußert die Ansicht, dass die „Ausländer“ den Sozialstaat ausnutzen und nur deshalb nachDeutschland kommen. Insgesamt bewegt sich die Zustimmung damit im Osten zwischen 40 % und 50 %, während sie im Westen nur geringfügig schwächer ausgeprägt ist und zwischen 30 % und 34 % liegt“ (Deckeret al.. 77). Darüber hinaus wird die Feindlichkeit Muslimen gegenüber darin begründet, das 58,4% derDeutschen gerne die Religionsfreiheit von Muslimen eingeschränkt sieht (Ibid. 177).13 Das diese Annahme auch in der Bevölkerung Ausbreitung findet, sieht man z.B. in  Die Mitte in der Krise, wo gezeigt wird, dass 31,7% der Deutschen der Aussage zustimmen, dass Ausländer in ihre Heimat

    zurückgeschickt werden sollten, wenn in Deutschland Arbeitsplätze knapp werden (vgl. Decker et al.. 78).14 Ein Ort in dem das Volk zuhause ist, andere aber Fremd sind.

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    „Menschen unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit aufgrund äußerer Merkmale,

     beziehungsweise hinsichtlich ihres kulturellen Hintergrundes als ’Ausländer’“ (Ibid.).

    Seit der Erstveröffentlichung von Mutterzunge im Jahre 1990 haben sich

    ausländerskeptische Diskurse weiterhin verschärft, was auf eine globale Intensivierung der

    diskursiven Dichotomie zwischen einer ‚Westlichen’ und einer ‚Islamischen’ Welt

    zurückverfolgt werden kann. Neoliberale politische Diskurse in Europa und den USA, die

    den Islam als Feind eines liberalen und demokratischen ‚Westens’ beschreiben, haben

     besonders nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 an Ausbreitung gewonnen.

    Diese diskursive Entwicklung beschreibt Talal Asad in On Suicide Bombing (2007), wo er

     jedoch diese Vorstellung – die ebenfalls Samuel P. Huntingtons These vom ‚Kampf der

    Kulturen’ inspiriert – dekonstruiert. Die islamische Welt und das christliche Europastehen schon seit eh und je in einem Verhältnis von kulturellem Austausch,

    Handelsbeziehungen und verschiedenen militärischen Allianzen. Die aktuellen Diskurse –

    die sich auch auf eine ‚Geschichte der Demokratie’ berufen, die zurückgehend bis zum

    antiken Griechenland beschrieben wird – sind so durch ein selektives kollektives

    Gedächtnis geprägt (vgl. Asad 7ff). In einem europäischen Kontext kann dieser

    Entwicklung auch das islamische Feindbild des von der NATO geleiteten Kosovokrieges im

    Jahre 1999, sowie die Terrorangriffe in Madrid (2004) und London (2005) zugeschrieben werden. So gewinnt die Neuauflage von Mutterzunge im Jahre 2006, und damit auch

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“, an erneuter Aktualität.

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ scheint einen Standpunkt

    einzunehmen, der die politischen Diskurse der Dazugehörigkeit herausfordert und solchen

    diskursiven Verschärfungen entgegenarbeitet. Demnach zeigt sich die Erzählung als

     Abbildung des nationalen Anderen, der trotzdem dazugehört; eines Fremden im

    Heimischen. Es ist ein Bild von dem, was sich in der Peripherie des abstrakten imaginativ-

    normativen Raums der nationalen Gemeinschaft befindet, aber sich real in der Mitte des

    geographischen Raumes der Nation befindet. Die Frage von nationaler und kultureller

    Dazugehörigkeit wird so durch die Schilderung der Gastarbeiterdiaspora ins Bewusstsein

    des Lesers gerufen. Somit wird auch die Frage nach nationalem Eigentum gestellt und was

    eigentlich den identitätsstiftenden Bau der Nation ausmacht. Im Sinne eines traditionellen

    Kulturbegriffs, wie etwa dem oben dargestellten Leitkulturgedanken, besteht der nationale

    Raum aus gemeinsamer „Literatur-Sprache-Kultur“ (Lutter et al. 16), die als organische

    Phänomene und so als natürlich an die Nation gebunden imaginiert werden. Dem

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    entgegen verstrickt sich in „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ nicht nur

    die Geschichte des Bauern, sondern auch die Stilart und Gattung des Erzählung, in

    polyphonen Ausdrucksformen, die jeden Anspruch auf essentielle Stellungnahme

    zurückzuweisen scheinen. Identität ist hier, wie wir sehen werden, nichts gegebenes,

    sondern etwas, das in sozialem und historischem Kontext konstruiert und aufgeführt wird.

    Die Frage der Dazugehörigkeit ist auch in Bezug auf die Vorstellung einer deutschen

    Literatur wiederzufinden, in der Literatur von ‚nicht-deutschen Autoren’ prinzipiell eine

    Nischenrolle zugewiesen wird. In der damaligen Rezeption stieß Özdamar mit

     Mutterzunge auch auf vehemente Kritik. So schrieb etwa Hermann Kurzke 1990 in der

     Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Veröffentlichung von Mutterzunge: Özdamar

     wäre „eher ein Fall als eine Begabung“ (Kurzke). Zwölf Jahre später schreibt MargaretLittler noch, dass die sogenannte „ MigrantInnenliteratur“  15 in der Germanistik eine

    marginale Rolle einnimmt und nur in den angelsächsischen „German Studies“ verbreitetes

    Interesse findet (vgl. Littler A 219). Dazu schreibt Angela Weber in Im Spiegel der

     Migrationen Transkulturelles Erzählen und Sprachpolitik bei Emine Sevgi Özdamar 

    (2009), dass „[d]urch Kategorien wie Gastarbeiter-, Ausländer-, Migranten-, Exil- oder

    Deutschlandliteratur [...] Literatur, die in komplexer Weise kulturelle Differenzen

    artikuliert, aus dem Kanon deutscher Literatur ausgegrenzt [wird]“ (Weber 181). Soscheint sich auch in der Germanistik eine Angst vor dem Untergang eigener Kultur zu

    zeigen. In meinen Nachforschungen bin ich auch hauptsächlich auf englischsprachige

    Literatur über Özdamar und ihre Werke gestoßen.16 Obwohl Özdamar als die

    prominenteste Vertreterin der ‚MigrantInnenliteratur’ angesehen wird (vgl. Littler A 219),

    sind Arbeiten über ihre Werke nicht sehr verbreitet. Es gibt so z.B. nur sehr wenige

     wissenschaftliche Abhandlungen über „Karagöz in Alamania Schwarzauge in

    15 Literatur, die auf Deutsch von ‚Nichtdeutschen’ geschrieben wird, hat viele Definitionen: Margeret Littlerspricht von ‚MigrantInnenliteratur’, Lucia Perrone Capano von ‚Interkultureller Literatur’ (vgl. Capano 242)und in Metzlers Deutsche Literatur Geschichte (2001) findet man unter der Überschrift „ Literatur aus naher Fremde“ „Begriffe wie »Gastabeiter- und Betroffenheitsliteratur« (H. Weinrich), »Literatur der Fremde« (S. Wiegel) [...] und »Migranten- oder Migrationsliteratur« (H. Rösch)“ (Beutin et al.. 694). Alle diese Begriffe„belegen den Versuch, eine Geschichte literarischer Werke von Autorinnen und Autoren verschiedensternationaler Herkunft zu benennen, die seit nunmehr fünf Jahrzehnten zur deutschsprachigen Literaturgehört, aber immer noch als »andere« und »erweiterte« deutsche Literatur bezeichnet wird“ (Ibid.). Ich werde mich in dieser Arbeit von solchen Definitionen fernzuhalten versuchen.  16

     Hier ist etwa Webers Im Spiegel der Migrationen Transkulturelles Erzählen und Sprachpolitik bei Emine Sevgi Özdamar eine gerngesehene Ausnahme.

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    Deutschland“. Diese Arbeit bemüht sich somit der deutschsprachigen wissenschaftlichen

    Marginalisierung in diesem Gebiet entgegenzuarbeiten.

    Zum analytisch-theoretischen Rahmen

    In der Orientierung von „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ an

    einem Theaterstück ist auch die Gattung der Erzählung stellenweise an die Dramatik

    angelehnt. Dies spiegelt sich in der Struktur wieder, in welcher die Erzählung in neun

    Szenen bzw. Kapitel aufgeteilt ist, die – bis aufs erste und fünfte Kapitel – alle mit der

    Unterüberschrift „ES WURDE DUNKEL / ES WURDE HELL“ eingeleitet werden.

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ endet nur noch mit dem Text „ES

     WURDE DUNKEL“. Diese Einteilung kann auf verschiedene Weisen analysiert werden:

    Die Unterüberschrift kann einfach einen zeitlichen Ablauf durch das Vergehen von Tagen

     beschreiben, so dass es die Sonne ist, die unter- und aufgeht. Sie kann aber auch auf eine

    Bühne hinweisen, wo die Erzählung als ein Theaterstück verstanden werden kann, das von

    den Lesern als Zuschauer betrachtet wird. So wird nach jeder Szene das Licht ausgemacht,

     welches den Bühnenbildnern erlaubt, unbemerkt die Kulisse und so auch den Ort zu

     wechseln. Die nomadenhaften Ortswechsel, die in der Erzählung von dem Bauern, dem

    Esel und seiner Frau unternommen werden, werden so auch vom strukturellen Aufbau der

    Erzählung unterstützt.

     Auch liegt hier die Assoziation zum Karagöz-Schattentheater nicht fern, welches im

    Gebiet der heutigen Türkei im Osmanischen Reich bis zum 18. Jahrhundert weit verbreitet

     war (vgl. Boran 43).17 Das Karagöz-Schattenspiel ist die bedeutendste türkischeTheatertradition, die Boran als höchstwahrscheinlich von Zigeunern entwickelt beschreibt

    (vgl. Ibid. 41f, 48). Dieses Schattenspiel basiert technisch auf einem Puppentheater, das

     von einem Puppenmeister vor einer von hinten beleuchteten Leinwand gesteuert wird. Der

    Zuschauer sieht so nur die Schatten der Figurenpuppen auf der Leinwand (vgl. Ibid. 51).

    17 Auch das Hell- und Dunkelwerden kann als auf das bildliche Spiel der Schatten im Karagöz-

    Schattentheater hinweisend verstanden werden. In dieser Tradition passiert der ‚Ortswechsel’ plötzlicher, daes keine eigentliche Bühne gibt die erst umgestaltet werden muss (vgl. Boran 42).

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    14

     Wir sehen so im Namen der Erzählung, der auch auf die Hauptperson, den Bauern,

    anspielt, eine Assoziierung mit etwas zigeunerisch Nomadenhaften. Gleichzeitig ruft der

    Bezug auf das Schattentheater Assoziationen mit Wahrnehmungstäuschungen hervor,

     welche die von Descartes ausgehende europäische Wissenstradition der von Vernunft

    geprägten Kognition transzendiert. Denn die Schatten sind hier, wie in Platons

    Höhlengleichnis, nur Abbilder der eigentlichen Figuren. In einem gesellschaftskritischen

     Ansatz kann dies als durchgehende Kritik von statischen Wirklichkeitsansprüchen gesehen

     werden, denn die Realität, welche die Zuschauer sehen (oder in diesem Falle lesen), ist nur

    ein Schatten einer Wirklichkeit. Dennoch ist sie aber für die Zuschauer real. Dies kann wie

    ein Paradox klingen, ist aber durch ein Verständnis von Realität als  Repräsentation zu

    erklären.Einen solchen Ansatz beschreibt Stuart Hall in seiner Einleitung „Introduction“

    (1997) und „The Work of Representation“ (1997) aus dem Sammelband Representation

    Cultural Representations and Signifying Practices (1997). Hier ist die Repräsentation der

    Realität – d.h. die bedeutungsgebende Beschreibung – gleichzeitig auch der

    konstituierende Moment dieser Realität. Er beschreibt dies folgendermaßen: ”It is by our

    use of things, and what we say, think and feel about them – how we represent them – that

     we give them a meaning” (Hall B: 3). Unsere Wirklichkeit ist also, so Hall, ein sprachlichesKonstrukt, wo aber Sprache im breiten Sinne auch als z.B. Vorstellungen, Gedanken,

    Körper und andere kulturelle Produkte und Praxen – als aus Zeichen bestehendes

    semantisches System – verstanden wird (Hall C 19ff). Dieses Verständnis von Sprache als

     wirklichkeitskonstruierend, statt nur wirklichkeitswiedergebend, liegt auch dieser Arbeit

    zugrunde, und wird, in „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“, auch in der

     Assoziation mit dem Karagöz-Schattenspiel, gesehen.

    Die Hauptperson des Schattenspiels, das stets nach einem „einheitlich[en]

    Konstruktionsschema“ verläuft (Boran 51), ist Karagöz („Schwarzauge“), den Boran wie

    folgt beschreibt:

    Sein Äußeres, wie auch sein sprachlicher Ausdruck werden [...] mitunter

    Zigeunern in Bezug gebracht, was unter anderem seine Unabhängigkeit von

    kleinbürgerlicher Mentalität betont. Karagöz ist ein fröhlicher Geselle,

    impulsiv, spontan und von einer schlagfertigen Bauernschläue, die es ihm

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    gestattet, auf scheinbar naive Weise herkömmliche Ordnungen zu

    hinterfragen. (Boran 49)

    Diese Charakteristik scheint, wie wir auch noch in größerem Detail sehen werden, sehr gut

    auf den Bauern in „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ zuzutreffen. So

    kann der Bauer, Karagöz, auch in dieser Erzählung Ordnungen hinterfragen, während die

    Erzählung an sich genau dies im übertragenen Sinne tut; sie hinterfragt die Ordnung der

    nationalen Vorstellungen.

    Im Karagöz-Schattenspiel findet sich dazu eine Gattungsvermischung von

    „Gedichten, Musik, Volksgeschichten und Miniaturen“ (Boran 48). Dies verleiht einer

     weiteren Assoziation mit „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ Ausdruck,da auch diese Erzählung Gattungsarten vermischt. So enthält sie Elemente des Märchens,

    der Lyrik und, wie erwähnt, der Dramatik. Die Handlung, die auf das performative

    Element der Identitätskonstruktion aufmerksam macht, findet damit Resonanz in der

     Verknüpfung von Gattungen in der Erzählung. Dies werde ich auch im Abschnitt

    „Gattungsbrüche als identitätsreflexive Erzählstruktur“ eingehender analysieren.

    Eine solche Verknüpfung scheint für Özdamars Texte typisch zu sein. In diesem

    Zusammhang schreibt auch Lucia Perrone Capano in „Sprachfremde and Fremderfahrungas Acoustic and Visual Experience in Works by Yoko Tawada and Emine Sevgi Özdamar“

    (2007) über Özdamars Texte, dass sie auf des Lesers Wahrnehmungsvermögen Einfluss

    nehmen:

    The structuring of recognizable and classifiable genres is replaced [...] by forms

    of perception and consciousness that go beyond mere non-formalization, in

     which the time of existence coincides with that of reading and/or writing.

    (Capone 243)

    Die Vermischung der Gattungen kann so als eine Wiedergabe von Auffassungs- und

    Bewusstseinsmodi gelesen werden, die mit traditionellen Erzählmustern brechen und

    gleichzeitig identitätsstiftend auf die mit dem Text sich auseinandersetzenden Personen

    einwirken. Diese Modi können in dem hier gegebenen Argument somit als eine

    identitätsstiftende Komponente beinhaltend beschrieben werden, die in Texten wie

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ eine Reorientierung der nationalen

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     Vorstellung fordern und Identitätspositionen zwischen den kulturellen und nationalen

    Sphären zu öffnen scheinen.

     Auch im sprachlichen Stil gibt die Ehrzählung eine Reorientierung vor. Die

     Aufführung des türkischen Diasporaerlebnisses in Deutschland wird auch sprachlich als

    ein solches unterstützt. Özdamar schreibt zwar alle ihre Werke auf Deutsch, jedoch

    schreibt sie in einem sehr kreativen, virtuosen und unkonventionellen Deutsch, da sie

    Redewendungen teils vom Türkischen und teils vom Arabischen ableitet, aber auch

    religiöse Koranverse mit profaner, manchmal vulgärer Sprache vermischt (vgl. Roy).

    Özdamars Sprache ist demnach, so Weber, Ausdruck einer „irreduziblen

    Mehrsprachigkeit“ (Weber 181), die einen entfremdenden Effekt auf ihre deutschen Leser

    hat. Indem die Schreibweise auf eine Zukunft hinweist, wo Mehrsprachigkeit nicht nurRealität geworden,18 sondern auch eine anerkannte Realität geworden ist, werden die

    Perspektiven der Leser durch das Lesen erweitert (vgl. Ibid.). Mit Ausgangspunkt in einer,

     von Derrida inspirierten, poststrukturalistischen Sprachphilosophie, beschreibt Weber so

    Özdamars Sprachgebrauch als einen „‚Ort’ zwischen den Sprachen“ (Ibid. 188), der auf den

    in ihrer deutschen Schreibweise liegenden Verlust ihrer Muttersprache hindeutet und

    gleichzeitig eine Vorstellung von in sich geschlossenen Sprachen kritisiert. Sprachen sind

    demnach immer in Bewegung und in Veränderung. Als Beispiel nennt sie hier aus Mutterzunge Özdamars Gebrauch von „der Metapher der ‚gedrehten Zunge’ [die] auf das

    türkische Verb ‚cervimek’“ anspielt, „welches ‚drehen’, ‚wenden’, ‚übertragen’ und

    ‚übersetzen’ bedeuten kann“ (Ibid.173), womit sie auch auf die Unmöglichkeit von Eins-zu-

    eins-Übersetzungen von Sprachen hindeutet: Sprache ist demnach „immer schon

    übersetzte Sprache“ (Ibid.).19 Der Mehrsprachigkeit in „Karagöz in Alamania Schwarzauge

    in Deutschland“ wende ich mich im Abschnitt „Ehrzählpositionen, Sprache und

    Übersetzungsproblematiken“ eingehender zu.

    So findet sich in der Erzählweise eine Polyphonie von Stimmen, die durch den

    Sprachgebrauch und die Gattungsvermischung unterstützt, sehr verschiedene Versionen

     von Erlebnissen von Exil, Fremde und Diaspora geben. Die Stimmen geben somit auch

    18 In der Bundesrepublik, so schätzen Ingrid Gogolin und Hans Reich, lebten schon 2001 um die 10 Millionen‚nichtdeutschstämmige’ bi- oder multilinguale Personen, die sowohl Deutsch wie mindestens eine andereSprache verwenden (vgl. Gogolin et al.. 193).19 Diese Argument könnte man in der Verknüpfung von Kultur und Sprache auch analog zur Kultur führen,

    dass also Kultur immer schon vom dem mit der Kultur sich auseinandersetzendem Individuum ‚übersetzte’Kultur ist und nicht als einheitliche Sphäre angesehen werden kann.

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    ihre erlebnisbezogenen Versionen davon preis, was Deutsch und Deutschland (auch) ist.

    Es sind Versionen, die von ihren marginalisierten Positionen aus kontrastierende Bilder

    der vorgestellten nationalen Gemeinschaft zeichnen.

    Zur Anwendung postkolonialer Theorien

    Sowohl die beschriebenen sprach- wie auch die gattungsbezogenen Komponenten

     von „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ scheinen die Normen des

    Schreibens zu erschüttern und damit erschüttern sie auch die narrative Struktur vonNation und Identität, die im öffentlichen Raum erzählt werden. Dieses Argument soll hier

    in Bezug auf postkoloniale Theoriebildung erläutert werden.

    Der Stil der Erzählung wirkt neckisch, an die Komödie und das Karagöz-

    Schattentheater angelehnt und teils parodierend, wo besonders die Gastarbeiter und die

    türkische Landbevölkerung Ziel der Parodie werden. Dies wird auch im Abschnitt „Zur

    Komödie und Mimikry: ironische Wiedergabe von Stereotypen“ näher analysiert. Die

    stilistischen Merkmahle sowie der Bruch mit den sprachlichen und gattungsbezogenenKonventionen erinnert stark an eine Form des ambivalenten Konzept der  Mimikry, für das

    Homi Bhabhas „Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse“ (1984) ein

    grundlegender Text ist. Im Konzept von Mimikry haben subalterne Subjekte das Potenzial

    gegen die hegemoniale Dominanz der Kolonialmächte durch ein ‚Zurückschreiben’

    anzugehen, in dem sie die herrschenden Diskurse für sich einnehmen und sprachlich

    unscheinbar verändern. Es entsteht ein Nachäffen des dominanten Diskurses, das diesen

    erschüttert und in den hierdurch entstehenden Spalten das fremde Element des

    diskursiven Anderen durchscheinen lässt. Die britischen Literaturtheoretiker Bill Ashcroft,

    Garett Griffiths und Helen Tiffin beschreiben in Post-Colonial Studies – The Key Concepts 

    (2000), in Bezug auf Bhabha, den Prozess von Mimikry in folgender Weise:

     When colonial discourse encourages the colonized subject to ‘mimic’ the

    colonizer, by adopting the colonizer’s cultural habits, assumptions, institutions

    and values, the result is never a simple reproduction of those traits. Rather the

    result is a ‘blurred copy’ of the colonizer that can be quite threatening. This is

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    18

     because mimicry is never very far from mockery, since it can appear to parody

     whatever it mimics. (Ashcroft et al. 139)

    Sehen wir also bestimmte Arten des Schreiben von kolonisierten Subjekten als Mimikry,

    also als ein störender Moment im dominanten Diskurs der kolonialen Hegemonie, so

    sehen wir gleichzeitig Literatur als eine hochpolitische Institution die in einen

    Ideologiekampf eingeht.

     Aber können wir überhaupt die Schilderung des deutschen Diasporaerlebnisses aus

    Sicht eines türkischen Bauern in das Schema einer postkolonialen Perspektive der

    Mimikry eingliedern? Diese Frage wird eindeutig von einer weiteren Frage begleitet, die

    ich aufdecken möchte, was Kolonisierung und das Postkoloniale eigentlich ist: Wie verstricken sich Machtverhältnisse in den komplexen hegemonialen Verhältnissen

    zwischen (ehemalig) Kolonisierenden und Kolonisierten und ist ein solches Verhältnis

    überhaupt in den deutsch-türkischen Beziehungen wiederzufinden?

    Hall argumentiert in „When was ‘The Post-Colonial’? Thinking at the Limit“ (1996),

    dass der Begriff Postkolonial  sowohl das historische Ende der Kolonialzeit bedeuten kann

    – das sich, wie auch argumentiert wird, in jeder postkolonialen Gesellschaft anders

    ausmacht (vgl. Hall F 245) –, aber auch ein Neudenken beinhaltet. Wie Hall schreibt, istdie Kolonialzeit, wie auch die Zeit danach, Ausdruck einer gewissen Geschichts-Erzählung,

    die Geschichtsschreibung nach gewissen normativen, wertbetonten und theoretischen

    Kodexen inszeniert:

    ‘Colonialism’ refers to a specific historical moment (a complex and

    differentiated one, as we have tried to suggest); but it was always also a way of

    staging or narrating a history, and its descriptive value was always framed

     within a distinctive definitional and theoretical paradigm. (Hall F 253)

    Die Definitionsmacht lag in der Kolonialzeit bei den Kolonisierenden. Da es unklar scheint,

    ob die koloniale Definitionshegemonie nicht immer noch in den (post-)kolonialen

    Beziehungen wiederzufinden ist, könnte man argumentieren, dass Geschichte – wie auch

     wissenschaftliche Theorie und somit Definitionen der Realität – auch heute aus

    ‚westlicher’ Perspektive geschrieben wird (vgl. Connell; vgl. Coronil). Die Mächtigen

    schreiben die Geschichte, wobei Geschichtsschreibung sich in einer foucaultschen

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    Macht/Wissen-Relation verankert. Das postkoloniale (Neu)Denken, die postkoloniale

    Theorie, ist dann in diesem Sinne ein Bruch mit den Normen, Werten und Theorien der

    Kolonialzeit, welches auch ein Neuschreiben der Geschichte und somit der Identität aus

    anderen, eher marginalisierten Perspektiven beinhaltet. Mit anderen Worten ist der

    postkoloniale Ansatz Ausdruck einer Kritik an hegemonialen Diskursen, die sich darin

    auszeichnen, dass sie subalterne Subjekte (re-)konstruieren. Hierzu können wir z.B.

    kapitalistische und imperialistische Diskurse zählen.

     Auch Deutschland hat eine koloniale Geschichte. Jedoch war die Türkei, die bis 1923

    Zentrum des Osmanischen Reichs war, nie von Deutschland annektiert. Sie stand vielmehr

    mit Deutschland in politischer Verbindung. Das Osmanische Reich kämpfte so im Ersten

     Weltkrieg mit dem Deutschen Reich verbündet auf der Seite der Mittelmächte. Diehistorische Perspektive zeigt demnach, dass Deutschland im klassischen Sinne nicht als

    Kolonialmacht gegenüber der Türkei angesehen werden kann. Dennoch lässt sich, wie

    Boran anmerkt, „die Methode westlicher Kolonialmächte“, die „ihre östlichen Territorien

    unter Absolutsetzung eigener Werte und Maßstäbe als zivilisatorisch retardierte, defektive

     Welten“ kodifiziert (Boran 23f), auch im Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland

    auffinden. Wenngleich „sich in diesem Fall [auch] die ’Koloniesituation’ anders, nämlich

    als innerhalb der Grenzen des eigenen Landes lokalisiert, darstellt“ (Ibid. 24). Es drehtsich in anderen Worten nicht so sehr um die Frage, ob ein geographisches Gebiet einst von

    einer nationalen Macht annektiert worden ist oder nicht, sondern vielmehr um die

    Machtprozesse, die als Ausdruck eines hegemonialen Verhältnisses die Wirklichkeit der

    Begegnung zwischen Menschen verschiedener kulturellen Hintergründe konstruieren.

    In den deutsch-türkischen Begegnungen können so unterdrückende Definitions- und

    Subjektivierungsprozesse wiedergefunden werden, die denen der kolonialen

    Macht/Wissen-Verhältnissen ähneln und aufschlussreich durch postkoloniale Theorien

    analysiert werden können. Im deutsch- türkischen Verhältnis zeigen sich solche Prozesse,

    so Boran, in einer „Exotisierung türkischer Kultur“ (Ibid.). In einer Analyse muss man

    natürlich hier auch auf die historisch-kontextuelle Idiosynkrasie dieser Prozesse achten,

    und so stets das deutsch-türkische Verhältnis im Gedächtnis behalten.

    Die hegemonialen Diskurse in denen derartige Subjektivierungsprozesse fungieren,

    stehen immer auch im Verhältnis zu materiellen Gegebenheiten. Das soll heißen, dass sie

    Einfluss auf die materielle Realität der Subjekte haben, deren Realität sie konstruieren. So

    spricht Iain Chambers in „A Stranger in the House“ (2001) von kapitalistischer und

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    kolonialer Hegemonie im gleichen Atemzug, wobei Kapitalismus als ein Modus angesehen

     werden kann, der sowohl die Kolonisierung unterstützt, wie auch unterstütztend auf diese

    einwirkt. In diesem Sinne stellt Chambers die Frage an das nationale Zentrum der

    Kolonisation – an die nationale Heimat der Kolonialmächte – wer für den Aufbau dieser

    eigentlich verantwortlich ist: „who build this house, and whose house is it?“ (Chambers

    163). Diese Frage, wenn sie an die deutsch-türkische Migrationsbegegnung gerichtet ist,

     wirft die Frage auf, auf welchem ökonomischen und kulturellem Boden das ‚Haus’

    Deutschland gebaut worden ist.

    Obwohl ich Deutschland nicht als eigentliche Kolonialmacht gegenüber der Türkei

     verstehe, hat diese Frage hier hohe Relevanz. In Deutschland leben etwa 2,6 Millionen

    Muslime (vgl. Hodkinson et al. 2), von denen die Mehrheit Türken sind, die etwa alsGastarbeiter oder deren Nachkommen zum Wirtschaftswunder beigetragen haben, indem

    sie dem Arbeitsmangel der spät 1950ger, 1960ger und früh 1970ger Jahre abhalfen (vgl.

    Herbert 202ff). Dies gibt ihnen in diesem Argument ein ökonomisches Recht auf ihre neue

    Heimat. Analog kann das Argument auch für die deutsche Kultur angeführt werden.

    Jedoch wird dieses Recht auf sozial-politischer, ökonomischer und kultureller Ebene

    selten anerkannt. Die Debatten um Ausländer, speziell um Türken und den Islam, sind,

     wie schon bemerkt, von Marginalisierung und Fremdenangst geprägt, die zu einerExotisierung des absoluten Anderen beitragen und so reziprok auch die eigene Vorstellung

     von nationaler Identität konsolidieren.

    Genau wegen dieser Marginalisierung von Minoritäten, wie der türkischen, ist es

     wichtig die schon angedeutete Idee der Literatur als ein politisches Mittel aufzugreifen, um

    eine Pluralität der Perspektiven zu zeichnen die einer einheitlichen Nationalidentität der

    ‚Leitkultur’ entgegenarbeiten kann. Wir können hier Literatur, im Sinne des cultural

    materialism (vgl. Sinfield), als ein auf ideologische Diskurse einflussnehmendes

    sprachliches Konstrukt verstehen. So schreibt Alan Sienfield in „Art as Cultural

    Production“ (1999) über Literatur im cultural materialism Ansatz:

    Literature becomes one set of practices within the range of cultural

    production; a ’discourse’, we might say, meaning the working assumptions of

    those involved in those practices, together with the institutions that sustain

    them. Notions of literature transcending society, history, and politics then

    appear, in themselves, as ideological maneuvers. (Sinfield 633)

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    Diese Auffassung, die mit traditionellen Literaturauffassungen, als z.B. reine Kunst, bricht,

    gibt Literatur eine sehr ausgeprägte Relevanz und ein politisches Potential zur

     Veränderung von hegemonialen Diskursen. Es ist unverkennbar, dass Literatur hier

    sowohl eine Abschwächung wie den Ausbau der Diskurse bewirken kann. Deshalb kann

    und muss hier für die spezifische Verantwortung der Literaturwissenschaft plädiert

     werden, die im wissenschaftlichen Diskurs kanonbildend ist.20 Die Literaturwissenschaft

    muss sich in anderen Worten auch, und vielleicht besonders, für marginale Literatur

    interessieren, um Einblicke in andere Versionen von Identitäten in hegemonialen

    Diskursen zu gewährleisten. In diesem Sinne will ich mich nun in den nächsten Teilen

    dieser Arbeit einer eingehenden Analyse von „Karagöz in Alamania Schwarzauge inDeutschland“ zuwenden.

    20 Z.B. durch die Ausarbeitung von Literaturhistorischen Nachschlagswerken und Lehrbüchern, die sowohl

    auf den höheren Lehranstalten wie in Schulen Anwendung finden. Auch Weber deutet in diesem Sinne aufdie identitätsstiftende Funktion der Germanistik hin (vgl. Weber 181f).

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    Erzählstrategien: Implikationen von Gattung, Stil und Sprache

    Gattungsbrüche als identitätsreflexive Erzählstruktur

    Im Bewusstsein des Risikos sich mit dem zu beschäftigen, was Hans Magnus

    Enzensberger „das trübseligste Kapitel der Literaturwissenschaft“ nennt (Enzensberger

    65), will ich mich nun der einleitend angedeuteten, literarischen Gattungsvielfalt in

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ zuwenden. Es scheint eindeutig, dass

    in der Erzählung verschiedene Gattungen – z.B. Dramatik, Epik und Lyrik – vermischt

     werden. Weniger eindeutig ist das Verständnis davon, was eine literarische Gattung

    eigentlich ist. Wie Enzensberger in der vierten seiner „Frankfurter Poetikvorlesungen“

    (1964-65)21 bemerkt, ist nicht nur die klassisch-aristotelische Dreiteilung der literarischen

    Gattungen in Lyrik, Epik und Dramatik problematisch. Selbst bei Anwendung vielfältigerer

    Gattungsklassifikationen könnte sich am Ende „herausstellen, daß es überhaupt nur

    gemischte Texte gäbe“ (Enzensberger 70). Das heißt also, dass man im Prinzip unendlich

     viele Gattungen und Subgattungen klassifizieren könnte.

    Um dieses Problem der ewigen Vervielfältigung der Gattungen zu umgehen,

     beschreibt Enzensberger (mit Inspiration von Harry Lewin und N.H. Pearson) literarischeGattungen als institutionalisierte Abstraktionen, die ihre konventionelle Macht auf alle an

    der Literatur Teilhabenden auswirken, seien dies Autoren, Kritiker, Wissenschaftler,

    Buchproduzenten und Händler oder eben Leser. Alle haben eine Vorstellung von

    Gattungen. Diese manifestiert sich z.B. bei den Autoren durch Erfahrungen von, und in

     Anlehnung an, anderen Texten. Ein Autor kann nur im Bezug auf andere Texte schreiben

    und wird so auch immer im Bezug zu bestimmten Gattungskonventionen schreiben, selbst

     wenn er sie zu brechen versucht. Beim Leser ist es die Nachfrage nach bestimmtenGattungen – die zum Großteil auch von Kritikern geprägt wird – die reproduzierend wirkt

    (Enzensberger 75-82). Wichtig ist es hier zu bemerken, dass Gattungsklassifikationen, wie

    Enzensberger ganz richtig bemerkt, immer normativ geprägt sind, da sie Grenzen der

    Zugehörigkeit ziehen. Mit anderen Worten „gehen alle bisherigen Gattungslehren von

    einer Grenzziehung zwischen Literatur und Nichtliteratur aus“ (Enzensberger 71).

    21 Hier in Enzensbergers Enzensbergers Über Literatur (2009) wiedergegeben.

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    23

    Dabei wird hier die Frage von Zugehörigkeit mit Widererkennbarkeit verknüpft, was

    analog die Frage der Grenzen zwischen literarischen – und somit auch

    nationalliterarischen – Traditionen aufwirft, denn es gibt keine globale Tradition des

    Literatur- und Gattungsverständnisses. So können etwa literarische Gattungen aus einer

    (nationalen) Tradition in einer anderen als fremd vorkommen. Osmanische Gattungen

    etwa, wie das Karagöz-Schattentheater oder arabische, wie die poetisch-intertextuelle

    Form der „mu’âradah“, als welche Kate Roy in „German-Islamic Literary

    Interperceptions“ (2009) Özdamars Texte analysiert (vgl. Roy 174ff),22 können in einem

    deutschen Kontext fremd wirken. Roys Auslegung zeigt uns auch, wie Enzensberger schon

    argumentiert hat, dass sich Texte oft durch verschiedene Gattungskonventionen

    auszeichnen und klassifizieren lassen. Auch wirft die Frage der Zugehörigkeit – damit auch die Frage der Anerkennung von

    Literatur an sich – in einem okzidentalen Kontext weitere Problemstellungen auf. Hier

    kann nämlich ein hegemoniales Gefälle zwischen den alten Kolonialmächten und den alten

    Kolonien entdeckt werden. Literatur ist in großem Ausmaß ein nationales Phänomen, aber

    auch eins, das als hoch zivilisierte Kunstart stark in die Imagination eines westlich-

    europäischen Selbstverständnis einwirkt. Es ist mit anderen Worten die Vorstellung einer

    reinen Kunstart, die sich in Europa selbstinitiiert hat. Dies beschreiben Nancy Armstrongund Leonard Tennenhouse ausgehend vom englischen Roman in The Imaginary Puritan 

    (1992), wo sie die Idee eines originalen Ursprungs der Romangattungsform zurückweisen

    (vgl. Armstrong et al. 215). Sie argumentieren stattdessen, dass die Romanform in einem

    komplexen Nexus zwischen nationalen Expansionen und Begegnungen in den Kolonien

    entstanden ist und so nicht auf einen bestimmten Entstehungsort zurückweist, sondern

     viel eher das kolonialen Bewusstsein, und so auch die Identität der Kolonialmächte

     verändert hat: „the novel [was not] first and foremost a European genre, but rather one

    that simultaneously recorded and recoded the colonial experience“ (Ibid. 197). Der Roman

     war, und ist, anders ausgedrückt eine Erzählform, die zur (kollektiven) Identitätsbildung

     beiträgt. In dieser Funktion besteht aber auch, wie es aus Armstrongs und Tennenhouses

    22 Die Tradition der mu’âradah, ist auch eine durchgehend intertextuelle Poetische Form, wo eine Person einGedicht anfängt, welches von einer anderen weitergeschrieben wird (Roy 174). Weber schreibt dieser

    poetischen Schreibweise, wie wir noch sehen werden, immense Bedeutung in der Entfremdung der Sprachezu (Weber 185ff).

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    24

     Argument hervorgeht, die Möglichkeit der Veränderung von z.B. nationalen Identitäten

    durch Erfahrungen des Fremden.

    Ich sehe „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ nicht als ein Ausdruck

    der Romangattung. Dennoch sehe ich die Erzählung als mögliche Komponente einer

    nationalen Imagination, als ein zum Teil fremdes Element, das die nationale Identität neu

    kalibrieren kann. So verhalte ich mich zu Gattungen in der Erzählung im Sinne einer

    strategischen Anwendung. Damit meine ich, dass ich den Text weniger als zugehörig zu

    einer (oder mehreren) Gattungen klassifizieren möchte, als dass ich mich dort für

    Gattungen interessiere, wo sie eine eigentliche Auswirkung auf mein Lesen haben; da wo

    sie in erzähltechnischen Griffen eingebunden Anwendung in Erzählstrategien finden. Dies

     wird speziell dort interessant, wo die Schreibweise mit bekannten Gattungskonventionen bricht und sich so ein Fremdes in der Erzählung zeigt. Das Fremde wird sich dort, wie wir

    sehen werden, oft im Bekannten zeigen.

    Ein Verflechten von Märchen und Dramatik

    Im Folgenden soll das Argument verdeutlicht werden, wie die

    Gattungskonventionsbrüche zwischen Elementen von Märchen und Dramatik in „Karagöz

    in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ als Strategie zur Anregung von

    Identitätsreflexionen dienen können.

    „Es war einmal ein Dorf, das hatte einen Brunnen und ein grünes Minarett, von dem

    der Dorfhodscha fünfmal täglich den Ezan singt“ (Özdamar A 47). Mit diesem Anschlag

    der Erzählung werden verschiedene Spannungsverhältnisse in der Erzählung berührt. Zum

    einen lässt uns die einleitende Phrase an ein Märchen denken – eine Gattungskonvention,

    an die sich der weitere Erzählungsverlauf nur sporadisch hält. Zum anderen geschieht in

    diesem Satz ein Bruch im Tempus, indem vom Präteritum ins Präsens gewechselt wird. So

     wird auf einen konkreten Zustand hingewiesen, nämlich, dass am Anfang der Erzählung

    der Hodscha vom Minarett singt  und nicht sang. Dies symbolisiert eine Form von

    Einbettung des Geschehens in die Traditionen der Dorfgemeinde. Diese Traditionen

     werden durch die Märcheneinleitung „es war einmal“ in einen zeitlich nicht eindeutigen

    Zustand versetzt, der als eine mythische Form verstanden werden kann, da der Zustand

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    auf eine mystisch verankerte, aber unkonkretisierte Traditionsoriginalität hinweist: Es war

    einmal, so ist es immer gewesen und so ist es auch jetzt, in diesem Moment wo wir zu lesen

    anfangen. Spannend ist hier die Entwicklung der Geschehnisse, da diese verankerten

    Traditionen durch das Deutschlandabenteuer des Bauern verschoben und brüchig werden.

    Zunächst möchte ich nun einen Blick auf die Anlehnung an die Märchengattung

     werfen. Die Handlung eines Märchens ist traditionell zeitlich und räumlich unkonkret,

     welches von der zeitlich vagen Einleitung ‚es war einmal’ angedeutet wird. Die Charaktere

    sind stilisiert und werden meist aus Helden und Widersachern ausgemacht. Überdies

    kommen im Märchen traditionell magische Figuren vor (vgl. Rasmussen et al. 105). In

    „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ stoßen wir auch auf magische

    Figuren, wie z.B. die sprechenden Tiere, unter ihnen der Esel und der Löwe, und dieGrabsteine. Die Charaktere sind, wie wir noch im Detail sehen werden, auch stilisiert, z.B.

    in jenem Sinne, dass diese einige stereotype Vorstellungen zu rekonstruieren scheinen, so

    etwa den Stereotyp des Gastarbeiters. Zudem wird die unkonkrete Einleitungsform des

    Märchens zwar übernommen, jedoch finden wir im gleichen Satz Andeutungen auf einen

    konkreten Raum in einer konkreten Zeit. Wir ahnen so, dass wir uns in einem kleinen Dorf

    in einer islamisch geprägten Gegend befinden. Dazu deutet der Zustand, dass der

    Dorfhoodscha von dem grünen Minarett „den Ezan singt“, eine gewisse Aktualität desGeschehens an, die in der traditionellen Erzählform des Märchens nicht vorkommt.

    Bemerkenswert ist jedoch, dass es nicht eindeutig bei dieser Aktualität bleibt. Im

    nächsten Satz findet ein weiterer Tempuswechsel statt, der die Erzählung nun wieder in

    eine sprachlich unkonkretisierte Vergangenheitsform23 versetzt, in der sie danach auch

    hauptsächlich bleibt. Die Handlung hat, wie auch das traditionelle Märchen, einen

    kausalen kontinuierlichen Verlauf, ein Anfang und ein Ende. Es scheinen keine zeitlichen

    Sprünge vorzukommen. So kann die Handlung als Entwicklungserzählung in einem

    epischen Sinne beschrieben werden, der aber durch das Wiederauftauchen der Jugend des

    Bauern auch gebrochen wird.

    Im kontinuierlichen Zeitverlauf der Erzählung kommen zeitliche Selbstreferenzen

     vor, die auf das Vergehen einer Zeitspanne in der erzählten Zeit hinweisen.24 Z.B.

    23 Mit „sprachlich unkonkretisiert“ meine ich hier, dass sich die Vergangenheitsform auf keine bestimmteZeit bezieht. Es gibt ein „es war einmal“ statt eines „es war damals“.24

     Die „erzählte Zeit“ ist die Zeitspanne, von der in einem Narrativ erzählt wird, während „Erzählzeit“ auf die„Dauer des Lesens oder Erzählens“ eines epischen Werkes hinweist“ (von Wilpert 239).

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     verweisen „[e]s vergingen ein paar Monate“ (Özdamar A 67) und „[e]s gingen viele, viele

    Jahre vorbei“ (Ibid. 79) auf den zeitlich-kontinuierlichen Verlauf der erzählten Zeit. Diese

    Selbstreferenzen stellen aber selten einen Aktualitätsanspruch. Demgegenüber stehen

     Wendungen wie „[da] wurde es Dunkel“ und „[j]etzt war der Bauer“ (Ibid. 50f), die neben

    gestellten Aktualitätsansprüchen auch auf einen bestimmten Zeitpunkt in der erzählten

    Zeit hinzuweisen scheinen.

    In übertragenem Sinne sind derartige Aktualitätsansprüche auch in der

    Gattungsvermischung des epischen Märchens mit der Dramatik – nach aristotelischem

     Vorbild – wiederzufinden. Am Anfang dieser Arbeit wurde beschrieben, wie sich „Karagöz

    in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ intertextuell an das Karagöz-Schattentheater

    anlehnt und sich auf das fast gleichnamigen Theaterstück „Karagöz in Alamania“ bezieht, von dem es seine Dialoge meist direkt übernimmt. Die häufig vorkommenden

    Dialogszenen, die oft auch eine reine Form einnehmen – das heißt, dass Dialoge ohne

    erklärenden Zwischentext vorkommen (z.B. vgl. Özdamar A 68f, 73f) – vermischen das

     beschriebene märchenhafte Gattungselement mit der replikbezogenen Struktur eines

    Dramas (vgl. von Wilpert 187ff), die auch im Präsens gehalten, einen gewissen

     Aktualitätsanspruch stellt.

    Diese Ansprüche auf Aktualität im Geschehen zeigen sich auch in weiteren Bezügenauf das traditionelle Theater. In einem Theaterstück sind Szenen traditionell unter

    Unterüberschriften eingeteilt, unter denen einleitende Angaben stehen, die z.B. das

    Geschehen der Szene an einen bestimmten Ort versetzen, oder eine Stimmung

     beschreiben. Solche einleitenden Angaben tauchen in „Karagöz in Alamania Schwarzauge

    in Deutschland“ stellenweise im Text auf, etwa da, wo die Erzählung durch

    Unterüberschriften in Szenen eingeteilt ist. Unter der Unterüberschrift „URLAUB,

     WEINACHTEN, O TANNENBAUM“ (Özdamar A 74) – die direkt aus „Karagöz in

     Alamania“ übernommen worden ist (vgl. Özdamar B 26) – steht demzufolge:

    Bahnhof.

    Die Züge Fahren ab, die Züge kommen an. (Özdamar A 74)

    Zum einen ist der Ort des Geschehens damit spezifisch unspezifisch, wir befinden uns an

    einem Bahnhof, wissen aber nicht an welchem genau, Zum anderen wechselt die

    grammatikalische Zeit ins Präsens, während sowohl der davor- als auch der

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    dahinterstehende Text im Präteritum gehalten ist. Darüber hinaus erinnert dies an eine

    klassisch einleitende Angabe, von der aus ein Bühnentechniker die Kulisse aufbauen

    könnte (obwohl die Ausarbeitung von Kulissen von abfahrenden Zügen technische

    Schwierigkeiten bereiten könnte).

     Ähnlich können die Sätze gelesen werden, die mit „jetzt kam der Bauer“ und „da

     wurde es Dunkel“ angeben, wann genau ein Schauspieler auf die Bühne des Geschehens

    tritt, oder wann der Bühnentechniker das Licht auszumachen hat. Im auf die

    Erzählgattung übertragenen Sinne bedeutet dies, dass die Erzählungsstruktur einen

    selbstreferenziellen Rahmen in der Erzählzeit aufbaut, aus dem die Charaktere im

    Bewusstsein des Lesers immer wieder aktuell in die erzählte Zeit, und so in die Handlung,

    eingebettet werden. Damit wird der Fokus auf performative Elemente in der Erzählunggesetzt.

    So kann argumentiert werden, dass die Aktualitätsansprüche, die durch

    Tempusbrüche auf performative Elemente im ‚Hier-und-Jetzt-Geschehen’ der Erzählung

     verweisen, die erzählte Zeit zu transzendieren scheinen. So wird ein Aktualitätsanspruch

    im Präsens, im Hier und Jetzt, der Erzählzeit vorgebracht, der mit den dramatikbezogenen

    Gattungselementen in Verbindung zu stehen scheint. Der Leser wird also in seinem

    Erlebnis des Lesens latent gestört, welches wiederum seine Aufmerksamkeit fordert.Erinnern wir uns hier noch einmal an das, was Capone über Özdamars Sprachgebrauch

    schreibt, um auf diese Weise dem Ganzen vielleicht etwas näher kommen zu können. Sie

    schreibt, wie schon in der Einleitung zitiert:

    The structuring of recognizable and classifiable genres is replaced [...] by forms

    of perception and consciousness that go beyond mere non-formalization, in

     which the time of existence coincides with that of reading and/or writing.

    (Capone 243)

    In dem hier beschriebenen Argument, kann Capones Fokus auf die Gattungsvermischung

    dem Spiel mit den Tempusbrüchen und deren Auswirkung auf die Aktualität des

    performativen Elements zugefügt werden. Wichtig ist hier Capones Gleichstellung von der

    Zeit des Lesens mit der Zeit des Existierens – also in anderen Worten, eine Gleichstellung

    zwischen der Erzählzeit, also der Zeit des faktischen Lesens der Erzählung, und der Zeit

    des Lebens, also des historisch-individuellen Zeitrahmens in dem der Leser lebt. Damit

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     wirkt sich die Sprachbeziehung auf performative Elemente, die wir in der

    Gattungsvermischung finden auch auf die performative Identitätskonstruktion des Lesers

    aus. In anderen Worten findet eine Identitätskonstruktion in des Lesers Begegnung mit

    dem Text statt. Capone schreibt, in Bezug auf Özdamars Texte, dazu:

    In Özdamar’s writing the question of identity becomes an intellectual and

    existential challenge to constantly redefine oneself, and is connected to what

     we remember, to language and history (or histories) that we know. (Capone

    251)

    Die Identitätskonstruktion der Leser wird so durchs Lesen konstant mit der Fragen desPerformativen konfrontiert, die in den Texten – und auch in diesem Text – vorkommen.

    Identitätsauffassungen der cultural studies beziehen sich auf Identitäten als

    relationsbezogen und dynamisch (vgl. Lutter et al. 83ff). Hall schreibt dazu in „Old and

    New Identities, Old and New Ethnicities” (1997): „identities are never completed, never

    finished; […] they are always as subjectivity itself is, in process.” Und deshalb ist Identität

    “always in the process of formation” (Hall C 47). Es ist hier wichtig zu bemerken, dass, wie

    Hall es auch selbst in diesem Text erklärt, Identität immer im Plural gedacht werden muss,da sowohl die eigene Vorstellung der Identität, wie auch die Vorstellungen, die andere von

    einer Person haben, dessen Identität ausmachen.

     Alle Vorstellungen von Identität verändern sich stetig (vgl. Ibid.). Jedoch können, wie

    Richard Jenkins in Social Identity Second Edition (2004) anmerkt, einige Formen von

    Identitätsvorstellungen statischer, also robuster gegenüber Veränderungen sein, als

    andere. Diese Identitätstypen, die im sozialen Kontext des Aufwachsens konstruiert

     werden, nennt er „ primary identities“ und zählt zu ihnen gender – also

    geschlechtsbezogene –, territoriale und ethnische Zugehörigkeit (vgl. Jenkins 19). Wir

    könnten zu diesen primären Identitäten auch die Vorstellung der eigenen kontinuierlichen

    Identität fügen, die Vorstellung vom wahren Ich, welche Hall die Idee eines inneren Kerns

    nennt, mit dem man identisch sein kann (vgl. Hall C 42f).

    Das Argument ist hier, dass sich die Relationen der Identität auch auf das durch

     bspw. Literatur stimulierte, eigene Bewusstsein beziehen, in welches die

    Formationsprozesse dann verlagert werden. Es dreht sich hier also in erster Linie um die

    subjektive Vorstellung der eigenen Identität der Leser. Hier hat „Karagöz in Alamania

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    Schwarzauge in Deutschland“ das Potential – durch den unkonventionellen

    Gattungsgebrauch und das Hervorheben des Performativen – festgeschriebene

     Vorstellungen von Identität beim Lesenden in Frage zu stellen. Wenn diese Vorstellungen

    im eigenen Bewusstsein in Frage gestellt werden, bilden sie auch eine Reflexionsebene, die

    auf einen sozialen Kontext ausgeweitet werden kann. Diese Ausweitung wird durch die

    Thematik der Erzählung animiert, die sich etwa mit Stereotypen befasst, die, wie wir noch

    sehen werden, so karikiert dargestellt werden, dass sie sich selbst hinterfragen. Somit hat

    die Erzählung ein Potential im Bewusstsein der Leser die Narrative zu verändern, die den

    imaginativen Raum von Geschichtsschreibung und nationaler Zugehörigkeit ausmachen.

    So wird die eigene Identitätsstabilität, aber auch die der vorgestellten Gemeinschaft

    untergraben und in Frage gestellt. Ein solches Untergraben kann jedoch ein äußerst trägerProzess sein, da es sich bei diesen Infragestellungen um primäre Identitätsformen handelt,

     wie besonders die territoriale Zugehörigkeit der nationalen Identität.

     Wenn wir nun noch einmal auf die zeitliche Verknüpfung des „es war einmal“ mit der

    traditionellen Einbettung des singenden Dorfhodschas zurückkommen, können wir diese

    Reorientierung der Identitätsvorstellungen noch etwas näher reflektieren. Denn die

    Erzählung beginnt an einem Zeitpunkt, wo der Bauer sich noch zuhause in seinem

    türkischen Dorf befindet. Seine Identität ist noch in traditioneller Weise intakt, er ist eintürkischer Bauer in einem türkischen Dorf, welches sich in einem traditionellen Zustand

     befindet, denn der Dorfhodscha singt, wie er es immer getan hat. Dieser Zustand kann mit

    dem Modus der Geschichtserzählung gleichgesetzt werden, den Bhabha in „Narrating the

    Nation“ (1990) beschreibt: „Nations, like narratives, lose their origins in the myths of time

    and only fully realize their horizon in the mind´s eye” (Bhabha C 359). Wir sehen so in

    dieser Szene eine Form der Erzählung von Traditionen, die durch die märchenhafte

    Einleitung einen mythischen, zeitlich unkonkretisierten Charakter bekommt. Wir befinden

    uns in einem Zustand einer zeitlos vorgestellten kollektiven Identität der Dorfbewohner.

    Dieser Zustand wird jedoch durch das Weggehen des Bauern gebrochen. So leitet uns die

    Erzählung von einem zeitlich unkonkreten Zustand der mythischen Identitätsform in eine

    konkretisierte Zeit des ‚In-der-Fremde-Seins’ des Bauern, dessen Identität damit auf

     verschiedene Weisen radikal verändert wird. Er wird selber vom Bauern zum Arbeiter,

     wird für die Deutschen zum Gastarbeiter und in der Türkei zum Apfelkönig. Reziprok

     wirkt sich dieses ‚in der Fremde sein’ auch auf die Dorfgemeinschaft aus. Es wird durch

    das Auftauchen von modernen Apparaten eine Veränderung der Traditionen eingeleitet,

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    die in der Erzählung auf ironische Weise dargestellt wird. In dem Sinne wird die erzählte

    Zeit mit einer Zeit des ‚In-der-Fremde-Seins’ gleichgesetzt, welche sich auf die

    Identitätsformationen aller Beteiligten ausübt, und so auch den Leser zur Reflexion

    anreizt.

    In von Bhabha inspirierten Worten wird so der Horizont der mythischen Erzählung

    der traditionellen Identität im Bewusstsein des Lesers klar gezeichnet – es wird eine

    Grenze zwischen dem noch traditionellen Dorf und dem Anderen, dem deutschen Ausland,

    gezogen –, um danach überschritten zu werden, in dem der Bauer sich in die Fremde

     begibt und damit alles verändert. Der Darstellung dieser Veränderung will ich mich im

    nächsten Abschnitt zuwenden.

     Anlehnung an das Karagöz-Schattentheater

    Hier will ich die Annahme verfolgen, dass sich „Karagöz in Alamania Schwarzauge in

    Deutschland“ an dem traditionellen türkischen Karagöz-Schattentheater anlehnt. Ähnlich

     wie im Märchen sind die Figuren im traditionellen türkischen Theater, und so auch imKaragöz-Schattentheater höchst stilisiert, „in ihnen vollzieht sich keinerlei

    Charakterentwicklung, sondern es handelt sich bei den dargestellten Figuren stets um

    festgeschriebene, dem Publikum bekannte Typen mit charakteristischen Zügen“ (Boran

    42). In Kontrast zu Karagöz – den wir, mit Borans Worten, schon als bauernschlaue,

    impulsive, naive und gesellschaftskritische Figur beschrieben haben, die stets die

     bestehenden Ordnung kritisiert – finden wir im Karagöz-Theater auch Hacivat, der als ein

    opportunistischer Kleinbürger verstanden werden kann (vgl. Ibid. 50).

    Hacivat [ist] ein akademischer Typ, ein gebildeter Türke des alten

    Osmanischen Reichs, was auch sprachlich seinen Ausdruck findet. Er handelt

    überlegen und vernünftig, akzeptiert bestehende Ordnungen und hält sich, auf

    seinen eigenen Vorteil bedacht, an die moralischen Prinzipien und die Etikette

    der Oberschicht. Sein förmliches Auftreten, sowie seine vermeintliche Bildung

     verleihen Hacivat eine gewisse Glaubwürdigkeit; tatsächlich erweist sich sein

     Wissen jedoch für gewöhnlich als oberflächlich und realitätsfern. (Boran 50)

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    Zusammen stehen die beiden Hauptpersonen des Karagöz-Schattenspiels als „Spiegelbild

    der osmanischen Gesellschaft“ da (Boran 49). Sie treten in jeder Aufführung des

    Schattenspiels auf, wodurch die Handlung eng an die beiden Figuren gebunden ist. Neben

    ihnen treten auch weitere Figuren auf; so mitunter „Karagöz’ Ehefrau“, „Prostituierte“,

    „ethnische Typen“, „körperlich oder geistig behinderte“, „Künstlertypen“ sowie „Tiere und

    Gegenstände“ (Ibid. 50). Aber es ist der Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren, der

    dem Schattenspiel seine „politische Sprengkraft“ gibt (Ibid.).

    Die Themen des Karagöz-Schattenspiels sind meist, so schreibt Boran mit Bezug auf

    Parzakayra, „Parodien von Sitten, Gebräuchen und Berufen“, „soziale Satiren, die als

    Grundmotiv häufig Karagöz’ Arbeitsuche behandeln“ oder „parodistische Adaptionen vonallgemein bekannter Geschichten“ (Ibid. 53). Die Sprache ist hier kreativ und von

    Konventionen gelöst: „Als Charakteristikum aller Dialoge kann die Freiheit von allen

    logischen Zwängen, das heißt das freie Spiel mit Sprache und mit sprachlichen

    Konventionen gelten“ (Ibid. 52).

    Mit diesen Charakteristiken des Schattenspiels, liegt die Annahme nicht fern, dass

    sich „Karagöz in Alamania Schwarzauge in Deutschland“ bewusst an dieser Tradition

    orientiert. So scheinen die Thematiken des Schattenspiels in der Erzählung klar wiedergegeben: Wir scheinen es mit einer sozialen Satire zu tun haben, folgen Karagöz’

     Arbeitsuche und können die Erzählung auch als parodistische Adaption einer

    Gastarbeitererzählung auslegen. Der Sprachgebrauch, wie es noch eingehender

     beschrieben wird, ist unkonventionell, und es kommen sogar viele der traditionellen

    Schattenspiel-Charaktere in der Erzählung vor – etwa Karagöz’ Ehefrau, die ethnischen

    Typen, hier als andere Gastarbeiter wiedergegeben, Musiker und sogar Tiere.

    Jedoch kann hier keinesfalls von einer deckungsgleichen Übernahme der

    Charakteristiken des Schattenspiels die Rede sein, welches wir an den Hauptfiguren der

    Erzählung sehen können. Zwar erinnert der Bauer in seiner naiven Einfältigkeit sehr an

    die Beschreibung des Karagöz im Schattenspiel – z.B. sehen wir seine Einfältigkeit in jener

    Situation zum Ausdruck kommen, in der er nur knapp, gerade noch vom Esel gerettet,

    davon abkommt, dem „Urinverkäufer“ vor „der deutschen Vermittlungsstelle“ sein

    schlechtes Urin abzukaufen (Özdamar A 58) –, aber der Bauer weist auch durchaus

    Charakterzüge eines opportunistischen Kleinbürgers auf, welches besonders durch seine

    Charakterentwicklung zum Ausdruck kommt. Analog wirkt der Esel auf ersten Blick als

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    das exakte Gegenstück des Bauern Karagöz. Er kommt zwar auch aus ärmlichen

     Verhältnissen, wirkt aber stets als der gebildetere und klügere der beiden, welches auch

    aus der Szene mit dem Urinverkäufer hervorgeht, und auch in einer späteren Szene sucht

    der Bauer des Esels Rat, z.B. als es um das Verhältnis seiner Frau zu seinem Onkel geht

    (vgl. Ibid. 74). Dazu entstehen auch stetig Konfliktsituationen zwischen den beiden. So

    fangen sie schon zu Anfang ihrer Reise an, sich darüber auseinanderzusetzen, wer von

     beiden nun den anderen tragen soll (vgl. Ibid. 52), und am Ende zerstreiten beide sich, so

    dass der Bauer sogar den Esel schlägt (vgl. Ibid. 99). Dennoch ist aber auch der Esel keine

    stilisierte Figur und weicht auch in anderen Bezügen deutlich von der Hecivita Figur ab.

    Dadurch, dass besonders die genannten Hauptpersonen im Verlauf der Erzählung

    eine Entwicklung durchgehen, die bspw. den Bauern vom armen türkischenLandbewohner zum Gastarbeiter und Landbesitzer umwandelt, weicht die Erzählung

    schon stilistisch von den stilisierten Charakteren des Schattenspiels sowie des

    traditionellen Märchens ab. Die Entwicklung der beiden Hauptpersonen kann in gewisser

     Weise auf ihren Deutschlandaufenthalt, also auf die Zeit des ‚In-der-Fremde-Seins’

    zurückgeführt werden. Demnach ist die stärkste Veränderung des Bauern am Anfang der

    6. Szene so vermerkt:

    Es gingen viele, viele Jahre vorbei.

    Der Bauer kam mit seinem Esel aus Alamania.

    Der Bauer war nicht mehr zu erkennen. Die Hälfte seines Gesichts war

    gelähmt, weil die faschistischen Türken ihn geschlagen hatten. Statt seiner

    schönen Haare hatte er jetzt eine Glatze.

    Er trug eine Brille, einen Diplomatenkoffer und einen dunkelblauen Anzug.

    Sein Kopf war mit einer Bandage umwickelt. Sein Esel trug die alten Sachen

     vom Bauern, auch seine schöne rote Weste. Und er hatte eine Rote

    Trinkernase bekommen. Auf seinem Rücken schleppte er viele Geschenke.

    (Özdamar A 79)

    So erfahren wir am Anfang dieser Szene, dass in der erzählten Zeit viele Jahre

     vergangen sind, die der Bauer und der Esel – so müssen wir annehmen –

    hauptsächlich in Deutschland verbracht haben, aber nun in die Türkei

    zurückkehren Die immense Veränderung, die dem Bauern zugeschrieben wird, ist

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    hier vorläufig als physische Veränderung repräsentiert: Der Bauer trägt Spuren

    davon, dass er verprügelt wurde und trägt nun ein typisches Businessoutfit,

     bestehend aus Anzug und Diplomatenkoffer, während er seine ehemalige Kleidung

    dem Esel überlassen hat. Jedoch weißt diese äußere Veränderung auch auf eine

    Charakterveränderung hin. So wissen wir, dass der Bauer wegen seinen politischen

     Aktivitäten von den Faschisten verprügelt wurde, während seine Kleidung einen

    Karriereaufstieg assoziiert, der ihn durch ein erhöhtes Einkommen im Vergleich mit

    der heimischen Dorfbevölkerung als ökonomisch überlegen darstellt. Wir erfahren

    so auch in dieser Szene, dass der Bauer nun 50-mal so viel wert ist wie sein

    türkisches Gegenstück. So stehen wir vor einem Paradox in der

    Charakterentwicklung des Bauern. Auf der einen Seite richtet er sich politisch nachLinks aus, während er auf der anderen Seite langsam zum Großgrundbesitzer wird,

    der in der Türkei sein Geld für sich arbeiten lässt. In Deutschland gehört er, in

    Herberts Worten, zum Subproletariat, während er in im türkischen Dorf nun als

    Kapitalist dasteht. Ganz am Ende der Erzählung hat er eine Plantage von 1000

     Apfelbäumen angebaut, die ja auch irgendwie betrieben werden muss. Wir können

    nur annehmen, dass dies von türkischen Bauern verrichtet wird, die 50-mal, später

    sogar 125-mal, weniger verdienen als er. Dies widerspricht den vom Esel gelesenenLehren von Marx, die den Mehrgewinn an produktiven Prozessen den Arbeitern

    zuschreiben und nicht den Kapitalisten. So steht der Bauer hier selbst in gewisser

     Weise als Hacivat da, dessen Bildung – also seine sozialistische Ausrichtung – am

    Ende doch als hohl und unglaubwürdig dasteht. Gleichzeitig steht er aber auch als

    Karagöz des Schattenspiels da, indem er die alten Ordnungen – hier die alten

    Ordnungen des Dorfes, denn in diesem Kapitel folgt auch die schon beschriebene

    Geschenkverteilung – umwirft.

    Im Sinne eines Umsturzes der bestehenden Ordnung, steht hier der Esel als

    Hacivat-Figur da. Er ist der Traditionalist, der des Bauern alte Kleidung trägt,

    mitunter seine alte Weste. Da Westen im Osmanischen Reich als Kleidungsstücke

    sehr verbreitet waren, weißt der Esel so auf die osmanischen Traditionen hin, die

    Hacivat vertritt. Auch sehe ich in diesem Festhalten an das Alte eine gewisse

    Melancholie zum Ausdruck kommen, mit der ich mich am Ende dieser Arbeit noch

     beschäftigen werde. Neben der Rolle des Traditionalisten, verkörpert der Esel hier

     jedoch auch immer noch das lastenschleppende Hilfstier, eine Rolle aus dem der

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    Esel nie richtig herauskommt.25 Analog kommt der Bauer auch nicht aus seiner

    Bauernrolle heraus, indem er stur ‚der Bauer’ genannt wird. Auf diese

    Festschreibung werde ich auch noch später zurückkommen.

    So sehen wir, dass sowohl der Bauer wie auch der Esel nicht eindeutig in das

    Schema des Karagöz-Schattenspiels hineinpassen. Sie durchgehen beide

    Charakterentwicklungen, die auch stellenweise durch die genannten Widersprüche

    zum Ausdruck kommen. Es ist hier das ‚In-der-Fremde-Sein’ welches diese

    Entwicklungen herbeiführt. Aber es scheinen genau diese Widersprüche zu sein, die

    den Charakteren eine gewisse Tiefe geben, die auch die Gesellschaftskritik in der

    Erzählung raffinierter ausfallen lässt, als dies eine bloße Parodie umzusetzen

     vermag.So kann man die Erzählung als Verlagerung der Charaktere des traditionellen

    Karagöz-Schattenspiels in einen modernen Migrationskontext verstehen. In

    gewisser Weise gibt sie in diesem Sinne den deutschen Lesern einen latenten

    Einblick in ein türkisches Kulturphänomen, welches auf der einen Seite fremd, auf

    der anderen Seite aber auch sehr bekannt wirkt. Das Bekannte liegt zum einen in

    der Verlagerung, denn die Erzählung spielt zu einem großem Teil in der

    Bundesrepublik und bezieht sich auf das in Deutschland bekannte Phänomen derGastarbeiter. Dazu kommt zum anderen, dass auch die Kulturtradition, von der das

    Schattenspiel stammt, in einem deutschen Kontext gar nicht dermaßen fremd ist.

    Zwar unterscheidet sich das Schattenspiel auf verschiedene Weisen vom klassischen

    aristotelischen Theater – es kennt z.B. nur die Komödie, also nicht die Tragödie,

    und es hat keine eigentliche Bühne und so nur den entfremdenden „verweisenden

    Charakter“ der Schatten (Boran 42) –, aber es hat auch mehrere Gemeinsamkeiten

    mit dem ‚westlichen’ Theater, sowie mit ‚westlichen’ Erzähltraditionen. Die