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  • 7/26/2019 rg20_018duve

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    Zeitschrifdes Max-Planck-Instituts fr europische RechtsgeschichteJournal of the Max Planck Institute for European Legal History

    RechtsRggeschichte

    RechtsgeschichteLegal History

    www.rg.mpg.de

    http://rg.rg.mpg.de/Rg20 Rg202012 18 71

    Thomas Duve

    Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einerRechtsgeschichte Europas in globalhistorischer

    Perspektive

    Dieser Beitrag steht unter einer

    Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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    Zusammenfassung

    Mit der Europischen Rechtsgeschichte verfgtdie Rechtsgeschichte seit vielen Jahrzehnten bereine Tradition transnationaler rechtshistorischer

    Forschung. Sie wurde von deutschsprachigen Wis-senschaflern der Vor- und Nachkriegszeit geprgt Emil Seckel, Paul Koschaker, Franz Wieacker,Helmut Coing und stand im Kontext des west-europischen Nachkriegsprojekts. Noch heutebauen wir auf ihren groen Leistungen auf. Sie

    war, wie alle Geschichtswissenschaf, Teil einesProzesses der gesellschaflichen Selbstverstndi-gung ber die eigene Identitt und zeichnete dasBild einer distinkten europischen Rechtskultur.

    In den letzten Jahren sind im Zuge der Dis-kussion um postkoloniale Perspektiven auf die

    Geschichte, um Transnationale und Global-geschichte, viele Grundlagen der traditionellenEuropahistoriographie kritisiert und massiv er-schttert worden. Das wirf Fragen auch an dieEuropische Rechtsgeschichte auf: Welches Euro-pabild liegt ihr zu Grunde? Auf welchen intellek-tuellen und konzeptionellen Grundlagen beruhtsie? Wie antwortet sie auf die Vorwrfe des Euro-zentrismus, des epistemischen Kolonialismus, wieauf die Forderung, Europa zu provinzialisieren?Wie definiert sie das Verhltnis der Europischenzur Transnationalen und Globalen Rechtsgeschich-te? Diesen und hnlichen Fragen wenden sich diefolgenden berlegungen zu. Der Schwerpunktliegt auf einer Auseinandersetzung mit der Tradi-tion, ihren konzeptionellen Grundlagen und deren

    wissenschafshistorischem Kontext (1. Teil, 1.6.).Aus dieser kritischen Bestandsaufnahme und denErgebnissen der Debatte um Globalgeschichte er-geben sich Ausgangspunkte und Aufgaben einer inVielem auf den Leistungen der Disziplin auau-enden, doch notwendigerweise auf einer anderenKonzeption beruhenden Rechtsgeschichte Europasin globalhistorischer Perspektive (2. Teil, 7.11.).

    Abstract

    For decades, European Legal History has beena strongfield of scholarship on the history of law ina transnational perspective. It has been shaped

    especially by German-speaking scholars such asEmil Seckel, Paul Koschaker, Franz Wieacker,and Helmut Coing, and it was set up in the contextof European post-war projects of political integra-tion.To this day, we build upon this tradition. Likeall historical scholarship, European Legal History

    was part of a broad communicative process ofidentity-building. It depicted European Legal Cul-ture as something clearly distinct from other tra-ditions.

    In the last years though, postcolonial studiesand scholars engaged in Transnational and Global

    History criticized harshly the very fundaments ofEuropean historiography. Thus, European LegalHistory faces serious challenges regarding someof its fundamental assumptions: What was itsunderlying vision of Europe? What are its intellec-tual and conceptual foundations? How does itaddress allegations of Eurocentrism and epistemiccolonialism? How does it respond to the postula-tion of a necessity to provincialize European his-tory? How do we define the relationship ofEuropean to Transnational and Global Legal His-tory? These and other related questions will beaddressed by the following considerations. They

    will focus on a critical review of the academictradition on European Legal History, its concep-tual foundations and its historical context (1. Part,1.6.). As a result of this critical assessment, andtaking into account findings of the debate onGlobal History, I present an outline of some start-ing points and possible assignments for a LegalHistory of Europe in Global Historical Perspective,

    which can build upon some results of the tradition,but has to be conceptualized necessarily in a dier-ent way (2. Part, 7.11.).

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    Thomas Duve

    Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einerRechtsgeschichte Europas in globalhistorischerPerspektive 1

    Selten ist so viel ber Europa geschrieben wor-den wie in den vergangenen Monaten. Die In-kongruenz zwischen wirtschaflicher und politi-scher Integration in der EU und die angesichtsder globalen Verflechtungen deutlich werdendeBegrenztheit des staatlichen und zwischenstaat-lichen Steuerungspotentials lassen grundlegendeFragen nach der Zukunf Europas auommen:Wie soll es auch im Blick auf die neuen politi-

    schen und wirtschaflichen Gravitationszentren inder Welt mit dem Projekt Europa weitergehen?Wollen wir mehr Europa oder weniger? Was be-deutet uns Europa, was ist es uns wert?

    Diese Fragen werden umso wichtiger, als man-che Historiker in den Ereignissen der letzten Jahrenur Epiphnomene massiver Verschiebungen inder Tektonik der Weltgeschichte sehen. Man dis-kutiert nach der Selbstgewissheit des Rise of theWestin den 60er Jahren nun darber,Why the Westrules for now und diagnostiziert das Ende derGreat Divergence, einer jahrhundertelangen politi-schen, kulturellen und konomischen HegemonieEuropas und des Westens ber den Rest der Welt.2

    Nationalismen erhalten Aufrieb und Weltregio-nen werden in Frontstellung gebracht: Westengegen Osten, Asien gegen Europa, Nord gegenSd. In diesem Klima blhen Appelle an dieeuropische Identitt trotz aller schon seit langerZeit vorgebrachten Skepsis, worin diese denn lie-gen soll, und ungeachtet aller Warnungen vorReduktionismen, Essentialismen und Identitts-fallen.

    Ein wichtiges Element der diskursiven Selbst-verstndigung ist die Vorstellung einer spezifischeuropischen oder auch westlichen Rechtskultur,Ergebnis einer langen gemeinsamen Geschichte.Die Rechtsgeschichte wird so zu einer Legitimi-ttsressource im europischen Orientierungsdis-kurs. Die Art, wie wir Europische Rechtsgeschich-te schreiben, ist kein akademisches Glasperlenspiel.Sie formt, natrlich zusammen mit einer Flle

    anderer Faktoren, unser Bild von uns selbst und von der of gerade als ganz anders begrienenWelt.History matters. Historiography does, too. 3

    Wie steht es aber um diese Europische Rechts-geschichte? Welches Europabild liegt ihr zu Grun-de? Auf welchen intellektuellen und konzeptio-nellen Grundlagen beruht sie? Wie verhlt sie sichzum Rest der Welt? Wie antwortet sie auf dieVorwrfe des Eurozentrismus, des epistemischenKolonialismus, wie auf die Forderung, Europazu provinzialisieren? Wie definieren wir das Ver-hltnis der Europischen zur Transnationalen undGlobalen Rechtsgeschichte? Braucht auch dieRechtsgeschichte Europas Alternativen zu einereuropischen Geschichte als Geschichte abend-lndischer Wertemobilisierung und abgrenzenderIdentittsverweigerung4 und wie knnten sol-che Alternativen aussehen? Stimmt es auch fr uns,dass [t]here is no good European history withoutnon-European histories? 5 Mssen auch wir uns

    vorhalten lassen, dass wir unsere Rechtsgeschichtenach dem Motto schreiben: Good things are ofEurope; bad things merely happen there? 6

    1 Einige berlegungen, die in diesenText eingeflossen sind, habe ich inden vergangenen Monaten in Frank-furt, Zrich, Wien, Peking, LimaundBrasilia sowie auf der Sitzung desFachbeirats des Max-Planck-Institutsfr europische Rechtsgeschichte imMai 2012 vortragen knnen. DieDiskussionen sowie natrlich auchdie Gesprche im Institut selbst ha-ben mir zahlreiche wichtige Anre-gungen gegeben, fr die ich allen

    Beteiligten danke. Eine inhaltlichweitgehend identische Fassung diesesAufsatzes stand alspreprintauf derSSRN-Seite des Max-Planck-Institutsfr europische Rechtsgeschichte(http://www.ssrn.com/link/Max-Planck-Legal-History-RES.html) abSeptember 2012 zurVerfgung unterhttp://ssrn.com/abstract=2139312.

    2 McNeill(1963),vgl. aber McNeill(1990); Morris(2010); Pomeranz(2000).

    3 Clavero(2005), 49.4 Osterhammel(2004), 181.5 Clavero(2005), 46.6 Heffernan(1998), 3.

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    Diesen und hnlichen Fragen wenden sich diefolgenden berlegungen zu. Sie sind der Versucheiner Vergewisserung ber die Grundlagen, aufdenen wir bei unserer Arbeit an einer Europ-ischen Rechtsgeschichte stehen und eine Skizze

    von Ansatzpunkten und Aufgaben einer von dieserTradition in mancher Hinsicht abweichendenRechtsgeschichte Europas in globalhistorischerPerspektive. Sie konzentrieren sich auf die Rechts-geschichte der Neuzeit und Moderne, knnen

    wegen der Vielzahl der anzusprechenden Themenblo schlaglichtartige Hinweise auf Literatur ge-ben, mssen sicher um viele Perspektiven ergnzt

    werden und sind im besten Fall bald durch einebreitere Debatte berholt. Eine solche scheint mirallerdings dringend erforderlich eine Diskussionber die Art, wie wir heute eine Rechtsgeschichte

    Europas als Globalregion schreiben knnen.Um das Verstndnis zu erleichtern, mchte ichbereits am Anfang den Gedankengang skizzierenund einige mir wichtig scheinende Ergebnisse

    vorausschicken. Der Schwerpunkt liegt auf einerAuseinandersetzung mit der Tradition, ihren kon-zeptionellen Grundlagen und deren wissenschafs-historischem Kontext (1. Teil, 16); ich versuchehier gewissermaen Wissenschafsgeschichte inemanzipatorischer Absicht nicht aus Lust ander Kritik, sondern um der Freilegung mancher,uns kaum bewusster, jedenfalls in ihrer Tragweite

    wohl nicht erkannter Pfadabhngigkeiten willen.Aus dieser kritischen Bestandsaufnahme ergebensich auch die Ausgangspunkte und Aufgaben einerin vielem auf den Leistungen der Disziplin auau-enden, in mancher Hinsicht aber gerade nicht andie Tradition anknpfenden RechtsgeschichteEuropas in globalhistorischer Perspektive (2. Teil,711).

    Im ersten Teil versuche ich, auf der Grundlageeiner bersicht ber einige Stationen der Diszi-plingeschichte (1) und wichtige Vernderungendes wissenschaflichen Umfeldes (2) das Europa-bild der Europischen Rechtsgeschichte (3) sowie

    dessen konzeptionelle Grundlagen zu rekonstruie-ren. Das geschieht besonders am Werk von Hel-mut Coing (4), mit einem kurzen Exkurs zu FranzWieacker (5); der Abschnitt zu Helmut Coing magetwas berdimensioniert scheinen, doch in ihmsoll eine wichtige verschttete Gabelung desPfades freigelegt werden, auf dem die Disziplinbis heute weitergeht.

    Das Ergebnis der Bestandsaufnahme ist, dass dervon Coings Generation geprgte Europabegri fr

    einen analytischen Zugriauf eine nationale Gren-zen berschreitende Rechtsgeschichte heute unge-eignet ist; deswegen knnen wir auch nicht einfachdie Europische Rechtsgeschichte in den gewohn-ten Bahnen weitererzhlen. Beide sein Europa-

    begriund seine Konzeption der Disziplin beru-hen auf epistemologischen Voraussetzungen, dienicht mehr konsensfhig sind, entstammen einemzeithistorischen Kontext, der nicht mehr der unse-re ist, knnen wichtige Ergebnisse der Forschungder letzten 50 Jahre nicht verarbeiten, fhren inAporien hinein und sind heuristisch nur begrenztfruchtbar. Wir verdanken der auf dieser Grundlagedurchgefhrten Forschung viele wichtige Einsich-ten und nicht zuletzt die Existenz des Max-Planck-Instituts fr europische Rechtsgeschichte. Trotz-dem mssen wir uns auf die Suche nach anderen

    konzeptionellen Grundlagen machen, insbesonde-re auch dazu, wie wir die analytischen Bezugs-rahmen unserer Forschung bestimmen (6).

    Was kann aber an die Stelle der traditionellenEuropischen Rechtsgeschichte treten, an ihre Er-gebnisse anknpfen und diese transnationaleRechtsgeschichte fortfhren? Im zweiten Teil(711) mchte ich Ausgangspunkte und Aufgabeneiner Rechtsgeschichte in globalhistorischer Per-spektive benennen, die sich ohne vorherige Fest-legung des Raumes ihrer Beobachtung fr Prozesseder Herausbildung von Normativitt interessiert,deren Bedingungen rekonstruiert und im Ver-gleich dieser Einzelbeobachtungen flexible analy-tische Bezugsrahmen bildet. Sie stellt aus meinerSicht nicht nur einen methodisch kohrenterenAnsatz dar als die Europische Rechtsgeschichte.Sie drfe uns auch in die Lage versetzen, unsereForschung zu historischen Translationsprozessen

    von Normativitt methodisch zu schrfen undbesser in die lebendigen Debatten um die recht-liche Ordnung einer globalen Welt einzubringen.

    Eine solche Rechtsgeschichte bedeutet auchnicht den Abschied von der Beschfigung mitEuropa. Im Gegenteil: Sie wird sich mit groem

    Ertrag den Regionalisierungsprozessen und The-men zuwenden, die jedenfalls auch Europa betref-fen denn der europische Raum ist als solcher,aber auch wegen seiner imperialen und kolonialenAusdehnung ber die Grenzen des Kontinentshinweg ein gewaltiger Erfahrungsraum fr eineFlle von historischen Regulierungsphnomenen,die fr die ZukunfEuropas und zugleich in denDebatten um die Weltgesellschaf immer wichtiger

    werden drfen. Erst indem sie uns von einer

    Recherche research

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    identifikatorischen und teleologischen Rechtsge-schichtsschreibung weg- und zu einer Rechtsge-schichte der Europisierung hinfhrt, ernet eineRechtsgeschichte Europas in globalhistorischerPerspektive uns einen historischen Zugang zu

    und damit auch das Verstndnis fr die gewaltigeKonstruktionsleistung, die hinter dem europ-ischen Projekt steht. Nur durch eine solcheglobalhistorische Perspektive knnen wir auchdie selbstkritische Reflexivitt organisieren, diegerade fr eine Rechtsgeschichte Europas als Glo-balregion besonders ntig ist: Denn eine ihrergrten Herausforderungen liegt darin, Europasber weite Strecken der neueren Geschichte nuneinmal zentralen Rolle, seinem im Vergleich zuanderen Globalregionen festgestellten Sonder-

    weg, historiographisch gerecht zu werden, ohne

    dabei in einen epistemischen Eurozentrismus zuverfallen. Die in diesem Zusammenhang ofgenannte Vorstellung von einer Europisierungder Welt in der Neuzeit und die Forderung,Europa zu provinzialisieren, sind keineswegsunvereinbar. Sie bezeichnen vielmehr ein Span-nungsfeld, in dem jede Rechtsgeschichte Europassich bewegen muss. 7

    Die einer solchen reflektierten Rechtsgeschichtein globalhistorischer Perspektive zugrundeliegen-den Forschungsrume und Bezugsrahmen knnen anders als in der Tradition der EuropischenRechtsgeschichte allerdings nicht der Ausgangs-punkt, sie mssen vielmehr das Ergebnis derForschung sein. Sie ist damit auch, aber ebennicht allein Rechtsgeschichte Europas. Manchedieser historisch variablen, unscharfen und viel-leicht auch ganz unterschiedlich konturiertenGeschichtsregionen mgen koextensiv mit einemgroen Teil dessen sein, was wir heute Europanennen. Doch viele Rume, die wir auf diese Weisein die Weltkarte der Rechtsgeschichte einzeichnen,

    werden viel kleiner sein als Europa, den RaumEuropas berlagern, schneiden, kreuzen oderauch weit ber ihn hinausgehen. Manche werden

    geradezu nur aus einem Netz von Punkten beste-hen, nicht ganze Flchen ausfllen, wie wir es von

    unseren neuzeitlichen Landkarten und deren Ret-roprojektion in die Vergangenheit gewohnt sind.Das Bild von Europa drfe damit erheblich diu-ser werden. Positiv gewendet heit dies: Es wirdkomplexer, berwindet seinen intellektuellen Iso-

    lationismus, net sich fr die globalen Kontexteseiner historischen Existenz. Es entsteht so das Bildeiner Globalregion, deren Grenzen nie eindeutig

    waren und deren Identitt nicht auf ein paarpositive, das jeweilige Selbstbild sttzende Merk-male reduziert werden kann.

    Die Ausgangspunkte einer solchen Rechtsge-schichte Europas als Globalregion lassen sich dabeisogar noch recht leicht herleiten viel schwieriger

    wird die Przisierung und Umsetzung. Ich mchtein diesem Beitrag vier Ausgangspunkte zur Dis-kussion stellen. Erstens: Da die Kommunikation in

    der Neuzeit und Moderne nicht mehr an einenRaum rckgebunden war, kann der Bezugsrahmeneiner solchen Rechtsgeschichte nur ein globalersein (7). Zweitens: Da wir von einem erfahrungs-

    wissenschaflichen Rechtsbegri ausgehen ms-sen, der die Rechtserzeugung durch die Akteurein den Mittelpunkt stellt, gilt das Gebot einerPriorisierung des Lokalen (8). Drittens: Fr diedamit besonders wichtig werdenden Beobachtun-gen lokaler kultureller Praxen stehen uns inzwi-schen einige, in den letzten Jahrzehnten vonSozial- und Kulturwissenschafen entwickelte Heu-ristiken zur Verfgung, auf die wir zugreifen ms-sen, wenn wir uns nicht unterhalb der wissen-schaflichen Standards unserer Nachbardiszipli-nen, insbesondere der Kulturwissenschafen, bewe-gen wollen; mir scheint in diesem Zusammenhangfr die Rechtsgeschichte das im Kontext der Cul-tural Translation diskutierte Methodenset beson-ders vielversprechend (9).Viertens: Fr die Bildunganalytischer Bezugsrahmen wird die wichtigsteHerausforderung in der Verbindung von Verflech-tungsgeschichte und einer dezentralen Typenbil-dung liegen (10).

    Am Schluss (11) wird hoentlich deutlich ge-

    worden sein, da wir bei vielen Einzelbeobachtun-gen auf die groen Forschungsleistungen der Dis-

    7 Vgl. Sachsenmaier(2007); Dirlik(2002). Zum europischen Sonder-weg aus dem deutschen Sprachraumvor allem der sich allerdings aufdas Mittelalter konzentrierendeMitterauer(2003), also den Grund-lagenraum des spteren Europa,

    sowie die an ihn anschlieende Dis-kussion, etwa bei Herbers(2007);Kuchenbuch(2006). Internationalund fr die Neuzeit drfe inzwi-schen vor allem Pomeranz(2000) derBezugspunkt einer breiten Debattesein. Zur rechtlichen Sonderstellung

    und der Europisierung der WeltHeadley(2008) und die Zusammen-fassung derDebattebei Hiery (2007).Von einem aufgeklrten, selbstkri-tisch reflektierten Eurozentrismusspricht Reinhard(2010), 34.

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    ziplin zurckgreifen knnen und doch einengrundlegenden Perspektivenwechsel in der Wahr-nehmung des Verhltnisses zwischen Europa unddem Rest der Welt vollziehen mssen. Eine anEuropa interessierte Rechtsgeschichtswissenschaf

    kann heute nicht mehr eine vom Zentrum Europaausgehende Diusions- und Wirkungsgeschichteschreiben und die Welt aus vom europischenDenken geformten Kategorien zu begreifen ver-suchen. Sie muss eine dezentrale Rekonstruktion

    von lokalen Rechtsfindungen und deren Bedin-gungen leisten. Das mag eine kritische Revisionauch mancher Selbstverstndlichkeiten nach sichziehen, mit denen wir unsere eigene EuropischeRechtsgeschichte schreiben und unter deren Ein-fluss auch andere Regionen ihre Rechtsgeschichtengeschrieben haben; auch werden wir uns fr The-

    men nen mssen, die bisher nicht im Mittel-punkt unseres Interesses standen. Doch nur sodrfe der Blick ber Europa hinaus uns nichtnur in die Lage versetzen, unseren natrlich inseiner Bedeutung nicht zu berschtzenden, aberauch nicht gnzlich unwichtigen Beitrag zurReflexion ber einige der groen Fragen derGestaltung der Zukunf der normativen Ordnungin einer globalen Welt zu leisten, sondern viel-leicht auch unser Bild von uns selbst ein wenig

    verndern.

    1. Teil EuropischeRechtsgeschichte Aporien undArchologie einesKonzepts

    1 Die Europische Rechtsgeschichte nochimmer ein Projekt?

    Ich beginne mit einem einfhrenden Blick aufdie uere Disziplingeschichte seit der Nachkriegs-zeit und setze bei Helmut Coing an. 8 Er httein diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. 9

    Vor knapp 50 Jahren, 1964, nahm er den Ruf zum

    Grndungsdirektor des Max-Planck-Instituts fr

    europische Rechtsgeschichte an. 10 Es sollte ur-sprnglich Institut fr vergleichende Rechtsge-schichte heien, begegnete als solches aber Beden-ken, gab es doch schon universitre Institute mitdiesem Namen. Die Bezeichnung als Institut fr

    europische Rechtgeschichte bot einen Ausweg.Auch Coings Vorstellung kam sie entgegen, und er

    war Wissenschafspolitiker genug, um die Vorteileeiner solchen Benennung zu sehen. Wie vieleseiner Kollegen aus dem Umfeld des FrankfurterOrdoliberalismus war er berzeugter Europer, eslag nahe, die europische Integration vom Privat-recht her zu begreifen. 11 Coing selbst hatte sichschon frh auf dessen Geschichte konzentriert, vorallem zur Rezeption gearbeitet, hatte aber auch

    wirtschafs- und bankrechtliche Interessen undstellte seine rechtshistorische Forschung nun dezi-

    diert in einen europischen Rahmen. In den nchs-ten Jahren etablierte sich Frankfurt als zentralerOrt der Forschungen zur Europischen Privat-rechtsgeschichte. Es sollte, so hote Coing, nurein Anfang sein die Arbeit des Instituts sollspter auch auf das entliche Recht ausgedehnt

    werden, hob er bei einem Festakt zur Einweihungdes neuen Institutsgebudes 1968 hervor. 12

    Coing konnte an manche Vorlufer anknpfen:die lebendige italienische Romanistik der 30er

    Jahre; medivistische Forschungen wie die EmilSeckels oder Erich Genzmers, der seine Arbeit inden 50er Jahren ebenfalls in einen europischenHorizont gestellt hatte, 13 Paul Koschakers Europaund das rmische Recht sowie die daran anschlie-ende Diskussion; 14 das europische, letztlich aberunter starkem deutschen Einfluss stehende Pro-jekt desIus Romanum Medii Aevi, IRMAE. 15 berallem schwebte, natrlich, das Werk Savignys.

    Manches, was sich nun, in den 50er und 60erJahren, als Pldoyer fr ein friedliches und einigesEuropa las, hatte in den 30er Jahren durchausandere Frbungen gehabt. 16 Auch gab es verein-zelt Kritik am Konzept. In der Gedchtnisschriffr Koschaker hatte der spanische Romanist und

    Rechtsphilosoph Alvaro DOrs die germanische

    8 Ein hervorragendes Gesamtbild derRechtsgeschichtswissenschafsge-schichte der Nachkriegszeit zeichnetOgorek(1994).

    9 Zu seinem Leben und Werk imberblick m.w.N. vor allem Luig(2007); Nrr(2001).

    10 Zur Grndungsgeschichte Schfer(2009).

    11 Zur Nhe von Recht und National-konomie Coing selbst, Coing(1992).

    12 Coing(1968), 341.13 Genzmer(1953, 1958, 1961).14 Koschaker(1947), vgl. etwa die Ge-

    dchtnisschrifLEuropa e il DirittoRomano(1954).

    15 Visscheret al. (1961).

    16 Vgl. Koschaker(1938); dazu Simon(1989), Giaro (2001), einen Eindruckvon der Hefigkeit der Debatte gibtdie Rezension eines Buches vonGiarodurch Sturm(2003); zum Hinter-grund das rmische Recht im NS vgl. m.w.N. Landau(1989).

    Recherche research

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    Prgung des Blicks auf Europa kritisiert, ihm wardie Ausrichtung auf Europa ohnehin zu eng, 17

    ging es ihm doch nicht um ein ius europaeum, dasein detestable separatismo sei, sondern um einius oecumenicum, womit er ein in jedem Sinne

    katholisches Naturrecht meinte, mit Rom im Zent-rum, ein Faden, an dem heute zum Teil unter demTitelThe New Global Lawweitergesponnen wird. 18

    Doch mit der Institutsgrndung konsolidiertesich die von der romanistischen und medivisti-schen Forschung geprgte Vorstellung der Europ-ischen Rechtsgeschichte, sie wurde weiterhin ausDeutschland und in nicht geringem Mae aus

    deutscher Perspektive geschrieben als Geschichtedes ius commune, mit eher geringem Anteil desius canonicumund deutlicher Ausrichtung auf dieGestaltung eines europischen Privatrechts. Sie ver-stand sich nicht allein, aber auch als applikativ, das

    traf sich mit dem historischen Denkstil der wirt-schaflichen und politischen Akteure, die durchausInteresse an dieser historischen Dimensionierungihrer Arbeit hatten kein geringerer als WalterHallstein, bis 1967 Prsident der EWG-Kommis-sion und eine der zentralen Gestalten des euro-pischen Integrationsprozesses, in den Nachkriegs-jahren erster Frankfurter Universittsrektor, wurde

    17 DOrs(1954), 475: Yo creo que Ko-schaker, como en general todos losautores alemanes, tiene una visindemasiado germnica de lo europeo[] El centro de Europa ser siempreRoma, pero no por ser la Urbs, sinopor ser el centro de la Cristiandad ydel Orbe todo.

    18 DOrs(1954), 476; Domingo(2010).

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    22 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

    Abb. 1: Europa und die Rechtsgeschichte

    Fritz Schwind, Helmut Coing, Walter Hallstein beim Festakt anlsslich der Einweihung des neuen Institutsgebudes imFestsaal der Berliner Handels-Gesellschaf, Frankfurt, 14. Mai 1968.

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    Kuratoriumsvorsitzender des neuen Instituts. Tref-fend brachte die FAZ den schon damals gezogenenBogen von der Vergangenheit in die Zukunf inder berschrif ihres Berichts ber den Festakt zurEinweihung des neuen Institutsgebudes man

    traf sich in den Rumen einer angesehenen Privat-bank, der spteren BHF-Bank auf den Punkt:Ein modernes Recht fr Europa schaen. 19

    Auch in anderer Hinsicht ist der Festakt auf-schlussreich, zeigt sich an ihm doch recht ein-drcklich das Bild, das man sich von der Euro-pischen Rechtsgeschichte machte. Neben zahl-reichen Vertretern aus Deutschland und derSchweiz sowie einem Reprsentanten der SeldenSocietywrdigten Franois Dumont und Jean Gau-demet aus Paris, Bruno Paradisi aus Rom, JohnGilissen aus Brssel, Robert Feenstra aus Leiden

    das Projekt.20

    Besser als durch diese Redner liesich die Vorstellung der Konturen einer europ-ischen Rechtsgeschichte wohl kaum reprsentie-ren, schien es doch damals so Franz Wieacker inseiner gerade in 2. Auflage erschienenen Privat-rechtsgeschichte kein zu gesuchtes Bild, wennman sagt, Holland habe die Fackel der groenRechtswissenschaf unserem Lande weitergereicht,die einst in Italien entzndet wurde und von dortnach Frankreich und weiter nach den Nieder-landen gewandert war. 21 In Deutschland hattedie Fackel, so mag man das Bild fortsetzen, im19. Jahrhundert ihr Ziel gefunden, an die deut-schen Universitten waren Juristen aus der ganzenWelt gepilgert, die Historische Schule, die antik-rechtlichen und medivistischen Forschungenund die Pandektenwissenschaf hatten der deut-schen Rechtswissenschaf einen herausragendenPlatz gegeben. Mit dem von Coing herausgege-benen Handbuch der Quellen und Literatur dereuropischen Privatrechtsgeschichte, seinen vielspra-chigen Publikationen zu Programmatik undGrundfragen der europischen Rechtsgeschichte,nicht zuletzt seiner kompakten zweibndigenEuropische(n) Privatrechtsgeschichte (1985, 1991),

    schloss man an diese Tradition an.

    Die nun von Coing auch international pro-minent vertretene Europische Rechtsgeschichtebasierte auf der berzeugung einer grundlegendenEinheitlichkeit Coing hat dies in zahllosen Bei-trgen immer wieder vorgetragen. Die Europische

    Rechtsgeschichte sei, so beschrieb er es in demFestvortrag 1968, die einer abgeleiteten Rechts-kultur, zutiefst traditionsgebunden; 22 europ-isch, getragen von einem einheitlichen Juristen-stand, der ber Jahrhunderte fr eine Einheitlich-keit der Rechtsfortbildung sorgte; 23 und sie sei,jedenfalls in der neueren Zeit, philosophisch:Erst die neuere Zeit macht aus sozialphilosophi-schen Ideen Verfassungen und rechtliche Institu-tionen. 24

    Seit den 80er und 90er Jahren setzen andereCoings Werk fort. 25 Immer mehr Rechtsgebiete

    sollten nun in europischer Perspektive erforschtwerden. 26 In vielen Lndern Holland, Belgien,Frankreich, Spanien, Italien , im englischenSprachraum und bald auch in Osteuropa suchteman sich an gemeinsamen europischen oder west-lichen Rechtstraditionen zu orientieren. Roma-nisten bernahmen eine wichtige Rolle in die-sem Institutionalisierungsprozess. Rechtshistoriker

    wirkten an Arbeitsgruppen zur Rechtsharmonisie-rung in Europa mit, Lehrsthle fhrten dieseBezeichnung, ein Lexikon und Lehrbcher er-schienen. Die Dynamik der politischen Integra-tion, die wachsende Bedeutung des Europarechtsund die Europisierung dercurriculastimuliertendie Suche nach der gemeinsamen europischenVergangenheit. Rechtsgeschichte und Rechtsver-gleichung sollten, so wurde erneut gefordert, ihre

    verlorene historische Nhe zurckgewinnen undgemeinsam an der Fortbildung des europischenRechts arbeiten. 27

    Weniger an Dogmen und Institutionen interes-siert als im Blick auf den kommunistischen Ostenfragten manche man denke nur an Harold Ber-man in den 80er Jahren auch wieder verstrktnach demspecificumeiner europischen oder west-

    lichen Rechtskultur. Man suchte und fand deren

    19 FAZ vom 15. Mai 1968, 26.20 Vgl. zur Ernungsfeier die Doku-

    mentation im Archivder Max-Planck-Gesellschaf, II. Abt., Rep. 1 A IB 0.1.Europische Rechtsgeschichte vom05.03.1959 bis 31.12.1969, allgemein,Bd. 1.

    21 Wieacker(1967), 169.

    22 Coing(1968), 343344.23 Coing(1968), 344345.24 Coing(1968), 346., 350.25 Vgl. Zimmermann(1990, 1998, 1999,

    2001, 2002, 2007); Wagner(1982);Schulze(1997a); mit deutlich ande-ren Akzenten aus dem deutschen

    Spektrum z.B. Brge (2002); Ranieri(2011a, 2011b, 2011c).

    26 Ein berblick in Schulze(1991).27 Vgl. z.B. Zimmermann(1998, 1999);

    Ranieri(2011a).

    Recherche research

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    Grundlagen im Mittelalter, der Zeit der Grund-legung der europischen Einheit.28 Europablickt, so zeigen es bis heute die groen Panora-mabilder von Harold Berman, Manlio Bellomo,Paolo Prodi oder Paolo Grossi, auf eine gemein-

    same Geschichte zurck, in der Einheit und Viel-falt, Freiheit und Bindung so organisiert werdenkonnten, dass ein leistungsfhiges kulturelles Sys-tem entstanden ist, in dem den Tendenzen zurEntgrenzung jedes Teilbereichs jeweils wirksameGegentendenzen entgegenwuchsen. Verwissen-schaflichung, Professionalisierung, Skularisie-rung, Rationalisierung und Konfessionalisierung

    waren die Leiterzhlungen, zum Teil mit sozial-wissenschaflicher oder modernisierungstheoreti-scher Terminologie berformt. Strukturelle Un-

    vollstndigkeit von Macht, die Koexistenz partiku-

    larer und universaler Normschichten, funktionaleDierenzierung besonders zwischen weltlicherund geistlicher Gewalt, nicht zuletzt die Autono-mie des Rechts gegenber Politik und Wirtschaf

    wurden und werden bis heute zum Charakte-ristikum europischer Geschichte und Kulturerklrt.29 Obgleich vollstndig in die historischeEntwicklung eingebunden und stets durch diesinnlich-materiellen Interessen und Bedrfnissebestimmt, so Paolo Grossi in seiner DarstellungEuropas als einer Kultur des Rechts, eroberte sichdas Recht [] einTerrain autonomen Daseins, aufdem die Gesellschaf unabhngig von der Herr-schafsgewalt nach juristischen Lsungen suchte,um ihren Bestand organisatorisch zu sichern. 30

    In zeitlicher Hinsicht hatte man sich sukzes-sive vom Mittelalter ausgehend durch die Jahr-hunderte nach vorne gearbeitet. Schon das ProjektIRMAE hatte die Linie weiter gezogen als Savigny,mit Coing wandte man sich dezidiert der Neuzeitzu. Inwieweit das auf diese Weise vom Mittelalterbis in die Kodifikationszeit hinein projizierte Bildeiner europischen Rechtseinheit wirklich trotzaller zentrifugalen Tendenzen der Neuzeit Bestandhaben kann, ist bislang eher vermutet als unter-

    sucht worden. Man sieht inzwischen auch hier

    in einer gewissen Parallele zum politischen Pro-zess zunehmend Diversitt und Unterschiede,

    wendet sich Regionalisierungsprozessen wie etwademNordic Lawzu, 31vergleicht natrlich immerintensiver mit dem common law, beschfigt sich

    mit Mischrechtsordnungen. 32 Doch Gesamtdar-stellungen auch der neuzeitlichen europischenRechtsgeschichte, die auf die Fragen nach demAusma der zentrifugalen Krfe antworten knn-ten, gibt es bisher kaum Antonio Padoa Schiop-pas bezeichnenderweise als Storia del diritto inEuropa(2007) betiteltes Werk ist ein erster Schritthin zu einer solchen Perspektive. Doch vieles fehlt auch die von Coing nur angekndigte, vonStolleis entscheidend vorangetriebene, aber natr-lich nicht fr ganz Europa geschriebene Geschich-te des entlichen Rechts, eines entlichrecht-

    lichen Ius CommuneEuropas,33

    eine ber Norm-texte hinausgehende Europische Verfassungsge-schichte, etc. Angesichts der vielen oenen Fragenund weien Flecken auf der rechtshistorischenLandkarte Europas erscheint die EuropischeRechtsgeschichte tatschlich immer noch ein Pro-jekt. 34

    Im Blick auf die gegenwrtige europischeKrise wird man vielleicht sogar sagen knnen:Sie ist gerade heute ein besonders wichtiges Pro-jekt. Denn Europa mag angesichts der aktuellenEreignisse tatschlich eine neue Erzhlung brau-chen. 35 Es befindet sich allerdings schon lngerin der Krise. Zeitgeschichtliche Analysen machendeutlich, wie sehr schon in den 70er Jahren, 36

    vollends dann seit den 90er Jahren mit dem Ab-schluss des westeuropischen Nachkriegsprojektsseit den 90er Jahren auch die vertrauten Interes-senstrukturen und Erzhlkategorien ihre orientie-rende und handlungsleitende Kraf eingebthaben. 37 Zu diesem Vakuum kommt eine impe-riale Herausforderung Europas,38 nach innendurch die Erweiterung der EU, nach auen durchdie steigende Bedeutung neuer Globalregionen.Die europische Verfassungsdiskussion der 90er

    Jahre letztlich aber die gesamte Debatte um

    28 Fleckenstein(1989).29 Vgl. Berman(1991); Landau(1991);

    Prodi(2003); Bellomo(2005);Grossi (2010a); Wesel (2010), 7, 697.Ein berblick ber die inhaltlichenZuschreibungen bei Mohnhaupt(2000), 30.; einen Katalog vonMerkmalen a.a.O., 49 f.

    30 Grossi(2010a), 25.31 Moder(2010); Husaet al. (2007).32 Palmer(2001); Reidet al. (2004).33 Dazu im berblick Stolleis(2010a),

    76.34 Stolleis(2007a).35 Wieland(2012), 213; Habermas

    (2011).

    36 Varsori(2011).37 Wirsching(2012), 406.;

    Wirsching(2007); Frevert(2003),163.

    38 Mnkler(2008), 245.

    Rg 20 2012

    24 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    Europa markiert insofern nur die natrlich mitdem Zusammenbruch des Ostblocks verbundeneZuspitzung eines krisenhafen Prozesses des ber-gangs aus der Nachkriegszeit in die unbekannteZukunf eines unbersichtlichen und pluralisier-

    ten, globalisierten und greren Europas. 39Da Verfassungspolitik im weiten oder auch

    technischen Sinn immer auch Identittspolitikist 40 und weil diese in Europa durch eine euro-pische Erinnerungspolitik, also den gezieltenRekurs auf Geschichtsbilder und deren symbo-lisch-diskursive Festigung, bewusst betrieben

    wird, 41 kommt auch der (Rechts)Geschichtsschrei-bung zu Europa eine nicht gnzlich nebensch-liche Bedeutung in diesem Prozess zu. Denn wel-ches Bild wir uns von uns selbst machen mchten,

    welches Identifikationsangebot wir annehmen

    wollen, ist zwar eine politische Entscheidung.42

    Doch solche Entscheidungen werden in vielenArenen ausgehandelt. Die Historiographie trgthier ihre Deutungsangebote bei, natrlich nichtgnzlich willkrlich, sondern innerhalb eines Kor-ridors von Mglichkeiten. So wirken auch wir ander Stabilisierung und Reproduktion dieser Identi-ttsbildungsprozesse mit und sollten diesenstatusunserer Beobachtungen und unsere eigenen Inten-tionen oenlegen. 43

    Was wollen wir also fr ein Europa, welcheFacetten seiner so vielfltigen Rechtsgeschichte

    wollen wir stark machen? Ein Europa, das rechts-kulturelle Errungenschafen mobilisiert und mitseinem Namen verbindet, wie es bisher der Fall zusein scheint oder ein reflexives Europa, das nebenden vielen rechtskulturellen Leistungen auch seinedunkleren Seiten als Teil einer Rechtsgeschichte

    anerkennt, im Dialog mit anderen Weltregionenerforscht und vielleicht gerade nach dem Zusam-menhang zwischen beidem fragt? Ein geschlosse-nes, klar vom Rest der Welt unterscheidbaresEuropa wie in der Nachkriegszeit oder eines

    mit einer geradezu exzentrischen Identitt,44ein kosmopolitisches Europa, 45 von dem manhot, dass es sich in die Umrisse einer politisch

    verfassten Weltgesellschaf [] nahtlos einfgenwrde? 46 Ein Europa, das sich darum bemht,Entfaltungsfreirume zu organisieren, rechtlicheRahmenbedingungen fr Diversitt zu schaen,transkulturelle Identitten und entsprechende Dif-ferenzerfahrungen zuzulassen? 47 Ein Europa, dasseine historische Stellung in der Welt reflektiert,sich der Oenheit seiner Grenzen bewusst ist undsich als Teil einer Welt begreif, die nicht erst seit

    dem 20. Jahrhundert von Austauschprozessen,Hybridbildungen und einem kontinuierlichen dia-chronen Translationsprozess geprgt ist? Ein Euro-pa, das nicht in identifikatorischer Weise bestimm-te Werte als europisch fr sich reklamiert, son-dern sich der kontinuierlichen Konstruktion seinesSelbstverstndnisses bewusst ist und dessen kultu-relle Bedingungen verstehen mchte? Es sinddiese, auf ein strukturell oenes, geradezu grenzen-loses, sich in einem Prozess der Europisierungselbst entwerfendes Europa als Raum derVerarbei-tung von Dierenz zielenden Bilder, die auch inder jngeren Europahistoriographie strker wer-den. 48

    Das ist natrlich kein Zufall. DieseVerschiebun-gen unserer historischen Wahrnehmungsrastersind beeinflusst vom politischen Diskurs, werdenin diesem als Mglichkeiten der gesellschaflichen

    39 Wirsching(2007), 166.40 Bogdandy(2005).41 Dazu Beattie(2008); Feichtinger

    (2007); Mller(2008); anschaulichzur Europisierung als kulturellerPraxis in der Museumslandschaf und

    ihrem Beitrag zur europischen Er-innerungskultur nun Kaiser/Krankenhagen/Poehls(2012), ins-bes. 11., 221.

    42 Vgl. aus der Perspektive der ent-lichkeits- und IdentittsforschungEilders/Lichtenstein(2010). Ausder Sicht der RechtswissenschafenBogdandy(2005) sowieHanschmann(2008); Haltern(2010, 2011). In historischer Perspek-tive Frevert(2003).

    43 Vgl. dazu Asbach(2007), insbes.291.; zur Brisanz reduktionistischerIdentittszuschreibungen vgl. Sen(2007). Letztlichfinden wir auf derEbene der Europahistoriographiehnliche Mechanismen, wie sie bei

    der Konstruktion von nationalenIdentitten zu beobachten waren und in der Folge von HobsbawmsInvention of Traditionund der an sieanschlieenden Debatte diskutiertworden sind, vgl. z.B. Anderson(1998).

    44 Brague(1993), zu Europa als Se-kundrkultur Helmrath(2010),60.

    45 Beck(1997).46 Habermas(2011), 8586.

    47 Beck(1997), 259. Zur Herausfor-derung des Rechts durchDiversityFoblets(2010b) sowie die Beitrge inFoblets(2010a); Shah(2005b);Lembke(2012).

    48 Brague(1993); Schneidmller

    (1997, 2011); Herbers(2006, 2007);Helmrath(2010); die Beitrge inBorgolteu. a. (2008); Borgolteu. a.(2011); Borgolte(2010) sowie denberblick von Drews (2011). Aus derpostkolonialenSicht Pieterse (1994).

    Recherche research

    Thomas Duve 25

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    Selbstverstndigung rezipiert 49 und verarbeitenunsere Erfahrung einer Welt kultureller Globali-sierung mit transkultureller Kommunikation, Ver-flechtungen und Hybridisierungen. 50 So sind auch

    wir Kinder unserer Zeit. Die Generation Coing

    lebte und dachte europisch, wir leben in Zeitender Ernung des Welthorizonts. 51

    2 Polemik, Fragen, verpasste Chancen undneue Horizonte

    Blicken wir nach dieser ersten Skizze der Dis-ziplingeschichte nochmals zurck und ergnzendiese um einiges, was gerade nicht oder nur ganzam Rande zum Teil des disziplinren Selbstver-stndnisses wurde. Denn parallel zu dem erfolg-

    reichen Institutionalisierungsprozess und den vie-len wichtigen Forschungen, die mit ihm einher-gingen, lassen sich seit den 80er Jahren einigeEntwicklungen beobachten, die die Vorstellungeiner grundlegenden Einheitlichkeit der Europ-ischen Rechtsgeschichte und der ihr zugeschriebe-nen rein positiven Eigenschafen von unterschied-lichen Seiten her in Frage gestellt, zugleich abergroe analytische Chancen fr die Rechtsgeschich-te hervorgebracht haben.

    2.1 Kritik aus der Rechtsgeschichte

    Hefige Kritik kam bekanntlich zunchst ausder Rechtsgeschichtsschreibung selbst. 52 Sie betraf

    vor allem das Bild der Einheitlichkeit, das gezeich-net wurde. Je mehr man europisch forschte und

    verglich, umso oensichtlicher wurden die erheb-lichen regionalen Unterschiede und die Reduk-tionismen der gngigen Darstellungen; das warin der allgemeinen Europa-Historiographie nichtanders. Man wies und weist auf die vielen blindenFlecken hin etwa Osteuropa, 53 aber auch auf dieRechtsordnungen kleinerer Lnder, die meist im

    Schatten der vermeintlich wichtigen Mutter-rechtsordnungen stehen 54 und darauf, dassalles andere als klar sei, wo Europa anfngtund wo es aurt. 55

    Zur gleichen Zeit, zu der sich in der Euro-

    pischen Rechtsgeschichte bestimmte Leitbilderund Kanones verfestigten, arbeiteten andere be-reits mit einem erheblich weiteren Rechtsbegriund kamen dementsprechend zu anderen Aus-sagen ber die Vergangenheit des Rechts. Manentdeckte die vielen alternativen Erzhlungen zureuropischen Rechts- als einer Privatrechtsge-schichte, die, auch darin ganz Savignyscher Tradi-tion folgend, letztlich noch immer eine Geschichtedes zum positiven Recht fhrenden Juristenrechts

    war. Die dezidierte Zuwendung zur Praxis und dienung fr sozialwissenschafliche Methoden

    machte das Bild der Vergangenheit noch komple-xer. Immer deutlicher wurde, dass man mit derEuropischen Rechtsgeschichte, wie sie praktiziert

    wurde, zwar einen wichtigen, aber eben nur einenFaden im Knuel der Rechtsgeschichte verfolgte.56

    Die Kritik wurde nur vereinzelt noch am WerkCoings geuert, 57 entlud sich dann mit nichtunerheblicher Polemik an der nchsten Genera-tion, vor allem in der Debatte um Reinhard Zim-mermanns ambitioniertes Methodenprogramm. 58

    Man stritt um die Berechtigung einer applikativenRechtsgeschichte, ihre vor allem am Kriteriumder Einheitlichkeit orientierte Durchfhrung unddie Auswirkung dieser Perspektivierung auf dieGeschichtsbilder. 59 Eine Folge dieser disziplinrenDierenzierungsprozesse60war die Einstellung desIus Communeund dessen Ersetzung durch dieRgim Jahr 2001.

    Vielleicht trug diese Ausprgung unterschiedli-cher rechtshistoriographischer Diskurse dazu bei,dass manche wichtige Debatte keine Auswirkun-gen auf das Konzept oder die Arbeitsweise derEuropischen Rechtsgeschichte hatte. Ich be-schrnke mich auf ein paar Fehlanzeigen, die den

    49 Vgl. alsBeispiel fr diese Diskurseumeuropische oder westlicheWerteund die Verbindung von Kultur undRaum z.B. DiFabio(2005).

    50 Ein guter berblick bei Burke(2009a).

    51 Beck(2007), 48.52 Vgl. auch dazu im berblick Ogorek

    (1994) sowie Stolleis(2008).53 Vgl. Giaro(2007, 2011); Kirov

    (2011).

    54 Ranieri(2011c), 138, 151.55 Simon(1993), 316; vgl. auch die

    Arena in: Rechtshistorisches Jour-nal 12 (1993), 259 .; Wesel(2005).

    56 Vgl. Stolleis(2008), insb. 47., auchzur berwindung der Verengung aufdie Privatrechtsgeschichte.

    57 Stolleis(1990); Brauneder(1993).58 Grundlegend Zimmermann(1990),

    spter Zimmermann(1998, 1999,2001, 2002, 2007).

    59 Zum BeispielRckert (1992); Giaro(1993); Brauneder(1993, 1997);Osler(1997).

    60 Eine Zusammenfassung dieser Die-renzierungsprozesse bei Haferkamp(2010).

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    26 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    Bereich der Neueren Rechtsgeschichte betreenund zum Teil aus anderen europischen jushisto-riographischen Traditionen stammen, die voneiner Europischen Rechtsgeschichte eigentlichaufgenommen werden mssten. 61 Keine wirkliche

    Resonanz fanden, soweit ich sehe: die Forderungender berwindung eines letztlich am 19. Jahrhun-dert gebildeten etatistisch-legalistischen Paradig-mas der Rechtsgeschichte und ihre Folgerungenfr die Auswahl der Quellen; 62 Zweifel an derVorstellung, dass die europische Rechtsgeschichte

    wirklich in diesem Mae durch die Dierenzie-rung von Recht und Religion gekennzeichnet seiund die damit einhergehende Betonung derBedeutung anderer, das Recht berlagernder nor-mativer Sphren; 63 die Forderungen, die Rechts-geschichte mindestens bis an die Schwelle der

    Neuzeit nicht anhand einer Rechtsquellenlehreund -hierarchie, sondern als Jurisdiktionskultureiner zutiefst korporativ verfassten Gesellschaf zubegreifen;64 die damit verbundene Notwendig-keit, die vormoderne Rechtsanwendung konse-quent aus der Akteursperspektive und deren Vor-stellung von Geltung und damit als Umgang miteinem System relativer Autoritten zu rekonstru-ieren, mit der Folge der methodischen Priorisie-rung der lokalen Bedingungen der Rechtserzeu-gung; 65 der dieselbe Perspektivenumkehr fordern-de breite Diskurs ber den Zusammenhang zwi-schen lokalen Herrschafsprozessen und Staats-bildung; 66 die damit einhergehende Bemhungum eine Rechtsgeschichte aus der Perspektive dergerichtlichen Praxis; 67 medientheoretisch inspi-rierte Infragestellungen unserer Sicht auf dieBedeutung von Autor und Text; 68 die grundlegen-de Kritik an den kausalhistorischen Analysen unddie Suche nach Zeitbindungsformen durch diebertragung von evolutionstheoretischen Musternauf die Rechtsgeschichte. 69 Man muss sich dieseAnstze ja keineswegs gleich zu Eigen machen;doch man htte sich auf die Debatten und die

    intellektuellen Angebote einlassen knnen, die mitihnen verbunden waren.

    hnliches gilt fr die Revision einiger Grund-annahmen der Privatrechtsgeschichtsschreibungder 50er und 60er Jahre. Manche groe Erzh-

    lung gerade der Privatrechtsgeschichte ist in-zwischen relativiert worden 70 nicht zuletzt inder intensiven Auseinandersetzung mit dem trotzallem noch immer uneingeholten und eindrucks-

    vollen Werk Franz Wieackers. Aber: Abendln-disches Rechtsdenken von 1952 drfe kaum nochunsere Zukunf sein, schreibt Joachim Rckert imBlick auf Wieacker, und: Europa meint heutenicht mehr das sehr geistige von 1952. 71 Hans-Peter Haferkamp pointiert: Die Nachkriegsgenera-tion habe gelegentlich gefhlte Geschichte inWissenschaf umgesetzt. 72 Martin Avenarius hat

    schlielich jngst berzeugend auf die Verbunden-heit von ontologischer Hermeneutik und derWieackerschen Deutung der Rezeption als Ver-

    wissenschaflichung hingewiesen. 73 Alles das heitfreilich: So manche Grundlagen nicht nur derNeueren Privatrechtsgeschichte im deutschsprachi-gen Raum, sondern der auf diesen Fundamentenentworfenen Europischen Rechtsgeschichte ins-gesamt geraten ins Wanken.

    2.2 Infragestellungen der EuropischenGeschichtsschreibung

    Nicht nur innerhalb, auch jenseits der Rechts-geschichtsschreibung vernderte sich das einschl-gige wissenschafliche Umfeld. Grndliche Refle-xionen ber die Art, wie politische oder kulturelleGemeinschafen ihre Identitt konstruieren, mach-ten deutlich, dass es trotz aller Appelle den aufirgendeiner Identittsvorstellung beruhenden Eu-ropabegrinicht geben kann, weil es eben auchnicht die europische Identitt gibt. 74 Vor allemin den Kulturwissenschafen wurde die Kontin-genz, Hybriditt und Instabilitt der Identittsbil-

    61 Vgl. auch die zahlreichen Anregun-gen im Forschungsberblick vonBirocchi(2011).

    62 Hespanha(1986a, 2002).63 Clavero(1984a, 1984b, 1991).64 Costa(1969); Agero(2007);

    Garriga(2007).65 Duve(2003); Simon(2005).66 Freist(2005).67 Eindringlich Oestmann(2012), ins-

    bes. 32.

    68 Hespanha(2008); Visman(2000).69 Vgl. Fgen(2002b) sowie die prg-

    nanten Thesen bei Fgen(2002a);Fgen/Teubner(2005).

    70 Vgl. Rckert(2006); schon Rckert(1995) sowie dann (2008); (2010),insbes. 105.

    71 Rckert(2010), 107108.72 Haferkamp(2010), 70; dort auch ein

    berblick ber die Disziplinge-schichte.

    73 Avenarius(2010).74 Frevert(2003); Asbach(2007,

    2011); Eilders/Lichtenstein(2010);Haltern(2010). Zur Beziehung vonMemoria und Macht anschaulich dieBeitrge bei Mller(2002).

    Recherche research

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    dungsprozesse und deren Funktion zur Produk-tion von Dierenz deutlich gemacht, Historike-rinnen und Historiker haben den relationalenCharakter der Selbstwahrnehmung in den europ-ischen Identittsdiskursen nachgezeichnet dass

    man also Identittsbildung als Zuschreibungsaktnur im Kontakt mit der Auenwelt versteht, nichtohne Grenzrume und Fremderfahrungen rekon-struieren kann und mit fragmentierten Prozessenzu rechnen hat. 75

    Auch aus anderen Grnden geriet die traditio-nelle Europahistoriographie in die Kritik. 76 Wh-rend wir mit dem teils hefig ausgetragenen,eigentlich rein deutsch-sprachigen Streit um dieapplikative Variante der Europischen Rechtsge-schichte beschfigt waren, begann eine bis heuteandauernde grundlegende Diskussion ber die

    globalen Machtstrukturen und die mit diesen ein-hergehende ungleiche Verteilung von Interpreta-tionschancen. 77 In diesen Debatten aus dem Um-feld der Postmodernen und Postkolonialen Histo-riographie wurde die Dekonstruktion fast allergroen Erzhlungen der europischen Geschichtegefordert. Materialistische, strukturalistische undandere kulturwissenschafliche Positionen verban-den sich mit Dependenztheorien, subaltern stud-ies, gender-Diskursen. Eurozentrismus war undbleibt bis heute der zentrale Vorwurf. 78 Europamsse provinzialisiert werden, es habe die Ge-schichte der anderen gestohlen, seine eigene Ge-schichte falsch geschrieben diese sei nicht dieeiner einzigartigen Rationalisierung und Ausdie-renzierung, sondern die eines erst oen gewalt-ttigen, dann vor allem kulturellen Imperialismus,die Geschichte von Millionen Toten, von Doppel-

    moral, des moralischen Versagens und der ber-heblichkeit.79 Selbst die nicht-europischen Histo-riographien htten sich dem europischen Bildunterworfen, seien nur eine Spiegelung westlicherGeschichtserzhlung und htten die europischen

    Kategorien geradezu internalisiert.80So kam es zu einer breiten Diskussion ber das

    Verhltnis nationaler, regionaler und globaler His-toriographie. Aus denarea studies, der sozialwissen-schaflichen Beschfigung mit der Globalisierungund verschiedenen Schulen nicht zuletzt der Welt-

    wirtschafsgeschichte entwickelte sich eine breiteDebatte um analytische Chancen und Grenzen derGlobal History. 81 Die historische Rolle Europas inder Welt wurde zum Problem, man stellte radikaleFragen an das europische Selbstverstndnis, nichtselten im Blick auf einen immer wieder mit Max

    Weber verbundenen Okzidentalismus.82

    Viele Fragen beziehen sich auf unsere Vorstel-lungen von Recht und Gerechtigkeit und dieeuropischen oder westlichen Versuche, diese zuuniversalisieren oder zu monopolisieren.83 Man-che Aufrufe zu einer emanzipatorischen De-Euro-pisierung der Rechtsgeschichte kamen aus derDisziplin selbst. 84 Vor allem das InternationaleRecht, seine Institutionen und seine Wissenschaf,aber auch die Bemhungen, Rechtsstaat undrule oflawin andere Regionen zu exportieren, wurden alsVerlngerung des Kolonialismus mit anderen Mit-teln kritisiert. 85 Das Fehlen der Darker Side of aPluralist Heritage in der europischen Selbstverge-wisserung wird beklagt, 86das aus Europa geprgteSkularisierungsdenken als historischunzutreendund hegemonial gegenber solchen Gesellschafenangesehen, die das Verhltnis religiser, rechtlicher

    75 Vgl. etwa Frevert(2003); Borgolteu. a. (2008), 195.; DezMedrano(2003).

    76 Aktuelle historiographiegeschichtli-che berblicke bei Middell(2007),insbes. 97.; Jaeger(2011).

    77 berblicke bei Conrad/Kessel(1994); Conrad/Randeria(2002);Sachsenmaier(2011).

    78 DeBaets(2007).79 Wallerstein(2006); Chakrabarty

    (2010); Goody(2006).80 Fontana(1995); Dirlik(2002); ein

    kritischer berblick ber die Wech-selwirkungen und die modernisie-rungstheoretischen Annahmen derHistoriographie bei Sachsenmaier(2011), 11.

    81 Vgl. Hopkins(2002); Budde/Conrad(2006); Conrad/Eckert(2007);Osterhammel(2009b); Jaeger(2011); Middell/Naumann(2010);Middell(2010).

    82 Zum Beispiel Mignolo(2000), 3.;

    aus der neueren Literatur Mignolo(1995,2000, 2009); Bin Wong (1997);Caizares-Esguerra(2002). Ein gu-ter berblick bei Wallerstein(2004), 1.;Jaeger(2011). Kritischzu den postkolonialen KonzeptenReinhard(2010).

    83 Zurappropriation of valuesGoody(2006), 240.Vgl. auch z.B. Darian-Smith/Fitzpatrick(1999).

    84 Clavero(2005), 49: In other words,to behave in the world that we, his-

    torians or not, common citizens,have inherited, we should free our-selves through knowledge and con-sciousness from European and Euro-American myths andfictions, fromtraditions and narratives that contin-

    ue to bind us, such as the copyrighton and the pedigree of human free-doms culture.

    85 Vgl. Kennedy(1996); Koskenniemi(2001); Anghie(2005); Pahuja(2011); Koskenniemi(2011);Clavero(2011); im AusblickKoskenniemi(2012).

    86 Joerges(2003); zum Totalitarismusals Teil der europischen Geschichtez.B. Mazower(2005).

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    28 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    und anderer normativer Arenen anders definieren.Man wehrt sich gegen die Teleologie der Moder-nisierungstheorie und die unterschwelligen Impli-kationen im Blick auf die Geschichte andererRegionen. 87 Aus einem europischen Verstndnis

    heraus gefhrte Humanitts- und Menschenrechts-diskurse werden als Eingriin kulturelle Selbst-bestimmungsrechte gedeutet,88 manche haltendiese sogar fr eine Erfindung aus den 1970er

    Jahren. 89 Auch die epistemische und diskursiveDierenzierung von Recht und Wirtschaf wirdals Machtstrategie angesehen, die letztlich nur dem

    wirtschaflichen Imperialismus der sog. entwickel-ten Welt dienen soll. 90

    Methodisch neten sich mit dieser Debatteneue, zwangslufig ber Europa hinausfhrendeHorizonte. Die internalistische Geschichtsschrei-

    bung Europas wurde kritisiert, man wies auf diesoziale Konstruktion der geographischen Grenzendes Kontinents hin, entwickelte unter der Bezeich-nung Metageographie91 kritische Reflexionenber die Weise, wie wir die Welt begreifen, Model-le einer Geschichtsschreibung Europas mit per-meablen Auengrenzen wurden vorgestellt.92

    Unter dem Eindruck der Forderung einer dezent-ralisierten Geschichtsschreibung wandten sichimmer mehr Historikerinnen und Historiker denVerflechtungen der Weltgeschichte zu. 93 Interak-tionsrume wie der atlantische Raum, Imperien,global cities oder die Oceans of History wurdenals Kommunikationszusammenhnge (wieder)ent-deckt. 94 Reisen von Missionaren, Kaufleuten, Skla-

    ven, Soldaten, aber auch der Transport vonBchern und Artefakten rckten in den Fokusder Aufmerksamkeit. 95 Die Bedeutung der Aneig-

    nungs- und Resignifikationsprozesse und damitder handelnden Akteure vor Ort ihreagency

    wurde betont, of im Zusammenhang mit ber-setzungen von Rechtstexten. 96 Viele Ergebnisseder of noch aus einer diusionistischen und reifi-

    zierenden Perspektive betriebenen Kulturtransfer-forschung, die seit der Belebung der transnationa-len Geschichtsschreibung in den 80er Jahren blh-te, gingen in diese Versuche einer dezentralenRekonstruktion der Verflochtenheit Europas inglobale Netze ein; je nach berzeugung, vielleichtauch eigenem Fachgebiet, setzt man diese bereitsim Mittelalter, mit der europischen Expansionoder erst im 19. Jahrhundert an.97 Zunehmendfand auch ethnologische Reflexion ber denUmgang mit kulturell Fremden Eingang in dieHistorischen Geistes- und die Sozialwissenschaf-

    ten.Die Europische Rechtsgeschichte, die auf-grund ihrer Beschfigung mit demius communeschon traditionell transnational gearbeitet hatund mit ihren vielen Rezeptionsstudien bererhebliches Anschauungsmaterial verfgt, nahm vielleicht gerade deswegen nur wenig vondiesen Anregungen auf. Eine Auseinandersetzungmit der Kritik an den Europamodellen der tradi-tionellen Historiographie hat, soweit ich sehe,nicht stattgefunden.

    2.3 Globale Perspektivenbildungen in derrechtshistorischen Forschung

    Auch wenn ausdrckliche konzeptionelle De-batten um die Europische Rechtsgeschichte feh-len, bemhten sich natrlich auf die eine oder

    87 Vgl. Eisenstadt(2000), dazuSchwinn(2009); ein Beispiel der da-ran anschlieenden rechtshistori-schen Reflexion fr die chinesischeRechtsgeschichte Huang(2007).

    88 Zum Beispiel die Beitrge in

    Schmale(1993).89 Moyn(2010).90 Zusammenfassend Pahuja(2011),

    10.91 Lewis/Wigen(1997); Heffernan

    (1998); Schultz(2005).92 Osterhammel(2004).93 Zur nung fr andere Raumkon-

    zepte vgl. Osterhammel(1998,2001); Sachsenmeier(2011) sowiezur Auswirkung gerade auf die Frh-neuzeitforschung Zwierlein(2009).

    94 Aus dem deutschsprachigen Raumvgl. Reinhard(19831990);Osterhammel(2009a); Wendt(2007). Zuglobal citiesSassen(2002,2001); zu denOceans of HistoryBuschmann(2007); zurAtlantic

    Historydie Beitrge in Greene/Morgan(2009), Gould(2010). Ausder Imperiengeschichte weisen vorallem Burbank/Cooper(2010) be-sonders auf die Bedeutung des Rechtshin; vgl. auch Ross(2008). ZumKonstitutionalismus in atlantischerPerspektive z.B. Armitage(2007),Adelman(2006, 2008).

    95 Chanda(2007); Games(2008);Gruzinski(2010).

    96 Rothermund(2002); zur Rolle vonbikulturellen Akteuren und Netz-werken z.B. Huang(2000); Dezalay/Garth (2010); Lei(2010); Svarverud(2007).

    97 Fr die europische Expansion im

    ausgehenden 15. Jahrhundert als Be-ginn der Mundialisierung z.B.Wallerstein(2004), 23.;Gruzinski(2010); Parker(2010);zurckhaltend Osterhammel(2009b); vomMyth of Early Globali-sationspricht aus wirtschafshistori-scher Perspektive Emmer(2003),betont aber, dass eine expansion ofEuropean values and norms eherstattgefunden habe.

    Recherche research

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    andere Weise von den eben skizzierten Debatteninspiriert allerdings immer mehr Arbeiten in denletzten Jahren um eine ber Europa hinausgehen-de Perspektivenbildung. Wir verfgen also bereitsber zahlreiche Ansatzpunkte fr eine Rechtsge-

    schichte in globalhistorischer Perspektive.So werden in der Geschichte des Internationa-

    len Rechts Fragen nach dem Anteil der imperialenKontexte fr die Herausbildung von Wissenschafund vlkerrechtlichen Praktiken gestellt,98 manuntersucht Handelsvertragspolitik, Extraterritoria-litt und in anderen vlkerrechtlichen InstitutenSpuren vonLegal Imperialismoder unterstreicht dieBedeutung von(semi-)peripherical juristsund ihrereuropischen Gesprchspartner bei den Aushand-lungsprozessen, mit der Folge eines particularisticuniversalism.99Jngst wurde die Integration Chi-

    nas in das internationale System des Vlkerrechtsals Resignifikation und Beispiel lokaler Veranke-rung mit den entsprechenden Anpassungsprozes-sen analysiert. 100 Es liegt auf der Hand, dass jederrein europische Ansatz im Bereich des Interna-tionalen Rechts unsinnig wre. 101 Auch wurde dieBedeutung der nicht-europischen Dimension frdie Geschichte grundlegender staatstheoretischerKonzepte herausgearbeitet, die eigentlich immernoch als Frucht europischen Geistes gesehen wer-den. 102

    Nicht zuletzt im Kontext der Forderungen einesneuen, die indigenen Vlker bercksichtigendenlateinamerikanischen Konstitutionalismus 103 hatBartolom Clavero die traditionelle Verfassungs-geschichtsschreibung massiv wegen ihrer Farben-und Geschlechterblindheit kritisiert. 104 Gerade dieVerfassungsgeschichte bietet allerdings auch bei-spielhafe Reflexionen ber die Bedeutung derMachtprozesse beim Transfer von Staatsmodel-

    len. 105 Vor allem von spanischen, englischen undamerikanischen Autoren ist vermehrt die atlan-tische Dimension des Konstitutionalismus er-forscht worden. 106 Auch fr die Rechtsgeschichteerschienen Kolonien als Laboratorien der Moder-

    ne 107 mit allen Problemen, die das mit sichbrachte und als Raum des kulturellen Imperia-lismus, 108 Kolonialrechtsgeschichte ist seit guteinem Jahrzehnt geradezuen vogue. 109

    Viele Untersuchungen widmen sich den Aus-tauschprozessen mit osteuropischen Regionen

    wenn man diese nicht ohnehin zu Europa zhlenmchte. 110 Intensiv ist auch die Forschung zurnung Japans, zunehmend auch Chinas, fr

    westliches Recht. 111 Auch mit Blick auf die Ge-schichte des Kirchenrechts wurden frhneuzeit-liche Reproduktionen des kirchlichen Rechts und

    der Moraltheologie in lateinamerikanischen Kon-texten 112 und die Rolle der Moraltheologie alsnormative Ordnung mit universalem Anspruchund globaler Dimension untersucht;113 das Mis-sionsrecht wurde als Innovationsfaktor des Kir-chenrechts bezeichnet und nicht-europische An-teile bei der Arbeit amCodex Iuris Canonicivon1917 unterstrichen. 114

    Manche rechtshistorische Untersuchungenknnten als Teil der Imperienforschung gesehen

    werden: Forschungen zum Alten Reich, 115 Arbei-ten zu den Binnenstrukturen in sdeuropischenimperialen Herrschafsrumen 116 oder verglei-chende Analysen derLegal Communicationim spa-nischen und britischen Empire. 117 Etabliert, aberjenseits der engeren Forschergemeinschaf kaumbeachtet ist auch die Geschichte des sog. DerechoIndiano, also des in den berseegebieten der spa-nischen Monarchie angewandten Rechts in sei-nen europisch-amerikanischen Dimensionen; 118

    98 Koskenniemi(2001); Nuzzo(2011).99 BeckerLorca(2010). Vgl. auch

    Kayaoglu(2010); Duve(2012).

    100 Kroll(2012).101 Vec(2011), 34.102 Benton(2010).103 Siehe dazu Beitrge Rg 16 (2010).104 Clavero(2005, 2011).105 Reinhard(2000).106 Bilder(2004); Hulsebosch(2005);

    Armitage(2007); Adelman(2006,2008).

    107 VanLaak(2006).108 Vgl. die Beitrge in Quaderni Fioren-

    tini 33/34 (2004/2005).

    109 Vgl. die Sammelbnde Mazzacane(2006); Durand/Fabre(2004); dieBeitrge im Dossier von: Clio@The-

    mis 2 (2009); Clio@Thmis 4 (2011).110 Vgl. etwa die Publikationen zum

    Transfer nach Osteuropa, Giaro(2006, 2007); Kirov(2011) oderEichler/Lck(2008).

    111 Vgl. dazu im berblick Matsumoto(2010); Nishikawa(2007); Kroll(2012).

    112 Duve(2008b).113 Duve(2011).114 Pulte(2006); SalinasAraneda

    (2011).

    115 In diesen Kontext steht der Beitragvon Hrter(2011).

    116 Hespanha(1986b, 2001, 2007).

    117 Ross(2008).118 Vgl. im Blick auf die Verbindung zu

    Europa BarrientosGrandn(2000); TauAnzotegui(2002);Mazzarella(2002); Bellomo (2003);Cassi(2004); Nuzzo(2008); Duve(2008a).

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    30 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    noch weniger prsent ist die bis nach Asien rei-chende Rechtsgeschichte des portugiesischen Im-periums. 119

    Manche methodische und theoretische Anre-gungen der globalhistorischen Forschung fanden

    hier ihr Echo. Es gibt kritische Reflexionen zumWestern Legal Imperialism, 120 im Zusammenhangmit Studienaufenthalten chinesischer Juristen inden USA und Europa wird auf biculturalismunddie Netzwerke der Kommunikation hingewie-sen, 121 man unterstreicht die Bedeutung der loka-len Umstnde fr die Reproduktion und Lokali-sierung von juristischem Wissen in Lateinamerikaoder Asien.122 Die Auswirkungen westlicherGeschichtskonzeptionen auf die Rechtsgeschichts-schreibung etwa Japans werden kritisch abwgendreflektiert. 123 Die Diskussion um Modernisierung

    und multiple Modernen wird hufiger in dierechtshistorischen Reflexionen einbezogen. 124 Ge-rade in den letzten Jahren ist auch auf der termi-nologischen Ebene einiges in Bewegung geraten.Die Globalisierung inspiriert nun rechtshistorischeDarstellungen auf sehr unterschiedliche Weise.Globalisation and Western Legal Tradition werdenin Verbindung gebracht; 125 Ditlev Tamm schreibtseine Rechtsgeschichte in eine Globale Rechtskul-tur ein, Paolo Grossi zieht Linien von der Rechts-ordnung im Mittelalter zur globalisierten Welt, PiaLetto-Vanamo hat den WegTowards a Global LegalHistoryskizziert. 126

    Besonders wichtig sind fr den vorliegendenZusammenhang schlielich die Arbeiten, die aufeinen Zusammenhang zwischen der imperialenoder kolonialen Dimension der Rechtsgeschichtender Kolonialmchte in Europa und der Formie-rung eines Diskurses hinweisen, in dem sich Euro-pa trotz aller Dierenzen nach innen sowie inder klaren Abgrenzung nach auen als Kontinentder berlegenen Rechtskultur beschreibt, dessenRecht in zivilisierender Absicht ber den Erdball

    verbreitet werden muss. 127 Vor diesem Hinter-

    grund lassen sich manche provokativen Fragenan das europische Selbstverstndnis stellen, etwa:Wie verhalten sich rassistische, auf Ungleichheitaufgebaute, Politik und Religion verbindende, auf

    wirtschafliche Ausbeutung und Herrschaf ge-

    richtete Rechtsregime der europischen Mchtein ihren kolonialen Territorien zu unserem An-spruch, der Kontinent von funktionaler Dieren-zierung der Teilsysteme, der Erfindung von Frei-heit, Gleichheit, Brderlichkeit und der univer-salen Menschenrechte zu sein?

    Ganz unabhngig davon, wie man zu solchenSichtweisen stehen mag: Wir knnen sie nichteinfach als modisches, politisch korrektes Geredezur Seite schieben. In einem nicht unerheblichenTeil der Welt werden solche, auf zentrale Aspekteder Europischen Rechtsgeschichte zielende Fra-

    gen formuliert. Will die Europische Rechtsge-schichte glaubwrdig sein und im internationalenGesprch ernst genommen werden, so wird sie indiese Diskussion jedenfalls eintreten mssen. EineWeltgesellschaf bedarf der kritischen Auseinan-dersetzung mit der eigenen Vergangenheit, einerDialogischen Erinnerung. 128

    2.4 Rezeptions-, Diusions- undTransferrechtsgeschichten des EuropischenPrivatrechts

    Stammen die meisten der eben genanntenArbeiten nicht aus dem Bereich der Privatrechts-geschichte, dem Zentrum der EuropischenRechtsgeschichte, so hat sich auch diese natrlichschon seit langer Zeit fr andere Weltregionengenet. So erscheinen eine Flle von Untersu-chungen zur Rezeption oder dem Transfer vonRecht und Rechtskultur aus Europa nach und inChina, Japan, anderen asiatisch-pazifischen Ln-dern, USA oder Lateinamerika, vereinzelt auchAfrika. Rechtshistoriker finden auf ihren Reisenviel bedenkenswertes Material zur Analyse und

    119 Ein berblick bei Hespanha(2001).120 Vgl. etwa Whitman(2009).121 Huang(2000); Dezalay/Garth

    (2010); fr Lateinamerika vgl. Hin-weise bei Duve(2012).

    122 Duve(2008b, 2010, 2012); Kroll(2012).

    123 Nishikawa(2007) m.w.N.124 Zum Beispiel Kirov(2011); eine kri-

    tische Reflexion bei Somma(2012).125 Goldman(2007).

    126 Tamm(2009); Grossi(2010b); Letto-Vanamo(2011).

    127 Vor allem Costa(2004/2005); Nuzzo(2011).

    128 Vgl. Assmann(2007); Leggewie(2011).

    Recherche research

    Thomas Duve 31

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    zum besseren Verstndnis diverser Rezeptionsvor-gnge [], und zwar auch jener groen Rezeptiondes gemeinen Rechts in Europa. 129 Einzelstudienzur bernahme von Institutionen, Gesetzestexten,Dogmatik, wissenschaflichen Lehren, zu Wissen-

    schafleraustausch, Reisen, Exil haben wichtigeInformationen geliefert, gerade aus dem Bereichdes Privatrechts. Auch koloniale Kontexte sinduntersucht worden, nicht zuletzt von romanistischgeprgter und besonders am Privatrecht interes-sierter Seite; man hat sich in diesem Zuge auch densog. Mischrechtsordnungen zugewandt. 130Verein-zelt werden auch kritische berlegungen zur ber-tragbarkeit unserer Vorstellungen auf fremdeRechtsordnungen angestellt 131 oder sogar ins Reli-gise gehende Motivationen des juristischen Mis-sionsgeschfs herausgearbeitet. 132 Gerade im

    Umfeld des Jubilums des franzsischenCode civilist eine Flut von Publikationen erschienen, zumTeil reine Normenexportstudien, zum Teil aberauch dierenzierte berlegungen zur Modellfunk-tion des Code civil und dessen Schicksal in derGlobalisierung.133

    Reflexionen ber die Konzeption oder die Gren-zen Europas hat auch dies aber, soweit ich sehe,nicht ausgelst. Solange man die Verflechtungenals Wirkungsgeschichte in den Rahmen derEuropischen Rechtsgeschichte einpasst, bereitensie keine konzeptionellen Probleme. Unterschiedenach innen werden durch Binnendierenzierun-gen aufgefangen, die letztlich das Einheitsdenkennach auen stabilisieren man spricht dann, wieschon Coing, von einem Kern und Randgebie-ten (England, Schottland, Skandinavien, Osteu-ropa); 134 der Rest ist nicht einmal mehr Rand. WasWirkung eigentlich bedeuten soll und welcheVorstellung ber die Funktionsweise von Aus-tauschprozessen dahinter steht , bleibt meistoen. So kann man auch heute noch lesen, dasrmische Recht sei ein Weltrecht, ein Recht, das

    nicht zufllig die Welt erobert habe. 135 Das istkaum anders als das, was Koschaker schon 50 Jahre

    vorher schrieb, als er das rmische Recht als Expo-nent der europischen Kultur bezeichnete, einMittler unter den groen europischen Privat-

    rechtssystemen [] die sich schlielich ber denganzen Erdball verbreitet haben. 136

    So blieb auch die von der Kulturtransferfor-schung initiierte Suche nach einer fruchtbarenHeuristik zur Rekonstruktion der berwiegendsprachlich vermittelten Austauschprozesse ohnegreren forschungspraktischen Widerhall inBezug auf die Konzeption der EuropischenRechtsgeschichte; das gleiche gilt fr die intensiveDebatte ber Legal Transfer und Transplants. 137

    Auch die mit der Diskussion um TransnationaleGeschichte und Globalgeschichte einhergehende

    intensive Reflexion ber die Bedeutung der rum-lichen Dimension fr die historische Forschung 138

    ist kaum rezipiert worden einer der vielenturnsder letzten Jahrzehnte, die vielleicht auch wegender Relevanzrhetorik, mit der sie zum Teil vorge-bracht werden, bei manchen Beobachtern mehrSkepsis als Interesse ausgelst haben drfen. Dochauch hier sollte gelten:abusus non tollit usum. Denndie Frage nach der Art, wie die Europische Rechts-geschichte ihren Forschungsraum definiert, ist nuneinmal von grundlegender Bedeutung. Wenn vonder historischen Forschung Europa zunehmend alsein strukturell oener Raum bezeichnet wird, derbereits im Mittelalter bestndig externe Einflsse

    verarbeitete und dessen Gebiet in Grenz- undKontaktzonen frmlich ausfranste, 139 so msstedas unsere auf einem Einheitsdenken aufgebauteDisziplin eigentlich beunruhigen: Denn wennman dieses Ausfransen fr die Neuzeit und dieeuropische Expansion weiterdenkt, verschiebensich die Grenzen Europas weit ber die Ozeane;ich komme darauf noch zurck.

    129 Ogris(2003), 40.130 Zum Beispiel Sirks(1989) sowie diez.T. historischen Teile in Palmer(2001); Reidet al. (2004).

    131 Zum Beispiel Bahr(1992); Nrr(1992) sowie die Kritik an der Vor-stellung einesLegal TransplantbeiLegrand(1997); Legrand/Munday(2003).

    132 Avenarius(2011).133 Ein berblickbei Pfister (2011); vgl.

    kritisch abwgend und mit Bezug auf

    Rezeptionsbedingungen aber z.B.Ranieri(2005, 2007b); Halperin(2005); Soleil(2005).

    134 Coing(1967), 31.135 Manthe(2000), 7.136 Koschaker(1947), 352.137 Vgl. dazu nher unten 9.2.138 Osterhammel(2004); Zwierlein

    (2009); Sachsenmaier(2010a,2010b); Jaeger(2011);Baumgrtner/Klumbies/Sick(2009).

    139 Brague(1993); Schneidmller(1997, 2011); Herbers(2006, 2007);Helmrath(2010); die Beitrge inBorgolteu. a. (2008); Borgolteu.a.(2011); Borgolte(2010).

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    32 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    2.5 Die rechtliche Ordnung in einer globalenWelt und die Rechtsgeschichte

    Noch in einer weiteren Hinsicht hat sich daswissenschafliche Umfeld der Rechtsgeschichte in

    den letzten drei Jahrzehnten schlielich massivverndert. War die Europische RechtsgeschichteKind einer Zeit, in der die Rechtswissenschaf sichmit der berwindung nationalstaatlicher Grenzendurch die europische Integration beschfigte ein Problem, das oensichtlich fortbesteht , so istinzwischen das Bewusstsein dafr gewachsen, dasseine der zentralen Herausforderungen der Rechts-und Sozialwissenschafen eben nicht mehr alleinin der europischen Integration liegt, sondern inder rechtlichen Ordnung einer globalen Welt.140

    Das zeigt sich schon beim Blick vor die eigene

    Tr. Wird in den ehemaligen Kolonialnationenwie England, Frankreich oder Belgien bereits ln-ger und intensiv ber die rechtliche Dimension derkulturellen Diversitt gestritten, die mit der Migra-tion von Sden nach Norden verbunden ist, 141

    zeigen auch bei uns Kopfuch-, Schulgebet-, Be-schneidungsurteile oder die Diskussion um dieAnwendung der Scharia, was als reverse colonisa-tion bezeichnet worden ist: 142 dass wir vor derTatsache eines Nebeneinander von normativenSphren unterschiedlicher kultureller Veranke-rung innerhalb des staatlichen Systems stehen,Formen von Recht ohne Staat. 143 Die manchenso theoretisch scheinende Debatte ber Rechts-pluralismus 144 ist also von uns unmittelbar betre-ender Aktualitt. Die Gestaltung von Steuerungs-und Entscheidungssystemen, die auf diese kultu-relle Diversitt und die mit ihr verbundenen eth-nic implants angemessen reagieren knnen, wirdnur vor dem Hintergrund eines vertiefen unddamit auch historisch gegrndeten Verstnd-nisses der jeweiligen kulturellen Bedingtheiten

    des Normativittsverstndnisses der Akteure gelin-gen. 145

    Zugleich rcken Probleme der Gestaltung dernormativen Steuerungs- und Entscheidungssyste-me einer Weltgesellschaf in den Fokus der rechts-

    wissenschaflichen Forschung.146 GrundlegendeFragen nach dem Rechtsbegrimssen nun ininterkultureller Perspektive diskutiert werden.147

    In Debatten umGlobal governanceundGovernancein Rumen schwacher Staatlichkeit wird histori-sche Expertise verarbeitet. 148 Von fhrendenTheo-retikern der Globalisierung wie Saskia Sassen wirddie historische Perspektive geradezu als Schlsselzum Verstndnis der Globalisierungsprozesse ver-standen. 149 Unabhngig davon, wie man sich dieStrukturen der Weltgesellschafvorstellt, bedarf esfr die Integration der verschiedenen Ebenen

    jedenfalls einer Reflexion ber die jeweiligen Pfad-abhngigkeiten und Vorverstndnisse der Beteilig-ten, die nur historisch zu leisten ist. 150 Auch dieberlegungen ber eine Isomorphie sozialer Ord-nungen durch lokale Imitationen globaler Modelle und deren Folgen fr die Vorstellung einerWeltgesellschaf bauen jedenfalls zum Teilauf rechtshistorischen Diagnosen auf. 151

    hnliches gilt fr die mit der Herausbildungglobaler normativer Strukturen verbundenen legi-timationstheoretischen Probleme. So wird bei-spielsweise diskutiert, ob und wie globale Demo-kratie funktionieren kann, 152wie eine interkultu-relleIdea of Justiceaussehen knnte, 153 ob und wiezwischen westlicher rule of law und der chinesi-schen Vorstellung von Harmonie vermittelt wer-den kann, 154 ob es so etwas wie eine rechtlicheMetasprache gibt, in der wir auch jenseits kultu-reller Grenzen ber Normativitt kommunizierenknnen. 155 Meist beruhen diese Errterungen aufGeschichtsbildern, manchmal unterstellt man beider Suche nach einer solchen rechtlichen Meta-

    140 Ein berblick bei Sieber(2010);

    Kadelbach/Gnther(2011); zumPrivatrecht z.B. die Beitrge inZimmermann(2008).

    141 Gaudreault-Desbiens(2010) sowiedie weiteren Beitrge in Fobletsu. a.(2010a).

    142 Zu Termini Menski(2006), 58.;zum Problem am Beispiel EnglandMenski(2011); im berblickFoblets(2010b).

    143 Kadelbach/Gnther(2011); auchHertogh(2008); Schwarze(2008).

    144 Griffiths(1986); Merry(1988);

    Berman(2009); Zumbansen(2010);Tamanaha(1993, 2010).145 Britz(2000); Shah(2005a, 2005b);

    Menski(2010); Lembke(2012).146 Einen berblick ber die Herausfor-

    derungen geben Sieber(2010);Kadelbach/Gnther(2011);Bogdandy/Venske(2011, 2012);Cassese(2012b); Stolleis(2012),663.

    147 Vgl. die Debatte der letzten Jahre bi-lanzierend Tamanaha(2010).

    148 Vgl. etwa Conrad/Stange(2011).

    149 Sassen(2006).150 Vgl. etwa die Ausfhrungen beiTeubner (2012), 225., insbes. 242.zu den interkulturellen Kollisionen.

    151 Meyer(2005).152 Kriesi(2010).153 Sen(2009).154 Mindus(2012).155 Gnther(2001, 2008).

    Recherche research

    Thomas Duve 33

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    sprache oder anderen Modellen globaler Gerech-tigkeit weltweite Verflechtungs- und Austausch-prozesse. Law and legal scholarship erscheinendeswegen, so der finnische Rechtstheoretiker Kaar-lo Tuori, als thoroughly historical enterprises.156

    Selbst wenn nicht von einem historischen Prozessder sedimentation gesprochen, 157 sondern eherprospektiv nach dem trickle-down eect of inter-national norms into domestic legal orders gefragt

    wird, 158 wird mit Amalgamierung von Normati-vitt argumentiert es werden also Aussagen berdie Entwicklung von Recht in der Zeit gettigt. Obund wie sich diese Verflechtungsprozesse dann

    wiederum in klassifikatorischer Weise umsetzenlassen, sind Fragen, an denen nicht zuletzt dieRechtsvergleichung interessiert sein muss diesie mit ihrem traditionellen analytischen Instru-

    mentarium aber wohl kaum lsen wird.159

    DieRechtsgeschichtsschreibung hat hier die Chance,ihre Expertise zu solchem diachronen und inter-bzw. transkulturellem Translationsgeschehen zumobilisieren, zu schrfen und in diese Diskurseeinzubringen.

    3 Das Europabild der Rechtsgeschichte undeinige Irritationen aus der Peripherie

    Blicken wir auf diese Umfeldvernderungen, sodrfe deutlich geworden sein, dass wir vielleichtdringender denn je eine methodisch reflektierteRechtsgeschichte Europas brauchen, dass diese sichals Teil der traditionellen Europahistoriographieallerdings zugleich manchen Infragestellungenausgesetzt sieht. Gleichzeitig nen sich mit der

    wissenschaflichen Reflexion ber die Herausbil-dung globaler normativer Ordnungen ganz neueFelder rechtshistorischer Grundlagenforschung.Die Rechtsgeschichte Europas, dieses gewaltigenErfahrungsraums der Organisation von Vielfalt, in

    und jenseits des Kontinents, kann zu vielen indiesem Kontext errterten Problemen erheblichesReflexionspotential bereitstellen. Auch die Global-geschichte knnte davon profitieren, wenn die inihr bisher kaum prsente rechtliche Dimension der

    Mundialisierung, der Geburt der modernenWelt, der Verwandlung der Welt erschlossen

    wrde bleibt doch bisher mit dem Recht einewesentliche Sinndimension von Gesellschafenund eine fr die imperiale und koloniale Expan-sion geradezu elementare politische Handlungs-form auer Betracht. 160

    Sind wir auf diese Herausforderungen aber vor-bereitet, wenn wir weiterhin an einer Erkenntnis-mechanik festhalten, die das europische Rechtals eine Einheit ansieht und den Rest der Welt alsbloen Diusionsraum? Nimmt man auch nur

    einen Teil der vorgebrachten Kritik ernst, wirdman sagen mssen: wohl kaum. Es bedarf des-wegen einer kritischen Rckfrage, welcher Europa-begri unserer Disziplin eigentlich zu Grundeliegt. Vor allem: Was rechtfertigt unsere durch die

    Jahrhunderte gezogene einheitliche Konzeptuali-sierung der auf dem Kontinent mit seinen unschar-fen Grenzen liegenden variablen historischen Ru-me und wieso grenzen wir diesen unscharfenRaum Europa dann kategorisch von jenseits desKontinents liegenden Rumen ab? Warum ist fruns die Rezeption ein fr die europische Rechts-geschichte geradezu konstitutiver kulturhistori-scher Vorgang und warum sind vergleichbarePhnomene jenseits Europas nur eine Rezeptioneuropischen Rechts, eine Sichtweise, die letztlichdie Trennungssemantik fortschreibt und vielleichtsogar kontrafaktisch verfestigt? Kurz: Was machtdenn die Einheit Europas und seine Abgeschlos-senheit gegenber dem Rest der Welt aus?

    156 Tuori(2011), 44.157 Tuori(2002, 2011).158 Cassese(2012b), 665.159 So auch z.B.VanHoecke/

    Warrington(1998); Husa(2004).160 Vgl. etwa die fehlende Prsenz der

    Rechtsgeschichte in den Forschungs-berblicken bei Conrad/Eckert(2007); Osterhammel(2009b).Middell/Naumann(2010), 106, zh-len im Berichtszeitraum von 1285

    thematischen Schwerpunkten in denAnkndigungen, Rezensionen etc.gerade 28 aus der Rechts- und Ver-fassungsgeschichte. hnliche Ergeb-nisse bringt die Durchsicht einigerNachschlagewerke und Handbcher:Im Palgraves Dictionary of Trans-nationalHistory(2009) zweiEintrge(Legal Order; Lawfirms); kaum oderkeine Bercksichtigung der Rechts-geschichte in der WBG Weltge-

    schichte (Demel2010) und imThe Oxford Handbook of WorldHistory (Bentley2011). KeineRechtsgeschichte auch in den Areasof Specialization der World HistoryAssociation, Stand 2/2010, online:http://www.thewha.org/files/Areas_of_Specialization_for_World_History.pdf [21.07.2012].

    Rg 20 2012

    34 Von der Europischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive

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    3.1 Das Europabild der Rechtsgeschichte

    Diese Fragen fhren zum Europabegri. GanzeBibliotheken sind ber ihn geschrieben worden.Sucht man aber in der neueren rechtshistorischen

    Literatur nach Antworten auf die elementare Fragenach dem Europabegrider Europischen Rechts-geschichte, so ist die Bilanz eher ernchternd. 161

    Europa wird als Raum einfach vorausgesetzt, nicht-Europa kommt in der Regel nicht vor. Meistunausgesprochen, of unter Berufung auf eineGeburt Europas im Mittelalter, manchmal inBezug auf die heutige politische Gestalt der EU,nur selten so oen wie beim lakonischen UweWesel, der in seiner betont vorsichtig betiteltenGeschichte des Rechtsin Europa den Raum nurnherungsweise umreit und sich dann auf die

    Regionen konzentriert, die ihm intellektuellzugnglich sind. 162 An anderer Stelle spricht erselbst im Blick auf die Binnendierenzierungen

    von der Schachtel, in der globalhistorischenForschung wird so etwas das Container-Modellgenannt Europa ist ein geschlossener Raum, inden alles hineingepackt wird. 163 Es fehlt natrlichnicht an Hinweisen auf die Unbestimmtheit, dieflexiblen Grenzen, auch nicht an Distanz zu essen-tialistischen Betrachtungen; vergleichend-dieren-zierende Perspektiven findet man etwa bei HeinzMohnhaupt, Antonio Padoa Schioppa, MichaelStolleis, um nur einige zu nennen. 164 Aber ebenauch bei ihnen keine konzeptionellen Rckfragen.Eher selten stt man noch auf den identifikatori-schen Appell an eine irgendwie material definierteVorstellung von Europa Europa sei, so HansHattenhauer, kein geographischer, sondern eingeschichtlich gewordener Begri. 165

    Der Sache nach wird von den meisten Rechts-historikern auch keine Europische Rechts-geschichte geschrieben, sondern eine Rechtsge-schichte in einem Raum Europa; Europa ist, wie

    in weitenTeilen der Europahistoriographie, Raumhistorischen Geschehens. Irgendwann nach denersten Kapiteln zu Antike und Mittelalter, in denen

    wir ohnehin nur Inseln auf dem Kontinent undseinen gegenber heute ganz andersartigen Gren-

    zen beschreiben knnen, wird der Blick nationalverengt. Doch die Versuchung, die Ergebnisse alseuropisch zu deklarieren, ist latent. Viele Texteevozieren den Eindruck, dass es jenseits Europasanders wre. Doch echte Besonderheiten kann eineauf Europa beschrnkte Rechtsgeschichte gar nichtbehaupten. Es ist vielleicht banal, aber nicht ber-flssig zu unterstreichen, dass wir schon wegen derFrage nach den Besonderheiten Europas eine -nung unserer Europischen Rechtsgeschichte hinzu Regionen jenseits von Europa brauchen einenung, die freilich nicht allein in der Suche nach

    abgrenzender Selbstbesttigung bestehen kann.Gibt es aber jenseits der diusen Anrufung eineseuropischen Geistes, einer aus der Gegenwart undihren politischen Projekten entnommenen Grenz-ziehung oder einer pragmatischen Beschrnkungauf einen bestimmten Ausschnitt aus den Lndernauf dem Kontinent also einer nicht wirklicheuropischen Rechtsgeschichte keine andereDefinition dessen, was das Europa der Rechtsge-schichte ausmacht?

    Sehr of finden wir den Topos von Einheit undVielfalt als Charakteristikum der europischenRechtsgeschichte.166 Das ius commune bildetinsofern kein Bild der Uniformitt, sondern groerVielfalt, im Rahmen allerdings einer bergreifen-den intellektuellen Einheit, heit es bei ReinhardZimmermann, hnlich formulieren auch so unter-schiedliche Autoren wie Heinz Mohnhaupt oderUwe Wesel. 167 Die europischen Privatrechtsord-nungen knnten, so Zimmermann weiter, alsMischrechtssysteme bezeichnet werden, reineFormen des ius commune gebe es ohnehin nicht; dieEinheit dieser Vielfalt werde gewhrleistet vor

    161 Stein(1996); Caenegem(1991);Hattenhauer(1997); Hespanha(2002); Bellomo(2005); Halprin(2004); Lesaffer(2009); Grossi(2010a); Wesel(2010); Schlosser(2012).

    162 Wesel(2010), 3: Europa ist eingeografischer Raum mit kulturellerund politischer Eigenart. Dabei kannman fr den Raum erst einmal ruhigvon der Gegenwart ausgehen,1112.

    163 Wesel(2005); Middell(2007), 76.164 Mohnhaupt(2000), 24f.: Weder istder Rechtsraum Europa eindeutigabgrenzbar, noch der Begri Rechtuniversal definitionsfhig; Stolleis(1995, 2007a, 2007b, 2010a); PadoaSchioppa(2007).

    165 Hattenhauer(2004), Rz. 2339. Fastwortgleich hatte schon 1968 der Pr-sident der Max-Planck-Gesellschaf,Nobelpreistrger Adolf Butenandt,sein Gruwort zur Ernung des

    neuen Institutsgebudes beschlossen:Europa ist nicht nur ein geographi-scher, es ist ein geistiger Begri,Mitteilungen der Max-Planck-Gesell-schaf 5 (1968), 336.

    166 Vgl. nur aus jngster Zeit Luts-Sootaku.a. (2011); Bjrne(2010);Moder(2010).

    167 Zitat bei Zimmermann(2002), 252.Mit reichem Material Mohnhaupt(2000); Wesel(2010), 11.

    Recherche research

    Thomas Duve 35

  • 7/26/2019 rg20_018duve

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    allem durch eine an denselben Quellen orientiertewissenschafliche Ausbildung, die eine rationaleund grenzberschreitende Diskussion erlaubteund die verschiedenen Ausprgungen desius com-mune als Varianten ein und desselben Themas

    erscheinen lsst. 168 Das ist alles sicher richtig genauso wie die berlegung, dass wir bestimmteProzesse der Konvergenz und die Durchsetzungmancher Prinzipien feststellen knnen, die man inimmer mehr Rechtsordnungen Europas vorfindet,etwa im Bereich einesIus Publicum Europaeum. 169

    Doch das Problem liegt auch bei diesenBeschreibungen einiger Merkmale der Rechtsge-schichte in Europa darin, dass keine das leistet, wasman von einer Definition verlangen muss: nmlichnicht nur anzugeben, was zu der analytischenEinheit gehrt, sondern auch, wasgerade nichtdazu

    gehrt. Allein die identifikatorischen, letztlichmetaphysischen Annahmen eines irgendwie aneinen Raum gebundenen europischen Geistesleisten dies sie knnen aber wohl kaum unsereAntwort auf dieFrage nach Inhaltund Grenzen derEuropischen Rechtsgeschichte sein.

    3.2 Irritationen aus der Peripherie

    Nun knnte man sagen, dass man es mit demBegrinicht so eng sehen drfe; jeder wisse jaletztlich, was mit Europa gemeint sei. Doch einBlick auf Lateinamerika, eine hybrid region parexcellence, aus der eine Flle von Beitrgen zurpostkolonialen Historiographie stammt und inder man sich lange schon Gedanken ber dasVerhltnis zu Europa macht,170 mag illustrieren,in welche konzeptionellen Probleme uns dieserlssige Umgang mit dem Terminus europischbringt oder besser: welche konzeptionellen Pro-bleme er verbirgt. 171

    Denn wohl alle blicherweise fr die Europ-ische Rechtsgeschichte angefhrten Charakteristi-ka treen vom Moment der Etablierung der Herr-schafder spanischen und portugiesischen Krone

    auch auf die Rechtsgeschichten in Lateinamerikazu. Es gab jedenfalls in Hispanoamerika baldSeminare und Universitten, berdies viele inden europischenTeilen der spanischen Monarchieausgebildete Juristen und Kanonisten, eine an

    denselben Quellen orientierte wissenschaflicheAusbildung, eine grenzberschreitende Diskus-sion und Ausprgungen des ius commune alsVarianten ein und desselben Themas. 172 Manbesa aus Europa kommende und auch schonbald vor Ort gedruckte Bcher, man baute diepolitischen Institutionen nach kastilischem undanderen Vorbildern, man schrieb, teilweise aufLatein, Traktate, zitierte ius canonicum und iuscivile, Partikularrecht Einheit und Vielfaltfindenwir also auch dort. 173 Natrlich gab es angesichtsder indigenenVlker eine besonders bunteVielfalt,

    vor allem auf lokaler Ebene, und weite Regionen,in die das gelehrte Recht lange Zeit berhauptnicht vorgedrungen ist. Es gab wenige Zentrenund weite Peripherien. Aber gab es alles dies imfrhneuzeitlichen und neuzeitlichen Europa nichtauch? Sind die Unterschiede hier kategorisch odergraduell und sind sie wirklich konsequent zwi-schen den Kontinenten verteilt?

    Blicken wir auf die gelehrte Tradition. Beivielen, gerade den am strksten verbreiteten Wer-ken und Autoren lsst sich keine Zuordnung nachKontinenten treen. So finden wir Bcher wie dieToms de Mercados, Juan de Zapata y Sandovals,

    Juan de Solrzano Pereiras, Pedro Murillo Velar-des, um nur ein paar der wichtigsten Autoren ausdem 16., 17. und 18. Jahrhundert zu nennen, diesich genau unter die Beschreibungen der europ-ischen Tradition fassen lieen und doch sind sienicht einfach europische Literatur oder latein-amerikanisch. Die Autoren waren entweder in derNeuen Welt geboren oder hatten dort viele Jahregelebt, ihre Gedanken und Bcher lassen sich nichtmehr einem Kontinent zuordnen: Toms de Mer-cado kam als Kind nach Mexiko, studierte dort undspter nochmals in Salamanca, schri